War da was? Die Energiekrise mit ihren Preisexplosionen, nachdem der russische Aggressor Putin Mitte 2022 den Gashahn zugedreht hatte? Oder die extremen Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen, seitdem sich das Klima wandelt? Anlass genug, das fossile Zeitalter schleunigst zu beenden und auf erneuerbare Energien wie Wind und Solar umzusteigen, die vor Ort günstig und klimafreundlich Strom erzeugen. Gerade auch im Schwabenland, in dem man sich gern das "Cleverle"-Etikett umhängt.
Doch die politisch Verantwortlichen in der Region Stuttgart scheinen in anderen Realitäten zu leben. Konkret zeigt sich dies in der Regionalversammlung, die von den knapp zwei Millionen Wahlberechtigten aus Stuttgart, den Landkreisen Böblingen, Esslingen, Göppingen, Ludwigsburg und dem Rems-Murr-Kreis im Juni 2024 gewählt wurde. Das 92-köpfige Parlament beschloss jetzt mit seiner sozialkonservativen Mehrheit, die lokale Energiewende zu hintertreiben – mit einem Nimby-Deal ("Not in my backyard") über Vorranggebiete für Windenergie.
Die Rechnung des politischen "Nicht in meinem Hinterhof"-Kuhhandels bezahlen derweil andere: die Stadtwerke in Stuttgart und Böblingen. Sie zwingt der Deal, konkrete Planungen für zwei Windparks einzustellen und hunderttausende Euro, die bereits für Gutachten und Evaluierungen ausgegeben wurden, in den Wind zu schreiben. Das politische Vabanquespiel der Regionalräte könnte allerdings noch weitaus dramatischere Folgen haben.
Wie kam es zum Nimby-Deal?
Als sich die Volksvertreter der Region am 2. April im Stuttgarter Hospitalhof zu ihrer fünften Sitzung trafen, stand unter TOP 4 die Abstimmung über die "Teilfortschreibung des Regionalplans zur Festlegung von Vorranggebieten für Windkraftanlagen" an. Entschieden werden sollte, wo in der Region überhaupt Windräder errichtet werden können.
In jahrelangem Suchlauf hatten die Fachleute des Verbands Region Stuttgart (VRS) zusammen mit den Kommunen potenzielle Vorranggebiete ausfindig gemacht. Erste Voraussetzung: In 160 Metern Rotorhöhe muss ausreichend Wind wehen. Zahlreiche weitere Kriterien grenzten die Suche weiter ein. So müssen Vorrangflächen mindestens 800 Meter Abstand zu Wohngebieten aufweisen, was mehr ist als der "Vorsorgeabstand" von 700 Metern, den die Landesregierung empfiehlt. Weiter galt es den Schutz von Arten, Natur und prägenden Landschaftsbildern zu beachten. Geprüft wurde auch, ob wasserrechtliche Bestimmungen oder Siedlungs- und Straßenpläne der Kommunen der Ausweisung entgegenstehen.
Bei Berücksichtigung aller Kriterien und planerischer Aspekte kam der VRS so auf 106 potenzielle Flächen, die insgesamt rund 95 Quadratkilometer oder 2,6 Prozent des Regionsgebiets umfassen. Das ist deutlich mehr als die gesetzliche Vorgabe, wonach mindestens 1,8 Prozent der Fläche auszuweisen sind. Zunächst klingt das beeindruckend. Doch Vorranggebiete ersetzen in der Regionalplanung kein Genehmigungsverfahren und machen auch keine Aussage über Anzahl und Standorte von Rotoren. Im weiteren Verfahren können sie sich aus einer Vielzahl von Gründen als ungeeignet erweisen, sei es, weil bedrohte Tierarten oder Pflanzen am anvisierten Standort leben, der Bau von Anschlussleitungen zu aufwendig ist oder der Wind doch nicht so stark weht, dass es sich lohnt. Es handelt sich also um eine Angebotsplanung, die offen lässt, ob auf den jeweiligen Flächen jemals Windräder aufgestellt werden.
Zudem war erwartbar, dass es im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung zu Änderungen kommt. Die Planunterlagen konnten zum Jahreswechsel 2023/2024 drei Monate lang in den Landratsämtern, bei der Stadt Stuttgart sowie in der Geschäftsstelle des VRS eingesehen und auch digital heruntergeladen werden. Daneben informierte der VRS auf sieben Veranstaltungen vor Ort. So gingen bis zum Stichtag Anfang Februar 2024 rund 6.500 Stellungnahmen von Städten, Gemeinden, Verbänden und Bürger:innen ein. Über ein Jahr lang wurden diese gesichtet und letztlich in einer Sitzungsvorlage für die besagte Regionalversammlung am 2. April dieses Jahres aufbereitet.
CDU, Freie Wähler, SPD und FDP kippen Planungen
In der Vorlage war die Zahl der Vorrangflächen von 106 auf 93 gesunken. Diese beanspruchten noch rund 70 Quadratkilometer respektive 1,9 Prozent der Regionsfläche. Allein im Kreis Böblingen, dem bis heute einzigen "windkraftfreien" Kreisgebiet der Region, sollten sechs von 32 Gebieten gestrichen und 20 weitere verkleinert werden. Nur sechs Flächen blieben wie ursprünglich geplant bestehen. Regionsweit stand fortan nur noch eine Reservefläche von 414 Hektar zur Verfügung, die dann zum Tragen kommt, wenn so viele Gebiete ausfallen, dass die gesetzliche Vorgabe von 1,8 Prozent nicht zu halten ist. Diese Reserve sollte aus Sicht von VRS-Chefplaner Thomas Kiwitt "aus Vorsorgegründen" eigentlich nicht angetastet werden.
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Ludwig G...
vor 4 Tagen