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Walter AG in Tübingen

Den Schuss nicht gehört

Walter AG in Tübingen: Den Schuss nicht gehört
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Die Lieferketten bröckeln, China schließt ganze Städte wegen Corona und trotzdem will die Walter AG in Tübingen ihre Produktion nach Wuxi verlagern. Mehr als 100 Frauen und Männer würden ihre Arbeit verlieren. Und was ist eigentlich mit der Nachhaltigkeit?

Adolf Gekle ist sauer. "Meine Frau hat einen ähnlichen Scheiß schon hinter sich. Sie ist Verkäufern und als Real an Kaufland verkauft wurde, war das nicht lustig. Da ist es zum Glück gut ausgegangen." Adolf Gekle ist ein kräftiger Mann, seit 1990 schafft der CNC-Dreher bei dem Werkzeughersteller Walter AG in Tübingen. Das sollte eigentlich so weitergehen bis zur Rente. Doch nun weiß der 58-Jährige nicht, ob er im nächsten Jahr sein Einkommen noch bei Walter verdienen kann. Denn die Walter AG will von 150 Leuten in der Produktion bis zu 108 raushauen. De facto dürfte das die Schließung der Produktion bedeuten. So mancher fragt sich, wann es andere Teile des Standorts mit insgesamt 550 Beschäftigten treffen wird.

Das Unternehmen, das zum schwedischen Konzern Sandvik (40.000 Beschäftigte weltweit) gehört, plant, die Fertigung nach China zu verlagern beziehungsweise fremd zu vergeben. Weil China ein großer Markt ist. Und billiger sind die Arbeitskräfte dort auch. Für Gekle ist dieser Plan unerklärlich. "Wenn man sich die weltpolitische Lage mal anschaut – Krieg, Corona, Lieferketten ... Das ist doch alles unsicher."

Während Gekle eisern sein Transparent "Zusammenhalt – unser Tool. Gegen Stellenabbau" hochhält, erläutern auf der Bühne die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Maria Dimoudis und der Betriebsratschef Tobias Arndt, was bisher passiert ist: Vor einem halben Jahr verkündete die Walter-Geschäftsleitung ihre Pläne, bis Ende diesen Jahres sollen die durchgezogen werden. Dimoudis ist empört: "Es geht nur um Profitmaximierung und Abwanderung aus Highcostländern, wie sie es nennen, in Lowcostländer, wo es keine Arbeitnehmerrechte gibt."

Niemand hatte vor einem halben Jahr mit so etwas gerechnet und Betriebsratschef Arndt erinnert sich, wie die Geschäftsführung die Nachricht verkündete: "Unter dem Schutz von Security, draußen standen schwarze Busse. Wozu? Um flüchten zu können?" In den darauffolgenden Wochen sah man sich das Arbeitgeberkonzept an, kam zu dem Schluss, dass das nicht zukunftsfähig sei. Gemeinsam mit externen Fachleuten erarbeiteten Betriebsrat und IG Metall ein Alternativkonzept. Vor allem wollten sie damit eine höhere Fertigungstiefe, also mehr Fertigungsschritte am Standort erhalten.

Denn Walter plant heftige Einschnitte in der Fertigung der sogenannten Körper, also Werkzeughalter. Die ist unterteilt in Standardkörper – die sollen nach China – und die komplexere Sonderkörperfertigung. Hier will Walter viele Produktionsschritte fremd vergeben. Ralf Jaster von der IG Metall Reutlingen-Tübingen: "Damit würden von den 41 verbleibenden Kollegen noch 16 an den Maschinen stehen – das funktioniert nicht." Absurd findet er auch das Auslagern der kompletten Dreherei. "Die bezeichnen sich als die besten Werkzeughersteller der Welt, meinen aber, Drehen können andere besser." Das Alternativkonzept hätte auch Jobabbau vorgesehen, immerhin 68 Stellen, "aber das könnte man ohne betriebsbedingte Kündigungen hinkriegen mit einem guten Sozialplan."

Maschinenbauer MAG in Rottenburg blieb doch

Doch die Alternative interessierte die Arbeitgeberseite nicht, berichtet Betriebsrat Arndt. Besonders empört ihn, dass der Arbeitgeber eine Namensliste einforderte, er wollte also selbst aussuchen, wer entlassen wird. Ohne soziale Kriterien wie Alter, Kinder, Firmenzugehörigkeit: "Das machen wir nicht mit." Die Gegenseite macht auch nicht mit. Im Januar ließ sie die Verhandlungen scheitern und rief die Einigungsstelle an. In der wird unter Vorsitz eines Arbeitsrichters geklärt, wie der Sozialplan ausgestaltet wird.

Seither sei nichts passiert, sagt Arndt, der während seiner Rede immer wieder die Kompromissbereitschaft des Betriebsrates betont. "Lassen Sie, lieber Arbeitgeber, uns miteinander sprechen, um die Zukunft der Menschen hier zu sichern." Und die der Firma, denn "mit Verlagerung und Personalabbau stärken wir Walter nicht als Premiumwerkzeughersteller".

Unterstützt werden die Walter-Beschäftigten bei der Kundgebung mit anschließender Menschenkette ums Werk von KollegInnen aus anderen Betrieben. Boschler sind da, Leute von Siemens, von der MAG und benachbarten Betrieben. Rund 400 Frauen und Männer zeigen an dem sonnigen Mittag ihre Solidarität. Ein älterer Herr muss der Presse unbedingt seine Ansicht erläutern. "Ich bin Uwe Kaske, 81, und ich sage Ihnen: Was die da oben machen, ist Verrat. Die verkaufen uns an China, denken nur an den kurzfristigen Reibach. Es geht doch heute nicht mehr um Wachstum, es geht darum zu erhalten, was wir haben." Sagt's und zieht weiter.

In der Menge steht Firmin Mauch mit einem Schild: "Für den kompletten Standorterhalt in Tübingen". Der 37-Jährige ist Betriebsratsvorsitzender bei MAG-IAS in Rottenburg. Er will Mut machen, denn bei ihnen wurden im vorigen Jahr Schließungspläne verhindert. Der gesamte Standort, ehemals Hüller, an dem Kernkomponenten wie Rundtische und Spindeln gefertigt werden, sollte weg: 130 Leute. Lang und zäh seien die Verhandlungen gewesen. Unterstützt worden sei die Belegschaft von der Stadt und von der Politik: "Wir sind ja ein ähnliches Traditionsunternehmen wie Walter hier in Tübingen."

Am Ende zog die Unternehmensseite ihren Plan zurück. 20 KollegInnen nahmen mit Hilfe eines Freiwilligenprogramms ihren Abschied. Nun arbeite man daran, die Abhängigkeit von der Autoindustrie zu verringern. Mauch ist stolz auf den Erfolg, zudem sei nun die Zusammenarbeit zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat deutlich besser. Für Walter zeigt er sich eher optimistisch: "Die Unsicherheiten durch den Krieg, durch die zerrütteten Lieferketten sind eigentlich zu groß."

Doch lieber selbst Geld drucken?

Bei den Verhandlungen in Rottenburg dabei war Martin Rosemann, Bundestagsabgeordneter der SPD, Wahlkreis Tübingen-Hechingen. Er engagiert sich auch im Fall Walter AG. Gemeinsam mit dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, Grüne, hat er sich vor einer Woche mit drei Leuten der Konzernleitung getroffen. Über die Inhalte des Gesprächs sei Geheimhaltung verabredet worden, berichtet er den Demonstrierenden. "Mein Eindruck: Ein Kompromiss ist möglich, aber er ist kein Selbstläufer." Was immer das auch heißen mag. Ein nächster Gesprächstermin wurde jedenfalls nicht verabredet. Und von Seiten der Walter AG heißt es auf Kontextanfrage: "Da wir uns derzeit noch in der Verhandlungsphase befinden, möchten wir keine Stellungnahme abgeben."

Vor der Bühne tanzt eine Handvoll Menschen in roten Overalls und mit weißen, länglichen Masken, die einen hochgezwirbelten Schnurbart und erstaunte Augen zeigen – Figuren aus der Fernsehserie "Haus des Geldes", in der Menschen sich wehren, indem sie die spanische Banknotendruckerei überfallen, um selbst Geld zu drucken. Zu ähnlich drastischen Mitteln wird in Tübingen wohl niemand greifen. Hier herrscht eher Fassungslosigkeit ob der Unternehmenspläne. Selbst in den vergangenen zwei Coronajahren habe Walter 20 Prozent Gewinn gemacht, so die IG Metall. Nicht Asien, sondern Europa ist der größte Markt für Waltertools, das Outsourcing werde nicht funktionieren, weil erfahrungsgemäß Billigstanbieter entweder nach Auftragsvergabe die Preise erhöhen oder die Qualität nicht stimmt.

Und was ist eigentlich mit der Nachhaltigkeit, fragt IG-Metaller Ralf Jaster: Zwar redeten der schwedische Sandvikkonzern und auch die Walter AG davon, CO2 einzusparen, doch in China werde in erster Linie mit Kohlestrom produziert. Zudem würden alle Teile zunächst ins Sandvik-Zentrallager nach Amsterdam geschafft. "Von Tübingen nach Amsterdam sind das 650 Kilometer, vom chinesischen Wuxi 19.500 Kilometer auf dem Seeweg und zwar mit Containerschiffen, die mit Schweröl betrieben werden!", so Jaster. "Das ist der Hohn." Auch er führt den Krieg an und die anfälligen Lieferketten. "Intel baut bei Magdeburg, weil sie's begriffen haben. Bosch stärkt den Standort Reutlingen. Nur bei der Walter AG hat man den Schuss nicht gehört."


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