Eines ist der Sauerländer auf jeden Fall: ein rhetorisch gewieftes Chamäleon. Friedrich Merz formuliert gern messerscharf schneidend, in strengem Stakkato, er wippt mit dem Oberkörper, ballt die Fäuste, zieht am liebsten gegen Grüne und Rote vom Leder, speziell gegen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Der Hang zum Populismus begleitet ihn auf Schritt und Tritt und kontaminiert viele Auftritte, die ihn aufrichtig erscheinen lassen sollen. Aber dann, nach einer nur kurzen Kunstpause, packt er es aus, dieses schelmische Lächeln. Dann ist er nicht der aggressive Konservative, der sich nicht scheut, wie rund ums Heizungsgesetz ("Funktionierende Heizungen müssen rausgerissen werden") Fake News zu verbreiten, dann ist er der Spitzbub, der spielen will, um mithilfe von List und Findigkeit und dieser gewissen Portion Charme auch zu gewinnen.
Ein zielführender Umgang mit einer politischen Lage, wie sie die Republik noch nicht erlebt hat, erfordert jedoch keinen Wettbewerb nach dem Motto "schneller, höher, weiter". Jetzt ist Größe gefordert, um im beginnenden Wahlkampf nicht nur den eigenen Anhang zu beeindrucken, sondern den Herausforderungen gerecht zu werden. Jetzt müsste der 1,98-Meter-Schlaks wachsen. Fürs Erste aber hat er die Chancen, staatstragend zu agieren, ungenutzt verstreichen lassen. Speziell in der Frage, wie viel Zusammenarbeit sinnvoll ist mit der neuen Minderheitsregierung – nicht für die Union, nicht für SPD oder Grüne oder den Wahlkampf, sondern schlicht und einfach für das Land.
Aber es geht ihm nicht um ein die Demokratie stärkendes Miteinander, jedenfalls nicht vorrangig, wie sich aus einem bemerkenswerten Vergleich ablesen lässt. Merz versucht es mit Fußball: Der Kanzler habe 90 Minuten in seiner eigenen Welt gelebt, wolle jetzt eine Nachspielzeit, die Union stehe aber mitnichten "als Auswechselspieler für Ihre auseinandergebrochene Regierung" zur Verfügung, sagt er im Bundestag, "so einfach ist der Befund". Ist er gerade nicht. Wenn schon Fußball, dann richtig: Lange Nachspielzeiten sind längst üblich. Nur eine gute Autostunde von Merz' Heimat Arnsberg ist mit Leverkusen jener Club beheimatet, der in der vergangenen Spielzeit Meister wurde dank vieler Tore, die erst nach der 90sten Minute fielen. Und im Übrigen sind Auswechselspieler:innen hochgeachtet als Joker, die neuen Schwung geben, vielleicht den entscheidenden Treffer erzielen.
Die banale, aber falsche Analogie ist nicht der einzige Beleg für eine gewisse Unordnung der Gedanken. Statt die unsinnige Debatte über einen schnellen Wahltermin zu entfachen und tagelang am Köcheln zu halten, als hänge davon das Wohl des Landes ab, hätte der CDU-Bundesvorsitzende ernsthafte Forderungen an die neue rot-grüne Minderheitsregierung stellen und Paketlösungen vorschlagen können – zur Abschaffung der kalten Progression, der Netzzulage etc. und überhaupt zu Anliegen, die die Union selber durchsetzen möchte in dieser verkürzten Legislaturperiode. Zumal sie selbst mindestens einen dringenden Wunsch an die frühere Ampel hat: Noch im November läuft das Mandat eines Bundesverfassungsrichters aus, die C-Parteien haben turnusmäßig das Vorschlagsrecht zur Nachbesetzung und brauchen die übliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Gerade jetzt wäre die perfekte Zeit für Kompromissbereitschaft.
Plötzlich pocht er nicht mehr auf die Schuldenbremse
Gewählt ist ein anderes Vorgehen: Während der Vorsitzende, die Fäuste ballend, den Kanzler noch verdächtigt, er würde die angekündigte Vertrauensfrage womöglich gar nicht stellen, heben die schwarzen Volksvertreter:innen im Bundestag bereits die Hand, um zusammen mit SPD und Grünen die Übergabe von landwirtschaftlichen Betrieben zu regeln, die rechtlichen Grundlagen für die Telefonüberwachung zu verlängern und die Finanzierung des 49-Euro-Tickets dadurch zu sichern, dass es 2025 ein 58-Euro-Ticket geben wird.
Eine Debatte über die Reform der Schuldenbremse läuft ohnehin. Mit einem Mal zeigt sich Merz entgegen allen bisherigen pathetischen Beteuerungen nicht mehr kategorisch unwillig. Denn auch die CDU muss sehen, dass das Geld in der Staatskasse angesichts der gegenwärtigen multiplen Krisen nicht ausreicht – und immerhin kann es sein, dass im nächsten Bundestag die für eine Reform nötige Zwei-Drittel-Mehrheit aus Union, SPD und Grünen nicht mehr zustande kommt. Für diesen Schwenk gab es ein Lob von "Welt"-Vizechef Robin Alexander, das allerdings ziemlich vergiftet daherkommt: Der intime Kenner der deutschen Parteienlandschaft nennt Merz "schon mit einem Bein einen Staatsmann", weil er das heikle Thema selber angefasst habe.
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Thomas Rothschild
vor 2 Wochen