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"Sancta" an der Staatsoper Stuttgart

Skandal! Hä? Skandal?

"Sancta" an der Staatsoper Stuttgart: Skandal! Hä? Skandal?
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In Stuttgart gab's jetzt einen Theaterskandal. "Sancta" wurde nach der Premiere an der Staatsoper zum Stadtgespräch. Eigentlich ja gut, wenn über Kultur diskutiert wird. Und über die Frage, inwiefern die katholische Kirche sich ändern muss. Aber bald wurde klar: Es ist gar kein echter Skandal. Alles Fake.

Die Premiere war gefeiert worden, das Publikum, darunter viele junge Menschen, zeigte sich begeistert und aufgerüttelt. Kein Buh, alle im Glück. Finale Standing Ovations zu Wohlfühlmitsingmusik! Doch dann folgten bizarre Schlagzeilen.

"Provokante Oper sorgt für zahlreiche Erste-Hilfe-Einsätze", titelte die Stuttgarter Zeitung kurz nach den ersten beiden "Sancta"-Aufführungen. 18 von insgesamt 2.800 Menschen hatten (offenbar auf sehr leisen Sohlen) während der Aufführung den Saal verlassen und sich an Sanitäter:innen vor Ort gewandt, weil ihnen schlecht geworden war. Alltag im Arbeitsleben von Veranstalter:innen. "Sancta" dauert zweieinhalb Stunden ohne Pause. Da ist es nicht sehr überraschend, wenn manchen Menschen die Luft ausgeht oder sie dehydrieren. Klar: Es gibt sensible Seelen, die den Anblick von Blut nicht ertragen. Für diese hatte die Staatsoper eine ausführliche Triggerwarnung vorausgeschickt.

Am nächsten Tag ging's per dpa-Meldung in alle Kanäle, und die Boulevardpresse griff's auf. Jetzt klang das schon anders: "Sanitäter versorgen 18 Besucher: Sex-Szenen schocken Opern-Publikum", schrieb "bild.de" und missbrauchte "Sancta" in den folgenden Tagen für eine bilderreiche Porno-Serie in eigener Sache: "SIE ist der Nackt-Jesus aus der Sex-Oper. Hier sehen Sie die krassen Szenen im Video." "Hier versohlt Jesus einer Nonne den Po." "ꞌBildꞌ-Reporter ging dahin, wo es weh tut: in die Sex-Oper."

Ausgabe 706, 09.10.2024

Nacktheit als Freiheitsgeste

Von Verena Großkreutz

Florentina Holzingers "Sancta"-Performance hatte im Stuttgarter Opernhaus Premiere. Der Shootingstar der Theaterszene nimmt darin die frauenfeindliche Lehre der katholischen Kirche und deren regressiven Umgang mit Sexualität und Körperlichkeit ins Visier.

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Interessant: Verwendet man die Suchfunktion auf Bild.de, um Texte zu "Sancta" zu finden, erscheint gleich unter der ersten "Sancta"-Meldung folgende: "Sexueller Missbrauch im Vatikan: Papst ordnet Prozess gegen deutschen Priester an – Vertuscher oder Aufklärer: Welche Rolle spielt Papst Franziskus im Mega-Skandal?"

"In der Oper gewesen, gekotzt!"

Auf den "Sancta"-Skandal-Zug sprangen flugs auch Vertreter:innen so genannter seriöser Medien auf. "Bis der Arzt kommt: Holzingers 'Sancta' macht Stuttgarter fertig", schrieb etwa der Wiener Standard. Die FAZ dichtete gar: "In der Oper gewesen, gekotzt!" Dabei war von kübelnden Menschen niemals die Rede gewesen. Kessel-TV machte sich einen Spaß draus und bedruckte pinke Pullis mit diesem Bonmot. Knitze Popart.

Besonders ärgerlich an dem Ganzen: Die überregionale mediale Skandalisierung erweckt den Eindruck, das Stuttgarter Opernpublikum sei konservativ und spießig (im Gegensatz zu jenem in Schwerin und Wien, wo die Produktion zuvor gelaufen war und niemand protestiert hatte). Das ist mitnichten so. Stuttgarts Oper ist seit langer Zeit ein Haus des Regietheaters, das programmatisch Risiken eingeht, zudem regelmäßig neue Werke in Auftrag gibt. Und das nach wie vor sehr erfolgreich. Weil sein Publikum diesen Weg mitgeht und neugierig bleibt. Siehe "Sancta".

Der Ton der Meldungen machte also den Skandal und nicht das Publikum. Während die fünf noch folgenden "Sancta"-Vorstellungen schlagartig ausverkauft waren und vom Publikum weiterhin gefeiert wurden, ging's ausgerechnet bei denen, die "Sancta" nie gesehen hatten, heiß her. Naturgemäß, ohne sich mit dem Inhalt des Stücks oder Holzingers Theaterästhetik auseinanderzusetzen. Der katholische Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes erzählte was von "religiösen Gefühlen", die "obszön verletzt" würden und meinte, es werde "ganz bewusst mit der mentalen Gesundheit der Menschen gespielt".

Was wohl die unzähligen Kinder und Jugendlichen, die in katholischen Institutionen sexuellen Missbrauch erfahren haben, Herrn Hermes rückmelden? Oder die Frauen, die in der katholischen Kirche nach wie vor beruflich diskriminiert werden? In der katholischen Kirche gewesen, gekotzt!

Für Florentina Holzinger und ihr Team ist die Skandalisierung von "Sancta" gefährlich geworden. Sie hat nun die in Deutschland nach wie vor unterschätzten ultrarechten christlichen Fundamentalist:innen an der Hacke – inklusive Hatespeech und Gewaltandrohungen. Vor der Stuttgarter Staatsoper versammelten sich dann auch schon bald Menschengrüppchen mit Deutschlandfahnen und bigotten Bannern ("Wir beten zur Sühne der Lästerungen Gottes …"), begleitet von säuselndem Rosenkranz-Singsang. Zu diesem "Protest gegen bösartigen linksgrünen Angriff auf Christen" hatte die rechts-katholische Sekte "Deutsche Gesellschaft zum Schutz von Tradition, Familie und Privateigentum" aufgerufen, die auf ihrer Webseite schreibt: "Dieses Stück ["Sancta"] stammt direkt aus der Hölle und wurde vom Teufel selbst inszeniert." Hä? Ihr Leiter Mathias von Gersdorff ist rechts vernetzt mit den altbekannten Abtreibungsgegner:innen und dem AfD-nahen Aktionsbündnis "Demo für Alle". Ach so.

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