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Klimaschutz

Unter eineinhalb

Klimaschutz: Unter eineinhalb
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An guten Vorsätzen ist kein Mangel. Baden-Württemberg muss aber im Kampf gegen die Erderwärmung den Worten Taten folgen lassen. Zumal das Bundesland deutlich mehr Kompetenzen im Klimaschutz hat als viele seiner 260 Partnerregionen weltweit, die sich in der "Under2 Coalition" dem gleichen Ziel verschrieben haben.

Die Idee wird für viel Ärger sorgen und steht schon allein deshalb exemplarisch dafür, was passiert, wenn wirksamer Klimaschutz konkret werden muss. Baden-Württembergs grün-schwarze Regierung hat beim Speyerer Professor Jan Ziewkow ein Gutachten dazu in Auftrag gegeben, ob und wie Planungsbeschleunigung und die Politik des Gehörtswerdens unter einen Hut gebracht werden können. "Weniger Einwirkungsmöglichkeiten bei kürzeren Fristen sollen seit Stuttgart 21 durch mehr Bürgerbeteiligung ausgeglichen werden", heißt es darin, deshalb müssten beide gut verzahnt werden. Der renommierte Fachmann für öffentliche Verwaltung bringt Paragraph 37 des Baugesetzbuchs ins Spiel: Wenn es "die besondere öffentliche Zweckbestimmung für bauliche Anlagen des Bundes oder eines Landes erforderlich" mache, so heißt es darin, von den Vorschriften des Baugesetzbuchs abzuweichen, dann "entscheidet die höhere Verwaltungsbehörde". Der entscheidende Ansatz ist die Aufnahme von Windkraftanlagen in diesen Katalog baulicher Maßnahmen.

In einem ersten Schritt ist diese Idee zu den Verhandlern über eine Ampelkoalition nach Berlin getragen worden, weil der Bund überhaupt erst die Voraussetzungen schaffen müsste. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat immerhin sein Wort gegeben, Planungszeiten zu halbieren: "Dafür stehe ich". Das macht die Situation allerdings auch paradox. Denn je höher die Latte liegt, desto größer sind die Erwartungen. Aufgrund der Kompetenzverteilung sind die aber keineswegs unerfüllbar – nicht nur in Sachen Baugesetzbuch.

Initiative von Kalifornien und Baden-Württemberg

Das gilt für ungezählte kleinere Stellschrauben genauso wie fürs große Ganze. 2015 gründete der damalige kalifornische Gouverneur Jerry Brown mit dem baden-württembergischen Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) und Winfried Kretschmann die "Under2 Coalition", um das Engagement gegen die Erderwärmung unterhalb der Ebene der Nationalstaaten voranzutreiben, geleitet vom Ziel, die Erderwärmung auf unter zwei Grad zu begrenzen. Heute steht die Allianz für 260 Regionen, Länder und Städte, für 1,7 Milliarden Menschen und die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung. Am Rande der COP26-Klimakonferenz in Glasgow fand auch die diesjährige Generalversammlung der "Under2 Coalition" statt, aus den "Unter zwei" wurde "Unter eineinhalb". Verlangt wird nun unter anderem "eine Agenda" bis 2030 vorzulegen, beginnend 2022 und belastbar mit Blick auf die nächste Weltklimakonferenz, die COP27 in Scharm El Scheich.

Wer der Koalition beitritt oder beigetreten ist, gewährleistet für seinen Verantwortungsbereich, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 um mindestens 80 Prozent zu senken oder sie auf weniger als zwei Tonnen pro Person und Jahr zu begrenzen. KritikerInnen beklagen gerade nach Glasgow, dass die Selbstverpflichtungen nicht rechtsverbindlich sind. BefürworterInnen wiederum verweisen auf die vielfältigen Kontakte zu regionalen Regierungen und Verwaltungen aus Staaten, die auf nationaler Ebene strengen Klimavereinbarungen äußerst kritisch gegenüberstehen. Peking beispielsweise hat für 23 chinesische Städte unterzeichnet, die sich als Pioniere verstehen, aus Indien kommen fünf und aus Brasilien sogar neun Mitglieder.

Im Netz finden sich umfangreichste Ambitionen, Ideen und Pläne aufgelistet. So will Nordrhein-Westfalen erreichen, dass nur ein Viertel aller Fahrten mit dem PKW zurückgelegt werden, in der armenischen Provinz Ararat wird in besonders trockenen Gebieten aufgeforstet, in New York darf ab 2030 kein zu deponierender Müll mehr anfallen, der australische Bundesstaat Queensland verlangt die nachhaltige Ausrichtung aller großen Investitionsprojekte der Regierung, das kanadische Vancouver etabliert ein Starkregenmanagement, im mexikanischen Bundesstaat Yucatán wird bereits seit mehreren Jahren Methan reduziert und in Niederösterreich wird darüber diskutiert, ob der CO2-Ausstoß im Verkehr nicht in Wochen- oder Monatsbudgets zerlegt werden kann, um zeitnah auf Überschreitungen zu reagieren – etwa durch Tempo 80 auf Autobahnen so lange, bis das Budget wieder ausgeglichen ist.

Tonlage eher "wollen" und "sollen"

Und Baden-Württemberg? Unstrittig ist das Land Vorreiter beim verpflichtenden Einsatz erneuerbarer Wärme, schon zu Zeiten von Umweltministerin Tanja Gönner (CDU) in den Nullerjahren, und in Sachen Effizienz. "Dazu gehören ein Netz aus regionalen Energieagenturen, die Haushalte und Unternehmen beraten, Kampagnen zur energetischen Sanierung von Wohngebäuden, Zuschüsse zur energetischen Gebäudesanierung für Haushalte sowie Zuschüsse für Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz in kleinen und mittelständischen Unternehmen", heißt es in der Aufzählung des Landes zu den eigenen Schwerpunkten. Der Kraft-Wärme-Kopplung, idealerweise im Zusammenspiel mit der Nutzung erneuerbarer Energien, wird große Bedeutung beigemessen, Kommunen wie Stromerzeuger werden ermutigt, weitere Nahwärmenetze aufzubauen. Details sind auch auf den unterschiedenen Feldern beschrieben, allerdings eher in der Tonlage "wollen" und "sollen" statt "müssen" oder gar "haben".

Ausgerechnet die neuen Klimapolitiker in der CDU-Landtagsfraktion wünschen sich, nachdem sich der kleinere Regierungspartner eine ganze Legislaturperiode lang nicht als treibende Kraft im Kampf gegen die Erderwärmung profilieren mochte, sogenannte Zielbilder für 2030, 2040 und 2050. Entworfen werden sollen sie jeweils auf Basis vorhandener oder zu erwartender Stromerzeugungskapazitäten, der Importmöglichkeiten oder neuer Technologien wie dem Abscheiden von CO2 aus der Luft. Sogar der Mannheimer CDU-Landesparteitag vom vergangenen Wochenende hat einen entsprechenden Antrag angenommen, entgegen den ursprünglichen Plänen. Er diene zur Klärung, so der Sinsheimer Landtagabgeordnete und Diplom-Physiker Albrecht Schütte, ob und wie die vom und fürs Land versprochene Klimaneutralität überhaupt zu erreichen ist.

Der große Kraftakt steht noch bevor

Landesumweltministerin Thekla Walker (Grüne) wird nicht müde, auf die erste einschlägige Gesetzesnovelle zu verweisen, in der gerade durch die Bereitstellung von Flächen im Staatswald und im Landesbesitz der Ausbau von Wind- und Sonnenenergie vorangebracht werden soll, außerdem auf die Photovoltaik-Pflicht bei allen Neubauten und grundlegenden Dachsanierungen. Walker, die mit Kretschmann in Glasgow war, weiß aber genau, dass der erste große Kraftakt noch bevorsteht. Bis zum Sommer 2022 gilt es, die Sektorenziele zu verschärfen, also jene CO2-Einsparungen zu befördern, die Handel, Verkehr, Industrie, Privathaushalte, Verwaltung oder Landwirtschaft bringen müssen. Ihr Vorgänger und Parteifreund Franz Untersteller, heute Botschafter der "Under2 Coalition", hatte jedenfalls für jede Menge Unmut auch beim Koalitionspartner gesorgt, als er vor zwei Jahren konkrete Zahlen präsentierte – darunter die höchst anspruchsvolle Maßgabe, dass private Haushalte bis zum Jahr 2030 eine Treibhausgasminderung von 57 Prozent gegenüber 1995 erbringen müssen.

Also schauen jene Klimapartner weltweit, die auf ihrer jeweiligen politischen Ebene kaum Gestaltungsspielräume haben, auf die Gründungsmitglieder der Allianz. Kalifornien gilt als Musterschüler, gerade mit konkreten CO2-Minderungsvorgaben im Verkehr. Baden-Württembergs damaliger Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) hatte sich schon in den achtziger Jahren im Sonnenstaat für alternative Kraftstoffe begeistert, damals vor allem Raps. Gar nichts – außer die entsprechenden politischen Beschlüsse – kosten die Spuren auf High- oder Freeways, die vollbesetzten Autos vorbehalten sind. Wer nicht alleine, sondern mit KollegInnen unterwegs ist, fährt am Stau vorbei. Als Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) 2015 für derartige Mitfahr-Konzepte warb, weil "statistisch gesehen in Baden-Württemberg nur 1,2 Menschen im Auto sitzen", gab es im Landtag reichlich Hohn und Spott, gerade aus den Reihen der CDU. In einer Plenardebatte stellten sich erheiterte Abgeordnete vor, wie AutofahrerInnen Schaufensterpuppen auf dem Beifahrersitz platzieren, weil sie weiterhin in ihrem Auto allein unterwegs sein wollten.

"Auf gar keinen Fall niederwalzen": Bürgerbeteiligung

Die Zeiten haben sich geändert, die Herausforderungen sind aber noch größer geworden. Zudem wollten die Schwarzen 2021 unbedingt wieder in die Regierung. Noch ein Grund dafür, dass die Grünen jetzt liefern müssen. "Eine Wirtschaft, die 250 Jahre von Kohle, Öl und Gas betrieben wurde, muss in nur 25 Jahren auf erneuerbare Energien umgestellt werden", sagt Kretschmann, "das ist nichts anderes als eine neue industrielle Revolution." Immerhin hätten die Under2-Partnerregionen, anders als die Staaten rund um den Globus insgesamt, ihre Emissionen gesenkt statt gesteigert. Dreh- und Angelpunkt, um noch mehr Nachahmung zu erreichen, sei, den Menschen zu zeigen, dass es "mehr zu gewinnen als zu verlieren gibt".

Der Ausbau der Windkraft wird der erste große Prüfstein in der neuen Legislaturperiode sein, ob und wie solchen Worten Taten folgen können. O-Ton Kretschmann: "Wir werden auf gar keinen Fall Bürgerbeteiligung niederwalzen." Vielmehr müssten alle Verfahrenswege, der Ablauf von Genehmigungen, die Rechtsgrundlagen auf den Tisch, die Änderung des Baugesetzbuchs inklusive. Denn: "Wir können den Knoten nicht durchschlagen, also müssen wir ihn aufknüpfen." Höchstens vier Jahre hat er dazu noch Zeit.


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