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"Es braucht Blueprints für neue Lebensstile"

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Wer Flugreisen oder Kreuzfahrten bucht, kann das durch Gärtnern, Reparieren, Teilen oder solidarisch Wirtschaften kompensieren. Klingt gut. Ist aber eine Lebenslüge, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Niko Paech, der den Begriff Postwachstumsökonomie geprägt hat, und plädiert für radikale Maßnahmen.

Herr Paech, Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann will Wachstum und Ökologie verbinden, und auch den Grünen auf Bundesebene gilt das als Gebot der Stunde. Geht diese Rechnung auf?

Seit Beginn der Industrieproduktion gab es noch kein Beispiel dafür, dass es durch technische Maßnahmen, also Effizienzsteigerung, Kreislaufwirtschaft oder regenerative Energie, gelungen wäre, wirtschaftliches Wachstum ökologisch verträglich zu gestalten. Dies ist weder theoretisch darstellbar, noch in der Realität jemals geglückt. Die deutsche Energiewende, die sich ja auch die Partei von Herrn Kretschmann als Erfolg anrechnet – das EEG, das 100 000-Dächer-Programm für Solaranlagen und die Förderung energiesparenden Bauens und Sanierens über die KfW – ist ein Fanal der Fortschrittsnaivität. Sie hat viele Natur- und Kulturareale, die uns noch geblieben sind, durch den Hebel, es diene ja dem Klimaschutz, verfügbar gemacht für eine industrielle Verwertung. Ohne dass dadurch die CO2-Emissionen merklich gesunken wären.

Sie meinen Solaranlagen auf den Feldern?

Windkraft, Freiflächen-Solaranlagen, aber auch Bioenergie: Maisfelder noch und noch in Norddeutschland und in den nordöstlichen neuen Bundesländern. Herr Kretschmann hat recht, dass man damit das Wachstum anheizt und Wohlstand schafft: Viele Menschen sind reich geworden durch die Energiewende, weil sie ein gigantisches Umverteilungsprogramm darstellt. Wer Geld hatte, konnte es vermehren. Wer weniger Geld hat, zahlt mehr für Strom. Das würde ich sogar akzeptieren, wenn damit die Ökosphäre entlastet würde. Aber tatsächlich wurden damit letzte Reste der deutschen Naturlandschaft in eine Beute umgewandelt. In allen anderen Bereichen – ob wir über Kunststoffabfälle reden, über Elektroschrott oder Flächenversiegelung, das Insektensterben, das Singvogelsterben: Nirgendwo ist durch Technik eine Entlastung erreicht worden. Die Probleme potenzieren sich, und zugleich die Versuche, Effizienz, Kreislaufwirtschaft oder regenerative Energien so ins Werk zu setzen, damit dieses Wunder, reich zu werden und gleichzeitig die Ökosphäre zu schützen, wahr werden könnte.

Vom Fahrzeugkatalysator angefangen hatte ich eigentlich immer den Verdacht, dass der Schuss nach hinten losgeht.

Niko Paech, Jahrgang 1960, hat den Begriff "Postwachstumsökonomie" geprägt. Seit 2016 außerplanmäßiger Professor für Plurale Ökonomie an der Universität Siegen, hat er zuvor an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg gelehrt, wo er in seiner Habilitation 2005 die Grundlagen seines Konzepts ausgearbeitet hat: eine Ökonomie, die nicht auf Wachstum angewiesen ist, auf dem Weg eines sozialverträglichen Rück- und Umbaus des Industriesystems. 2012 veröffentlichte Paech sein mittlerweile in mehrere Sprachen übersetztes Buch "Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie". Unter dem Titel "Was Sie da vorhaben, wäre ja eine Revolution ..." erschien 2016 ein Streitgespräch von ihm mit Erhard Eppler. (dh)

Wir haben in der Nachhaltigkeitsforschung viele Kausalketten offenlegen können, die helfen zu verstehen, dass zum Beispiel der geregelte Drei-Wege-Katalysator nicht viel gebracht hat. Erstens beträgt der ökologische Rucksack eines einzigen Katalysators etwa eine Tonne, unter anderem weil in jedem Katalysator Spurenelemente von Platin sind, das mit den größten spezifischen ökologischen Rucksack unter allen Mineralien hat. Zweitens lassen wir uns mit allen Innovationsprozessen immer auf ein Roulette ein: Wir können im Vorfeld nie wissen, welche Nebenfolgen eine Technologie zeitigt, die das konterkarieren, was eigentlich erreicht werden sollte. Zehn Jahre nach Einführung des geregelten Drei-Wege-Katalysators mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass sich an viel befahrenen Straßen die Moos- und Flechtenvegetation sichtbar verändert hat. Was man vorher nicht wissen konnte, weil es am einzelnen Katalysator kaum messbar war: nämlich, dass dieser Ammoniakverbindungen ausstößt. Der dritte Aspekt ist, dass der Katalysator eine kulturelle und psychologische Nebenwirkung hatte: Er bildet eine Art Ablasssystem. Kaum war der Katalysator eingeführt, da wurde über eine Verkehrswende nicht mehr nachgedacht. Auch die Grünen haben sich in den neunziger Jahren davon verabschiedet, weil es mit der Wasserstofftechnologie und der Elektromobilität keine Gründe mehr gäbe, sich mit dem motorisierten Individualverkehr kritisch auseinanderzusetzen. Stattdessen würde man eine Energiewende in Angriff nehmen, die alle Probleme bequem löst.

Sie nennen das einen Rebound-Effekt, also den Effekt, dass Effizienzsteigerungen durch höheren Verbrauch konterkariert werden.

Ich spreche von einem psychologischen Rebound-Effekt. Er wird immer relevanter. Wenn Menschen punktuell oder auch nur symbolisch bestimmte ökologisch korrekte Handlungen ausführen, kompensieren sie damit oft ökologisch ruinöses Handeln in anderen Bereichen. Wenn ich ein Drei-Liter-Auto mit Katalysator habe, kann ich auch mit dem Auto Brötchen holen. Oder ich kann in die Karibik fliegen, weil ich in letzter Zeit nur Demeter-Brühwürfel gekauft habe und mein Auto einen Katalysator hat.

Ist es nicht mit der E-Automobilität dasselbe?

Jedes zelebrierte Artefakt, dem ein positives Nachhaltigkeits-Attribut zugewiesen wird, hat die Eigenschaft, einem grünen Ablasshandel zu dienen. Das liegt vielleicht sogar in der Natur des Menschen. Der Mensch hat das Grundbedürfnis nach psychischer Stabilität. Dazu zählt, dass er zu viele Schuldkomplexe nicht bewältigen kann. Deswegen braucht er ständig Eigentherapien, Rituale, Routinen, die ihn von Schamgefühlen und kognitiver Dissonanz befreien. Früher war das der Ablasshandel, heute ist es der Demeter-Brühwürfel, das Tesla-Mobil, der grüne Strom und das Kreuz an der richtigen Stelle auf dem Wahlzettel.

Winfried Kretschmann hat zu Beginn seiner ersten Amtszeit 2011 gesagt: "Weniger Autos sind natürlich besser als mehr." Dann haben ihn sich die Porsche-Betriebsräte zur Brust genommen. Ist die Politik überhaupt handlungsfähig?

Demokratische Gestaltungspotenziale einer nachhaltigen Entwicklung stehen vor einer Wende. Die Grundidee der Umweltpolitik war immer: Alles was Schäden verursacht, lässt sich substituieren durch gleichwertige Produkte oder Prozesse. Nun stellen wir bestürzt fest: Das geht gar nicht. Diese Lebenslüge hätte vermieden werden können, wenn Wirtschaftswissenschaftlicher ihre chronische Blindheit gegenüber der Physik, speziell der Thermodynamik, überwunden hätten. Das hatte der legendäre rumänisch-amerikanische Ökonom Nicholas Georgescu-Roegen bereits 1971 nahegelegt. Die Politik müsste den Menschen sagen: Ihr lebt über eure Verhältnisse. Aber welcher Politiker würde das auch nur eine Woche durchhalten? Bei den Grünen hat Hannelore "Halo" Saibold 1998 auf dem Bundesdelegiertenkonferenz in Leipzig gesagt, wir müssten eigentlich die Spritpreise auf 5 D-Mark erhöhen und es reicht doch aus, wenn jeder Mensch nur alle fünf Jahre fliegt. Sie ist von der eigenen Partei fortan wie eine Aussätzige behandelt worden.

Von wem müsste die Veränderung ausgehen?

Die Veränderung kann nur aus der Zivilgesellschaft kommen.

Also vom Einzelnen?

Nicht nur von Einzelnen, sondern von sozialen Prozessen. Nötig sind vorgelebte Blueprints für ein postwachstumstaugliches Dasein. Plünderungsfreie Lebensstile, die in Gruppen, Reallaboren, Nischen reproduziert werden können, bilden die drastischste Maßnahme, die derzeit verfügbar ist. Statt auf eine Mehrheit zu hoffen, die über die Politik ein ökologisches Überlebensprogramm ermöglicht, sollten jene, die schon jetzt willens und fähig dazu sind, einfach damit beginnen. Denn dadurch wird die Gesellschaft mit Alternativen konfrontiert, die den Horizont des Machbaren erweitern und zur Nachahmung anregen. Die sozialwissenschaftliche Diffusionsforschung befasst sich mit der Frage, wie sich neue Praktiken in sozialen Strukturen verbreiten. Je resistenter Menschen gegenüber einem Veränderungsbedarf sind, desto mehr vorgelebte Beispiele und daraus abzuleitende positive Erfahrungen brauchen sie, um die Neuerung zu übernehmen. So können Veränderungsprozesse aus den Nischen heraus andere inspirieren, die wiederum andere inspirieren, so dass eine soziale Dynamik der Ausbreitung erfolgt.

Würde das reichen?

Vielleicht reicht das derzeit noch nicht aus, aber wenn Krisen nahen, die dem Wachstumswahn sowieso ein Ende setzen, hilft das Vorhandensein geeigneter Daseinsformen, auf die jene zurückgreifen können, die andernfalls orientierungslos sind und dann zu politischer Radikalität neigen. Die Demokratie zu retten heißt, vorsorglich überlebensfähige Daseinsformen aufzubauen.

Also nicht Kampagnen, sondern Vorbilder im Handeln?

Warum nicht beides verbinden? Wer in Stuttgart seine Möhren anbaut oder ohne Smartphone lebt, gilt schon als so radikal, dass er irgendwann sowieso in der Zeitung oder bei Facebook in Erscheinung tritt. Ich würde dafür plädieren, jede Bühne zu nutzen, um reduktive Lebensstile in Erscheinung zu bringen, um die Gesellschaft damit zu konfrontieren. Wir wissen aus der Kommunikationswissenschaft, dass die Art wie sich Kultur verändern kann, weniger mit Begründungen, mit Kritik, schönen Spruchblasen, toten Büchern oder tollen Vorträgen zu tun hat als mit der nonverbalen Kommunikation, also der vorgelebten sozialen Praktik.

Initiativen wie Urban Gardening, genossenschaftliches Wohnen, Repair-Cafés, Sharing-Ökonomie, solidarische Ökonomie ...

... Verleihsysteme, Transition Towns, solidarische Landwirtschaft, Permakultur – wichtig ist nur, die individuelle CO2- und Öko-Bilanz im Blick zu behalten. Was meinen Sie, wie viele Menschen begeistert in Repair-Cafés mitarbeiten, dann aber eine Flugreise in die Karibik buchen. Die Zahl der Teslas, der Urban-Gardening-Projekte oder der Repair-Cafés sagt nichts aus, nur die Summe aller ökologisch relevanten Handlungen innerhalb eines Menschenlebens.

Wenn alle ihr Gemüse selber anbauen: Würde das ausreichen, um die Bevölkerung zu ernähren?

Nein. Wir brauchen eine hochprofessionelle, dezentrale, kleinbäuerliche ökologische Landwirtschaft. Die gibt es schon ein bisschen länger als die Agrarindustrie, die ihrerseits noch keine 100 Jahre alt ist. Erst mit der Erfindung bestimmter Düngemittel, Pestizide, Logistiksysteme und Maschinen konnten wir diesen Wahnsinn beginnen.

Wenn Bioland die Discounter beliefert, gerät die Glyphosat-Gegnerschaft ins Wanken.

Ja, leider. Ich halte diesen Weg auch für falsch, obwohl ich eine positive Meinung vom Bioland-Anbauverband habe. Langfristig gilt es, sich für direkte Lieferbeziehungen zwischen den Endkunden und den Höfen einzusetzen. Jeder Biolandhof sollte einen kleinen Gemeinschaftsgarten haben, nur um Menschen beizubringen, wie man auch selber Dinge anbauen kann. Das nenne ich Prosumenten-Management. Wer von Supermärkten abhängig ist, ist nicht überlebensfähig.

Würden regional angebaute Produkte nicht deutlich teurer werden?

Ja, unbedingt. Dann bleibt nicht so viel für Flugreisen und Smartphones übrig.

Was aber der Normalbürger heute mehr verdient als vor einigen Jahrzehnten, geht vor allem in die Miete. Was soll er tun, wenn jetzt auch noch die Lebensmittel teurer werden?

Die Herstellungskosten, auch für Fleisch, Käse, Wurst, werden natürlich steigen. Aber je direkter die Lieferbeziehungen sind, desto weniger Kühlketten, Lagerhäuser, Cross Docking Stations, LKW und Verpackungen werden gebraucht. Das trifft insbesondere auf die solidarische Landwirtschaft zu, die derzeit immer mehr Zuspruch erhält. Wenn nur noch die Regionalökonomie zuständig ist für den Anbau, sparen wir viel Geld. Weniger Fleisch zu essen, mehr selbst zuzubereiten, um mit weniger Auswahl zurecht zu kommen, spart Geld.

Nachhaltig leben ist also sogar billiger?

Es gibt ein schönes Buch von Rosa Wolff mit dem Titel "Arm aber Bio!" Was sie darin beschreibt: Mit Steckrüben, Möhren, Kartoffeln, Zucchini und allen Kohlsorten, die für kleines Geld auch in der Saure-Gurken-Zeit aus ökologischem und regionalem Anbau erhältlich sind, kann ich schöne Dinge zaubern. Das ist ein Teil der modernen Selbstversorgung. Dinge selbst produktiv zu gestalten, um genügsamer zu leben, ersetzt Geld. Das gilt auch für die Mobilität: Das ökologischste Auto ist zugleich das kostengünstigste – nämlich gar keines. Ich behaupte, dass ich mit der Bahncard 100 viel Geld spare, wenn ich rechne, was ein nicht so teures Auto kostet an Kfz-Steuer, Versicherung, Sprit …

Es trifft nicht zu, dass Menschen mit weniger Einkommen so sehr benachteiligt würden, wenn sie sich auf postwachstumstaugliche Lebenskunst einließen. Reparatur, Nutzungsdauerverlängerung und Gemeinschaftsnutzung bedeutet doch, dass ich den Luxus habe, nicht mehr alles kaufen zu müssen.

Völlig unvereinbar ist das aber mit der Shareholder-Ökonomie. Brauchen wir eine Revolution?

Menschen, die abhängig vom Konsum sind wie der Heroinabhängige vom Dealer, werden keine Revolution anzetteln – aus Angst davor, dass ihnen der Stoff ausgeht. Nur wer eine Entzugskur hinter sich bringt, nimmt den Kampf gegen den Dealer oder die Konsumgesellschaft auf.

Bringt eine solche Kur aber nicht unser Geldsystem ins Wanken?

Natürlich, es könnte zusammenbrechen. Postwachstumsökonomie ist die Kunst zu überleben, wenn die Wirtschaft Krisen durchlebt. Deshalb lassen sich die in meiner Forschung, meinen Publikationen und Medienauftritten erwogenen Vorschläge auch als Anleitung zum Bau jener Rettungsboote verstehen, die wir sowieso benötigen, wenn die nächsten Krisen hereinbrechen. Je mehr Menschen schon jetzt mitmachen, desto weniger Zukunftsangst haben wir. Es ist doch so: Postwachstumstaugliche Lebensführungen sind zugleich das, was die Welt rettet und das, was uns Krisen bewältigen lässt.


Info:

Am 29. Januar 2020 um 18 Uhr hält Niko Paech an der Universität Stuttgart, Campus Stadtmitte, zum Thema "Postwachstumsökonomie" einen Vortrag mit anschließender Diskussion.


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2 Kommentare verfügbar

  • Susanne Jallow
    am 23.11.2019
    Antworten
    Um die Supermärkte rauszuhalten, muss man nicht mal selber Gemüse anbauen, da reicht schon der Einlauf auf einem der vielen Wochenmärkte, die es zum Glück noch gibt! Hier kauft man - wenn man den richtigen Stand ansteuert - direkt beim Erzeuger und bekommt die Ware problemlos unverpackt, wenn man…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 13 Stunden
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