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Sultana Sediqi

"Erinnern heißt kämpfen"

Sultana Sediqi: "Erinnern heißt kämpfen"
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Das war ein wildes Jahr in Thüringen. Wahlsieg der AfD im September. Brombeer-Koalition seit Dezember – und Sultana Sediqi, geflüchtete Afghanin, Aktivistin und Jurastudentin mittendrin. 

Schon lange nichts mehr von Björn Höcke und seiner Thüringer AfD gehört. Nicht, dass das wirklich stören würde, aber vor der Landtagswahl im September in Thüringen sah das noch anders aus. Da starrten alle wie gebannt auf den Siegeszug des rechtsextremistischen Landesverbands, der mit einem Wahlsieg endete. Doch danach verschwanden Höcke & Co. in medialer Nichtbeachtung. Denn die Brombeere und deren schwieriges Zusammenraufen hat alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. 

Jetzt steht die Koalition aus CDU, Bündnis Sahra Wagenknecht und SPD. Und Überraschung: Der Thüringer Landtag hat es Anfang Dezember sogar geschafft, seinen Ministerpräsidenten zu wählen (Mario Voigt, CDU) – diesmal sogar im ersten Wahlgang und ohne Kemmerich-Moment. 

Eher distanziert schaut Sultana Sediqi auf das politische Gerangel. Als Geflüchtete hat sie keine Stimme bei der Wahl, seit zwei Jahren wartet die 20-Jährige auf ihre deutsche Staatsbürgerschaft. Doch sie weiß auch: Wenn alle Parteien, einschließlich der Bündnis-Linken unter Sahra Wagenknecht, lautstark Einwanderung eindämmen wollen, muss sich niemand über alltäglichen Rassismus und den Wahlerfolg der AfD im Freistaat wundern. Gegen strukturellen und institutionellen Rassismus im Jobcenter, Sozialamt oder im Ausländeramt kämpft die gebürtige Afghanin seit Jahren. 

Ausgabe 700, 28.08.2024

"Etwas ist falsch in dieser Welt"

Von Susanne Stiefel

Sie ist als Kind aus Afghanistan geflohen und lebt seit zehn Jahren in Thüringen. Ein Gespräch mit der Menschenrechtspreisträgerin Sultana Sediqi über alltäglichen Rassismus, Björn Höckes AfD und warum Erfurt ihr Zuhause geworden ist.

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Nur der Ordnung halber: Thüringen hat einen minimalen Anteil von Nichtdeutschen von 8,3 Prozent. Baden-Württemberg im Vergleich dazu 15,2 Prozent, Spitzenreiter ist Berlin mit 23,3. Aber leider interessieren Fakten wenig, wenn es um die Suche nach Sündenböcken geht. 

"Etwas ist falsch in dieser Welt", sagte Sultana Sediqi beim Gespräch in der Thüringer Hauptstadt Erfurt vor der Wahl. Das gilt für die junge Frau, die den Menschenrechtspreis von Pro Asyl verliehen bekommen hat, auch heute noch. "Der rassistische Normalzustand ist heute der gleiche wie vor der Wahl", sagt die Aktivistin. "Gelder für wichtige Beratungsstellen und Demokratieprojekte stehen auf der Kippe, all das macht mir Angst." Seit Anfang Oktober studiert sie Jura in Jena. Es hilft, die Gesetze zu kennen, wenn man für Respekt und Rechte streitet. Denn ihren Kampf für eine bessere Welt, in der Menschen als Menschen gesehen und auch so behandelt werden,  hat die Studentin nicht aufgegeben. 

Und so ist ihr Terminkalender, in den jetzt auch Vorlesungen und Seminare drängen, noch etwas voller geworden. Sie organisiert mit der Seebrücke Erfurt eine Aktion gegen die Bezahlkarte für Geflüchtete. In sogenannten Wechselstuben können Gutscheine von Rewe, Aldi und Lidl gegen Geld eingetauscht und so Geflüchtete mit Bargeld versorgt werden. 

Sultana Sediqis Kampf für Menschenwürde und Toleranz ist immer nah bei den Menschen. Wie etwa ihr Engagement für den von Abschiebung bedrohten Syrer Ali Shreteh im November. Und ganz aktuell setzt sie sich für die Kurd:innen im Norden Syriens ein, die nach der Vertreibung von Assad vermehrt unter dem Beschuss der Türkei stehen. "Keine Waffenlieferungen an die Türkei", fordert sie mit ihren Mitstreiter:innen.

Der Tag, vor dem sich Sultana Sediqi am meisten fürchtet, ist ein Jahrestag und er kam kurz nach dem Beginn ihres neuen Lebens als Studentin in Jena. Am 5. Oktober 2022 ertrank ihr Onkel mit 15 anderen Flüchtenden im Mittelmeer. Wer ihren Beitrag auf Instagram liest, kann verstehen, was die junge Frau nicht ruhen lässt: 

"Wir werden euch nie vergessen. Mögen eure Seelen in Frieden ruhen und ihr an einem besseren Ort sein. 

Wir werden nie aufhören, eure Namen zu nennen und eure Geschichten zu erzählen. Von euren Biographien, euren Träumen, Hoffnungen, von eurem Lächeln. Wir werden nicht aufhören, eine andere Welt ohne Grenzen und in Solidarität und Freiheit zu erkämpfen. 

Denn Erinnern heißt verändern.

Denn Erinnern heißt kämpfen." 

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