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Flüchtlingshilfe "move on"

"Egal welche Regierung, wir machen weiter"

Flüchtlingshilfe "move on": "Egal welche Regierung, wir machen weiter"
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Die Stadt Tübingen halbiert den Zuschuss für die Flüchtlingsarbeit von "move on". Vereinsmitglied Andreas Linder nimmt einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung wahr und blickt sorgenvoll auf die Bundestagswahl.

In Deutschland wird gekürzt, allerorten, auch in Tübingen. Dort bekommen nicht nur Schulsozialarbeit und Theater die Streichungen der Kommune zu spüren. Unter den vielen Bereichen, die der Sparplan trifft, findet sich auch die Flüchtlingsarbeit. 50 Prozent werden eingespart bei "move on – menschen.rechte.tübingen", einem Verein, der seit neun Jahren Geflüchtete betreut und als eine von 75 Meldestellen des Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan (BAP) fungiert. Neben Spenden erhielt "move on" bislang jährlich 30.000 Euro von der Stadt, 2026 werden es nur noch 15.000 sein. Viel Geld ist das nicht. "Trotzdem", sagt Andreas Linder von "move on", "hilft es uns. Für unsere Arbeit würden wir aber sicher fünf bis sechs bezahlte Stellen benötigen. Wir haben anderthalb. Es gab auch schon Jahre, in denen Initiativen wie wir überhaupt kein Geld bekamen – oder wollten, weil sie nicht mit der Politik des Staates einverstanden waren."

Weit größere Sorgen als die aktuellen Streichungen im Haushalt der Stadt bereitet Linder die bevorstehende Bundestagswahl – denn sie könnte, wie er sagt, das Ende des Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan bedeuten. "Sollte die CDU die Wahl gewinnen, besteht die Gefahr, dass Deutschland erneut zahllose Menschen im Stich lassen und erneut Afghanistan verraten würde", sagt er. Linder fürchtet, dass Abschiebungen nach Afghanistan und eine Zusammenarbeit mit den Taliban höhere Priorität bekommen als die Rettung von Menschen, die schwere Menschenrechtsverletzungen durch die regierende Terrorgruppe zu erwarten hätten.

Laut dem Programm, das nach der Machtübernahme in Afghanistan von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) aufgesetzt wurde, sollten eigentlich 1.000 Personen pro Monat nach Deutschland kommen – 1.100 insgesamt sind es bis jetzt. Rund 2.000 Personen, die bereits eine Aufnahmezusage haben, sind noch ohne Visum. Etwa 17.000 Personen wurden für das Programm ausgewählt und kontaktiert, haben aber noch keine Zusage erhalten. Hinzu kommen Frauen, die sich an Protesten gegen die Taliban beteiligten und nun in Afghanistan verfolgt werden. "Alleine bei 'move on'", sagt Linder, "liegt eine Liste von 130 Frauen vor, deren Anträge für das Bundesaufnahmeprogramm nicht angenommen wurden."

Auch der Bund kürzt das Geld

Gegründet hat sich "move on" 2016, als die Zugangszahlen Geflüchteter ihren Höhepunkt erreicht hatten. Rund 40 Gruppen, die Geflüchtete unterstützten, entstanden zu dieser Zeit in Tübingen. "Mir war es von Anfang an wichtig, dass es sich nicht um eine lose Gruppe handeln sollte. Ich wollte einen Verein", sagt Andreas Linder. Heute ist "move on" mit dem Tübinger Asylzentrum einer von zwei Tübinger Vereinen der Flüchtlingshilfe und besitzt 55 Mitglieder. "Plan B" nennt sich ein Projekt des Vereins, das sich darum bemüht, Abschiebungen zu verhindern und das Bleiberecht zu stärken. "Save our Families" ist ein weiteres Kernprojekt, das im Februar 2023 entstand, humanitäre Hilfe für Menschen in Afghanistan leistet und im Verein zugleich als Meldestelle des Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan fungiert.

Der Verdacht, dieses Programm sei politisch nicht mehr gewollt, besteht für Hilfsorganisationen wie "move on" seit einiger Zeit. Bereits im Sommer 2024 kürzte Bundesinnenministerin Nancy Faeser die Mittel des Programms im Haushaltsentwurf 2025 um 90 Prozent – dabei handelte es sich um Mittel des Bundes, die an Dienstleister und bundeseigene Stellen gingen: "Bei den zivilgesellschaftlichen Aufnahmestellen kam nichts davon an", erklärt Linder. Ein Netzwerk aus NGOs setzte sich erfolgreich dafür ein, dass der Haushaltsausschuss des Bundestags Mittel für das BAP bis zum Ende der Legislatur am 6. November 2024 doch noch bewilligte. "Wir haben gejubelt. Drei Stunden später brach die Ampel auseinander."

Auch einen Wandel in der Haltung der deutschen Bevölkerung hat Linder beobachtet. "Immer weniger Menschen wollen sich solidarisch und im Alltag in der Flüchtlingshilfe engagieren. Sie ziehen sich zurück. Wir haben zu wenige Leute, die in der praktischen Unterstützung von Flüchtlingen tatsächlich etwas tun wollen. Man muss sich heute fast schon dafür schämen, wenn man Leuten bei der Integration hilft. Das ist ein echtes Problem."

Vorfälle wie der Anschlag, den ein Afghane am 13. Februar in München verübte, bei dem 39 Menschen verletzt wurden und zwei starben, wirken sich in einer solchen Situation katastrophal aus. Linder kommentiert: "Einen Tag nach dem Anschlag las man in der FAZ schon, dass die Taliban mit der Bundesregierung in Verhandlungen treten wollen. Sie versprechen sich von deutschen Politikern eine Aufwertung, und die Abschiebungen sollen, in schöner Kooperation mit den Taliban, direkt nach Afghanistan erfolgen."

Endlose Hängepartien

Morssal Omari stammt aus Afghanistan, lebt bereits seit mehr als 20 Jahren in Deutschland, besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft und arbeitet in einem Jobcenter. Ihre Familie sollte nach Deutschland kommen, steckt aber seit vielen Monaten in Pakistan fest. Ihre Eltern sind alt, der Vater ist krank. Anfang Februar erhielt "move on" die Mitteilung, Morssal Omaris Familie werde fortan mit Priorität behandelt. Am 13. Februar, dem Tag des Attentats von München, wurde mitgeteilt, dass für das jüngste Kind der Familie, ein vierjähriges Mädchen, keine offizielle Geburtsurkunde vorliege und deshalb ein DNA-Test vorgenommen werden müsse. Sicherheitsinterviews mit den erwachsenen Mitgliedern der Familie fanden bislang noch nicht statt. Das bedeutet: weitere Verzögerung für unbestimmte Zeit, sehr hohe Kosten für die Familie – und, sollten die Aufnahmen nach der Bundestagswahl vollständig eingestellt werden, die Abschiebung nach Afghanistan und damit Lebensgefahr.

"Wir werden mit unserem Engagement weitermachen, egal welche Bundesregierung kommt", sagt Andreas Linder. "Das Bundesaufnahmeprogramm muss weitergeführt werden, oder es muss ein neues Programm für besonders vulnerable Frauen und queere Personen geben. Dafür werden wir kämpfen." Der Verein hat bereits einen Antrag für ein neues Projekt gestellt, mit dem insbesondere gefährdete Frauen über Aufnahmeanträge oder Ausbildungsvisa geholfen werden soll.

Zudem organisiert "move on" in Tübingen Fortbildungen, Informationsveranstaltungen, Kleider- und Verpflegungsspenden, kümmert sich um Asylbewerber:innen ebenso wie um Menschen, die über das Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan einreisen. "move on" begleitet sie langfristig und verhinderte schon manche Abschiebung. "Meine persönliche Erfahrung", sagt Andreas Linder, "ist: Je besser man Geflüchtete im Alltag unterstützt, sie in ihrem Integrationsprozess begleitet, desto weniger Schwierigkeiten haben wir in der Gesellschaft. Man schafft diese Probleme nicht einfach aus der Welt, indem man die Grenzen zumacht."

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3 Kommentare verfügbar

  • Peter
    am 19.02.2025
    Antworten
    Zum Foto oben: es ist schon verwunderlich wenn verschleierte Frauen ein "woman life freedom" Plakat hochheben, kognitive Dissonanz?
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