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Özdemir und Hagel im Wizemann, Stuttgart

Die SZ ruft, das Bürgertum kommt

Özdemir und Hagel im Wizemann, Stuttgart: Die SZ ruft, das Bürgertum kommt
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Zum ersten Mal präsentieren sich Cem Özdemir und Manuel Hagel unter einem Dach. Beide wollen Ministerpräsident werden. Die Bühne bietet die "Süddeutsche Zeitung", die so tut, als wäre sie der Platzhirsch in Stuttgart. Das aufgeklärte Bürgertum kommt zuhauf und zahlt sogar Eintritt.

Wenn man so will, verkörpert Richard Rebmann die publizistische Südschiene. Er war zehn Jahre lang oberster Geschäftsführer im Stuttgarter Pressehaus (2008 bis 2018), kaufte in dieser Zeit die "Süddeutsche Zeitung" (SZ) in München, ist heute Vorsitzender des SZ-Herausgeberrates und sitzt an diesem Abend in der ersten Reihe in der Event-Location Wizemann im Stuttgarter Norden, wo er als Erster begrüßt wird. Der 66-Jährige, aus Oberndorf im Schwarzwald kommend, dort Verleger des "Schwarzwälder Boten", hat die Krawatte mit einem blauen Rolli getauscht. Er macht einen vergnügten Eindruck, geradezu genießerisch. Neben ihm lächelt Manuel Hagel, der Chef der Landes-CDU. Er will Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden.

Die Moderation übernimmt Redakteurin Christiane Lutz aus dem SZ-Feuilleton, die bekennt, aus Göppingen zu stammen, an passender Stelle schwäbelt zum Verdruss aller Eingeborenen, die des Anbiederns überdrüssig sind, und schließlich auch noch die Kolleg:innen von den Stuttgarter Blättern willkommen heißt, die allerdings nur in sehr geringer Zahl erschienen sind. Sie nehmen Rebmann immer noch übel, dass er ihrem Laden die 700 Millionen Euro für die SZ aus den Rippen geschnitten hat, worunter sie und ihre Zeitungen – StZ und StN – seit 15 Jahren leiden.

Aber das ist eine alte Geschichte, neu ist der Auftritt der Süddeutschen. Sie präsentiert den Kampf der Gladiatoren als Erste, mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre das schon immer so gewesen. Und erweckt den Eindruck, als wäre sie gekommen, um zu bleiben.

Andere Liga

Das Aufgebot ist spitzenmäßig: Anwesend sind Chefredakteurin (Judith Wittwer), Chefredakteur (Wolfgang Krach), Politikchef (Stefan Kornelius), Chefreporter (Roman Deininger), das komplette Stuttgarter Büro (Tobias Bug, Maximilian Ferstl, Roland Muschel), fehlt eigentlich nur noch der Kolumnenchef (Heribert Prantl). Wolfgang Krach ist so freundlich und erklärt beim abschließenden Bier, warum sie sich so viel Mühe machen. Es sei deshalb, sagt er, weil das Publikum in Stuttgart so anspruchsvoll wie zahlungskräftig sei und ein qualitativ herausragendes Produkt verdiene. Das schließt die Analyse mit ein, dass die Blätter vor Ort Mängel aufweisen, die er nicht weiter ausführen will. Er sei für die Süddeutsche da, betont er, und nicht für die lokalen Organe, die ebenfalls unter dem Dach der Südwestdeutschen Medienholding (SWMH) erscheinen. Andere Liga eben. Unterhalb seiner Wahrnehmungsschwelle.

Ein Blick in den mit 550 Menschen ausverkauften Saal bestätigt den Eindruck einer edlen Kohorte. Das Staatstheater ist mit einer fünfköpfigen Abordnung von Spitzenkräften eingetroffen, angeführt vom Intendanten Marc-Oliver Hendriks, von der Wilhelma ist Direktor Thomas Kölpin erschienen, die Schauspielerin Bärbel Stolz (Soko Stuttgart) darf sogar auf die Bühne, das grüne Urgestein Rezzo Schlauch ist angetan von dem Umstand, dass "wenig silberlockige Honoratioren" da sind, auch die Gattin des Oberbürgermeisters nicht, stattdessen viele Junge, die tatsächlich bereit waren, 15 Euro Eintritt zu bezahlen. Für den Auftritt zweier Politiker wohlgemerkt.

Zuerst ist Manuel Hagel, 36, dran. Auch er dürfte erkannt haben, was die Theaterleute sofort identifiziert haben: ein aufgeklärtes Bürgertum. Zumal der CDU-Landesvorsitzende ein Schnellchecker ist, wie es heißt, und variabel in seiner Rede. Da ist es gut, frei nach Mark Twain, davon auszugehen, dass ein frisch Herausgesagtes geliebt wird, so es dasselbe ist, was das Auditorium denkt.

Also lobt er die Grünen, denen diese Klientel nahesteht, als "verlässliche und stabile" Koalitionspartner, versichert, dass ihn niemand vom Wert einer intakten Natur überzeugen müsse – "ich bin Jäger" –, und greift in der christdemokratischen Ahnentafel auf Erwin Teufel zurück, der alle Wertkonservative, von schwarz bis grün, hinter seinem Mantra ("Erstens das Land, zweitens die Partei, drittens die Person") versammeln konnte. Auch wenn das schon immer eine Lügenbeutelei war.

Hagel liebt den Textbaustein, Özdemir die Bühne

So spricht er ungehindert weiter, Textbaustein für Textbaustein, über den Wohlstand und Autos (beides gefährdet), über die Schuldenbremse (offen für eine Reform), über Extremismus (nicht mit uns) und darüber, wie er sich selbst sieht. Er sei ein "fröhlicher Pragmatiker", sagt er. Spätestens da hätte eine Frage nach seiner Freundschaft mit dem Rechtspopulisten Sebastian Kurz gepasst.

Dynamisch tritt er ab, ein Foto mit dem ungleich Berühmteren, nein, das gibt es nicht, und schon ist er weg. Bühne frei für Doppelminister Cem Özdemir, 58, aus Bad Urach. Ein "Heimspiel" für den Politprofi, befindet der SWR, seit 30 Jahren in der großen Politik, ein Entertainer in der Heimat, der sofort in den Dialekt verfällt, wenn das Idiom "neipasst", beim Palmer Boris etwa, dem er, wenn ihn wieder einmal der Rassismusfinger juckt, empfiehlt: "Gang weg vom Computer, gang in den Wald oder sitz aufs Fahrrad."

Das ist so ein Beispiel für "room for improvement", für eine verbesserte Vernunft sozusagen, was natürlich auch im Großen gilt. Am Ende müsse jeder als Sieger vor seine Partei treten können, verrät Özdemir, womit sich das Tragen einer parteipolitischen Brille eher als hinderlich erweise. Bei der Ampel war das wohl so, räumt der oberrealistische Grüne ein, bei der Lindner-FDP, deren "Ich, ich, ich"-Prinzip wenig Spielraum gelassen habe. Im Übrigen sei jetzt auch mal Zeit, der Polizei danke zu sagen, schiebt er scheinbar unvermittelt dazwischen, und das Publikum applaudiert, weil es sich in Sicherheit wähnt, wenigstens für den Augenblick. Eine nahezu perfekte Performance.

Schwäbisch, Hochdeutsch, Englisch, ein polyglotter Wanderer mit anatolischen Wurzeln. Auch die Theaterleute sind beeindruckt, zitieren später Schillers unermesslich Reich der Gedanken, das Wort als geflügelt Werkzeug: "Mich hält kein Band, mich fesselt keine Schranke, frei schwing ich mich durch alle Räume fort." Das hätte wahrscheinlich nicht einmal Rezzo Schlauch für möglich gehalten, der sich vor 22 Jahren tierisch über den jungen Cem aufgeregt hat, weil sein Ziehsohn über Bonusmeilen und einen Privatkredit des Lobbyisten Moritz Hunzinger gestolpert war. Die Strellson-Anzüge, garantiert Öko-Baumwolle, waren halt teuer und die Aufforderung des damaligen grünen Fraktionschefs Schlauch verhallte ungehört: Kauf beim Breuninger wie jeder anständige Schwabe.

Keine Sorge, CDU: Stuttgart ist nicht das Land

Das ist lange her und hätte als Thema im gepflegt harmonischen Wizemann auch gestört, es sei denn, es wäre in der Slam-Gruppe von Chefreporter Deininger abgehandelt worden. Spott und Hohn auskübeln über sich selbst und Özdemir, das hätte womöglich funktioniert. Nur so als kollegiale Anregung fürs nächste Mal.

Es würde auch der Linie des Chefredakteurs Krach folgen, dem entscheidend erscheint, dass das Lesen seiner Zeitung Vergnügen bereitet. Es sei dieser typische SZ-Sound, erläutert er, der das Schwere auch leicht machen könne. Nun fällt diese Tonalität intern seit geraumer Zeit schwer wegen der SWMH-typischen Sparmaßnahmen, welche die Stimmung verhageln, extern aber ist alles okay. Die Lust am vergnügten Lesen steigt, die Gesamtauflage von Druck und Digital sei höher denn je, berichtet Krach, so hoch, dass seine Zeitung inzwischen ohne Anzeigen leben könnte. Das verleiht Flügel, macht mächtig Muckis und reduziert das Schweigen des Stuttgarter Pressehauses auf eine Randnotiz: Die StZN schaffen es, keine Zeile über die Veranstaltung im Wizemann zu verlieren. Bisher kannte eine solche Ignoranz nur Kontext. Doch ein SMWH-Blatt berichtet umfangreich: die SZ.

Aber keine Sorge, CDU. Stuttgart ist nicht das Land. Nehmen wir nur Biberach. Die Gemeinde der bösen Bauern und des Besenstiels, der gewählt wurde, wenn er schwarz angestrichen war. Hier ist Hagels Homeland, nebendran in Ehingen, bei der Sparkasse, war er Filialleiter. Heute spaziert er mit Erich Fürst von Waldburg-Zeil durch die adligen Wälder und nimmt sich dessen Sorgen an. Biberach wäre also ein idealer Ort, den Kandidaten hochleben zu lassen. Die frohe Botschaft, Hagel for President, würde die "Schwäbische Zeitung" bestimmt gerne verkünden. Seine Durchlaucht ist ihr wichtigster Teilhaber und gilt als Vater ihres Rechtsrucks.

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1 Kommentar verfügbar

  • Kracher
    vor 1 Woche
    Antworten
    Der Schwanz wedelt mit dem Hund und der Hundehalter freut sich des Dressurerfolges.
    Allerdings ist es nur noch eine Frage kurzer Zeit, bis der Hund tot auf der Schnauze liegt. Und dann hat auch der Schwanz ausgewedelt, Herr Krach!

    Auf die Geschäftsidee muss einer erstmal kommen, den EIGENEN…
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