Gescheitert wäre der Machtwechsel fast an Stuttgart 21. Der Kompromiss rund um die Volksabstimmung kam erst nach heftigen grün-roten Turbulenzen und im dritten Anlauf zustande. Trotz oder besser wegen immer neuer Meldungen über Kostensteigerungen auf der nach oben offenen DB-Skala soll der reguläre Bahnverkehr auf der neuen Strecke nach Ulm gemäß dem aktuellen Zeitplan am 11. Dezember aufgenommen werden – ganz ohne den Tiefbahnhof, dessen Fertigstellung noch einige Jahre dauern wird. Womit im Praxistest der allerbeste Beweis auf der überlangen Liste der guten Gründe gegen die Milliardenverschleuderung geliefert wird, nämlich dass der Betrieb auch mit dem Kopfbahnhof funktioniert hätte. Für Winfried Kretschmann ist dieser Käs' bekanntlich trotzdem längst gegessen. Eine Hartherzigkeit, die irgendwann in der Gesamtbilanz der drei grün-dominierten Legislaturperioden verblassen könnte, wenn es tatsächlich gelingen sollte, Baden-Württemberg bis 2040 klimaneutral zu machen. "Wir haben keine Wahl", sagt die Umweltministerin, "wir müssen das erreichen."
Die Gefahr, dass am Ende wesentliche Teile der eigenen Versprechungen, trotz aller Appelle oder Selbstverpflichtungen, nicht richtig umgesetzt werden, wird sichtbar beim Landtagswahlrecht. Zwar ist endlich und mit der Verzögerung von etwa fünf Jahren ein Gesetzentwurf eingebracht, ohne jeden Vorbildcharakter jedoch. Dabei hätte dem Land als Schlusslicht in Sachen Gleichstellung im Landtag ein mutiger Schritt nach vorn gut zu Gesicht gestanden. Stattdessen konnte sich die Koalition nicht zu Quoten oder rechtlichen Vorgaben zur Parität auf den neuen Listen und in künftigen Fraktionen durchringen. Im Extremfall führt dies dazu, dass eine Partei ohne den Anspruch, den Männerüberhang zu beseitigen, die zugleich viele Direktmandate gewinnt, bis zum Sankt-Nimmerleinstag Frauen benachteiligen kann. Natürlich kennen die maßgeblichen Führungskräfte bei den Grünen diese Schwäche der Reform, sie nehmen sie aber hin, nach dem Motto aller Mutlosen: lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.
Wichtige gesellschaftspolitische Vorhaben wurden jedenfalls sofort und aus gutem Grund mit den Sozialdemokraten umgesetzt – die CDU hätte ihre Hand dazu nicht gereicht. BeamtInnen in eingetragenen Lebenspartnerschaften sind (erst) seit 2011 verheirateten KollegInnen gleichgestellt, und homosexuelle Paaren konnten sich, wie in allen anderen Bundesländern schon längst Usus, endlich auf dem Standesamt das Ja-Wort geben. Anderes musste gegen den zum Teil sogar diffamierenden Widerstand von Schwarzen und Liberalen verteidigt werden. Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt schafften es nur mit Mühe in die Bildungspläne, längeres gemeinsames Lernen und Lehren in der Gemeinschaftsschule, die grundsätzlich als Einheitsschule verunglimpft wurde, stieß beim Koalitionspartner im besten Fall auf Desinteresse, oft aber auch auf bildungsbürgerlich getränkte Ressentiments.
Fehlanzeige beim Wohnungsbau
Als Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD) den damaligen Oppositionsführer Hauk zu einem gemeinsamen Vor-Ort-Besuch einlud, schien der angesichts des breiten Lobes und der Zustimmung aus der Elternschaft Gefallen zu finden an der neuen Schulform. Wieder im Landtag, malte er dennoch weiter am Feindbild. Im Rückblick resümiert Walker, Mehltau habe über dem Land gelegen, "und wir haben durchgelüftet". Dass die Südwest-CDU bis heute auf der Höhe der Zeit gar nicht sein will, zeigt ihr Nein zur Quote oder zu der von der Ampel in Berlin durchgesetzten Streichung des Paragrafen 219a, der ärztliche Informationen über den Schwangerschaftsabbruch als Werbung unter Strafe stellt.
2 Kommentare verfügbar
Frank-Ulrich Seemann
am 31.03.2022Welche großen Erwartungen haben denn Kretschmann und die Grünen enttäuscht bei Stuttgart 21? Wäre es denn nicht eher zutreffend, zu sagen, dass die Menschen im Land und vor allem in Stuttgart selbst es waren, welche grüne Erwartungen bei diesem Thema…