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Friedrich Merz

Staatsmann – mit einem Bein

Friedrich Merz: Staatsmann – mit einem Bein
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Der CDU-Bundesvorsitzende hat in Baden-Württemberg überproportional viele Fans. Von Friedrich Merz' Performance in den kommenden Monaten wird mit abhängen, ob seine Schwarzen das Bundesland bei der Landtagswahl 2026 von den Grünen zurückerobern können.

Eines ist der Sauerländer auf jeden Fall: ein rhetorisch gewieftes Chamäleon. Friedrich Merz formuliert gern messerscharf schneidend, in strengem Stakkato, er wippt mit dem Oberkörper, ballt die Fäuste, zieht am liebsten gegen Grüne und Rote vom Leder, speziell gegen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Der Hang zum Populismus begleitet ihn auf Schritt und Tritt und kontaminiert viele Auftritte, die ihn aufrichtig erscheinen lassen sollen. Aber dann, nach einer nur kurzen Kunstpause, packt er es aus, dieses schelmische Lächeln. Dann ist er nicht der aggressive Konservative, der sich nicht scheut, wie rund ums Heizungsgesetz ("Funktionierende Heizungen müssen rausgerissen werden") Fake News zu verbreiten, dann ist er der Spitzbub, der spielen will, um mithilfe von List und Findigkeit und dieser gewissen Portion Charme auch zu gewinnen.

Ein zielführender Umgang mit einer politischen Lage, wie sie die Republik noch nicht erlebt hat, erfordert jedoch keinen Wettbewerb nach dem Motto "schneller, höher, weiter". Jetzt ist Größe gefordert, um im beginnenden Wahlkampf nicht nur den eigenen Anhang zu beeindrucken, sondern den Herausforderungen gerecht zu werden. Jetzt müsste der 1,98-Meter-Schlaks wachsen. Fürs Erste aber hat er die Chancen, staatstragend zu agieren, ungenutzt verstreichen lassen. Speziell in der Frage, wie viel Zusammenarbeit sinnvoll ist mit der neuen Minderheitsregierung – nicht für die Union, nicht für SPD oder Grüne oder den Wahlkampf, sondern schlicht und einfach für das Land.

Aber es geht ihm nicht um ein die Demokratie stärkendes Miteinander, jedenfalls nicht vorrangig, wie sich aus einem bemerkenswerten Vergleich ablesen lässt. Merz versucht es mit Fußball: Der Kanzler habe 90 Minuten in seiner eigenen Welt gelebt, wolle jetzt eine Nachspielzeit, die Union stehe aber mitnichten "als Auswechselspieler für Ihre auseinandergebrochene Regierung" zur Verfügung, sagt er im Bundestag, "so einfach ist der Befund". Ist er gerade nicht. Wenn schon Fußball, dann richtig: Lange Nachspielzeiten sind längst üblich. Nur eine gute Autostunde von Merz' Heimat Arnsberg ist mit Leverkusen jener Club beheimatet, der in der vergangenen Spielzeit Meister wurde dank vieler Tore, die erst nach der 90sten Minute fielen. Und im Übrigen sind Auswechselspieler:innen hochgeachtet als Joker, die neuen Schwung geben, vielleicht den entscheidenden Treffer erzielen.

Die banale, aber falsche Analogie ist nicht der einzige Beleg für eine gewisse Unordnung der Gedanken. Statt die unsinnige Debatte über einen schnellen Wahltermin zu entfachen und tagelang am Köcheln zu halten, als hänge davon das Wohl des Landes ab, hätte der CDU-Bundesvorsitzende ernsthafte Forderungen an die neue rot-grüne Minderheitsregierung stellen und Paketlösungen vorschlagen können – zur Abschaffung der kalten Progression, der Netzzulage etc. und überhaupt zu Anliegen, die die Union selber durchsetzen möchte in dieser verkürzten Legislaturperiode. Zumal sie selbst mindestens einen dringenden Wunsch an die frühere Ampel hat: Noch im November läuft das Mandat eines Bundesverfassungsrichters aus, die C-Parteien haben turnusmäßig das Vorschlagsrecht zur Nachbesetzung und brauchen die übliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Gerade jetzt wäre die perfekte Zeit für Kompromissbereitschaft.

Plötzlich pocht er nicht mehr auf die Schuldenbremse

Gewählt ist ein anderes Vorgehen: Während der Vorsitzende, die Fäuste ballend, den Kanzler noch verdächtigt, er würde die angekündigte Vertrauensfrage womöglich gar nicht stellen, heben die schwarzen Volksvertreter:innen im Bundestag bereits die Hand, um zusammen mit SPD und Grünen die Übergabe von landwirtschaftlichen Betrieben zu regeln, die rechtlichen Grundlagen für die Telefonüberwachung zu verlängern und die Finanzierung des 49-Euro-Tickets dadurch zu sichern, dass es 2025 ein 58-Euro-Ticket geben wird.

Eine Debatte über die Reform der Schuldenbremse läuft ohnehin. Mit einem Mal zeigt sich Merz entgegen allen bisherigen pathetischen Beteuerungen nicht mehr kategorisch unwillig. Denn auch die CDU muss sehen, dass das Geld in der Staatskasse angesichts der gegenwärtigen multiplen Krisen nicht ausreicht – und immerhin kann es sein, dass im nächsten Bundestag die für eine Reform nötige Zwei-Drittel-Mehrheit aus Union, SPD und Grünen nicht mehr zustande kommt. Für diesen Schwenk gab es ein Lob von "Welt"-Vizechef Robin Alexander, das allerdings ziemlich vergiftet daherkommt: Der intime Kenner der deutschen Parteienlandschaft nennt Merz "schon mit einem Bein einen Staatsmann", weil er das heikle Thema selber angefasst habe.

Das für verlässliche Stand- und Trittsicherheit wünschenswerte zweite Bein fehlt allzu oft, wie jüngst bei dem bisher weitestreichenden Vorschlag zur Unterstützung der Ukraine. Der Oppositionsführer fordert den Bundeskanzler auf, seine Angst vor Putin zu überwinden, und wenn der "innerhalb von 24 Stunden nicht aufhört, die Zivilbevölkerung zu bombardieren, dann müssen aus der Bundesrepublik Deutschland Taurus-Marschflugkörper geliefert werden, um die Nachschubwege zu zerstören".

Selbst in der eigenen Fraktion sind die Reihen in dieser Frage nicht geschlossen. Irritierend nennen das Ultimatum manche hinter vorgehaltener Hand, nicht zuletzt, weil es die Stimmung in der eigenen Partei nicht treffe. Und der Kanzler will dieser Art "Eskalationslogik" ohnehin nicht folgen.

Ganz so wild ist er gar nicht

Merz erfindet Geschichten, zeigt sich "in der Analyse politischer Probleme ähnlich präzise wie ein Stammtisch nach zu vielen Runden Doppelkorn", wie sogar die "Welt" einmal schreibt. Dass Stilfragen höchst politisch sind, bewies er mit der Bezeichnung "Kleine Paschas" für männliche Heranwachsende mit Migrationshintergrund. Oder als er vor sechs Jahren Annegret Kramp-Karrenbauer bei der Wahl für den Parteivorsitz unterlag und neben ihm seine Frau Charlotte aufstand, um der neuen CDU-Chefin zu applaudieren – da zog der Gatte sie, statt sich selber zu disziplinieren, doch tatsächlich auf ihren Sitz zurück. 2000 wollte er sich zum "wilden Feger" ("Spiegel") in Jugendjahren stilisieren. "Hat er seine 'Jugendsünden' nur erfunden?", fragte das Hamburger Nachrichtenmagazin nach dem Leserbrief eines Mitschülers. "Schulterlange Haare? Merz? Nie im Leben!", hatte der geschrieben, "unser Kumpel hatte schon immer die Frisur, die er heutzutage trägt." Kein Motorrad, keine Frittenbude, an der er geraucht und Schnaps getrunken haben will.

Dabei konnte der begeisterte Hobbypilot mit Privatflugzeug und – laut "Vermögensmagazin" – geschätzten zwölf Millionen Euro auf der hohen Kante seit 1989 und dem Einzug ins Europaparlament Erfahrungen sammeln. Sie helfen erkennbar anhaltend wenig, wenn Merz zwischen seriösem Auftreten und Großspurigkeit balanciert. Schon zur Jahrtausendwende wollte er vieles anders machen. Er war, bis ihn Angela Merkel ablöste, Fraktionschef im Bundestag, hatte das Copyright auf marktradikale Ideen, darunter die "Kopfpauschale" bei der Krankenversicherung: Für alle Krankenversicherten, selbst die reichsten, sollte es nurmehr ein und die selbe Beitragshöhe geben. Und auf eine radikal vereinfachte Steuererklärung, die auf einen Bierdeckel passen sollte. Anderes hat Merz gekapert, allen voran den zumindest problematischen Begriff einer "Leitkultur" vom Politologen und früheren Harvard-Professor Bassam Tibi Ende der 1990er-Jahre.

Bemerkenswert ungeniert werden heute Themen aufgewärmt, die belegen, wie die vergangenen 25 Jahre an der CDU vorübergegangen sind. Jüngstes Beispiel: Ihr Vorsitzender, der schon als Schüler in die Junge Union eingetreten ist, entfacht die speziell auf Konservative zielende Aufregung um den Paragrafen 218 StGB. Natürlich weiß der Spross einer Juristenfamilie mit einschlägigem Studium und Erfahrungen als Richter, dass Schwangerschaftsabbruch längst aus dem Strafgesetzbuch entfernt gehört. Aber anstatt zu überraschen mit einem Debattenbeitrag auf Augenhöhe mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit 2024, empört sich der Vater von drei Kindern künstlich und will wieder einmal direkt Scholz anprangern, der den parteiübergreifenden Antrag auf Streichung unterstützt: "Ich bin wirklich entsetzt darüber, dass derselbe Bundeskanzler, der immer wieder vom Zusammenhalt, vom Unterhaken und von Gemeinsinn spricht, mit auf der Liste dieses Gruppenantrages mit seiner Unterschrift erscheint."

Manche seiner Fans sind Spätberufene

In Baden-Württemberg kam der Merz von Anfang an gut an. Vor allem, weil er sich frank und frei gegen die Physikerin aus dem Osten stellte – bekanntlich erfolglos. Als sein Abgang in die Hochfinanz drohte, drängte Günther Oettinger, ihn zu halten: "Eine gute Regierungschefin wie Angela Merkel duldet nicht nur kompetente Persönlichkeiten, sondern sie fördert geradezu starke Minister." Er rotierte dennoch aus der Politik, blieb aber Objekt der Begierde an der Basis von CDU und CSU. Zum Comeback von 2018 formierte sich sogleich eine Unterstützungsinitiative, vornehmlich aus altbekannten Merkel-Gegner:innen. Ein Jahr später, nach der ersten Niederlage im Kampf um den Bundesvorsitz, setzte "Bild" das Gerücht in die Welt, der Wiedereinsteiger könne Spitzenkandidat bei der hiesigen Landtagswahl 2021 werden, um Winfried Kretschmann und seine Grünen endlich aus dem Feld zu schlagen.

Deals mit Trump

Gar nicht, wie auf den ersten Blick zu vermuten, aus der Hüfte geschleudert, sondern ganz schön kalt kalkuliert könnte Friedrich Merz den 19. Januar 2025 als Wahltermin vorgeschlagen haben. Denn die Union hätte sich auf diese Weise einer Diskussion der Konsequenzen entzogen, die US-Präsident Donald Trump nach seiner Inauguration am 20. Januar für Europa und Deutschland auslösen wird. Immerhin hat der CDU-Bundesvorsitzende im Interview mit dem "Stern" bereits zum Rundumschlag ausgeholt und den Bundeskanzler als "lame duck" bezeichnet, weil er Kamala Harris unterstützte. Merz hat öffentlichgemacht, dass er "mit vielen Leuten" spricht, die den Wiedergewählten "sehr gut kennen, die sagen mir: Du musst ihm mit aufrechtem Gang und Klarheit begegnen". Und er versprach sogar "gute Verabredungen, Trump würde sie Deals nennen". Jetzt wird er sich solchen Ankündigungen stellen müssen – je nachdem, welche Zumutungen der US-Präsident auspackt. In ganz speziellem Licht erscheint der 19. Januar aber aktuell noch aus ganz anderem Grund. Denn CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann nennt auf einmal Weihnachtsmärkte nicht die richtigen Orte für den Wahlkampf und will ihn während der Weihnachtstage ganz ruhen lassen. Nach der Ursprungsidee wären vom 1. Januar an allen Parteien und ihren Kandidat:innen also gerade noch 18 Tage Zeit geblieben, um sich selbst vorzustellen und das eigene Programm unter die Leute zu bringen. Wären andere mit einem solch schrägen Zeitplan gekommen, hätten Merz und Linnemann sicher sogleich in die Debatte gegrätscht mit Unterstellungen wie: Warum wollen die sich nicht Zeit nehmen für den Wahlkampf? Haben die so viel Angst vor dem Wettstreit mit uns?  (jhw)

Manche Fans sind Spätberufene. Manuel Hagel, Fraktions- und Landesvorsitzender in Baden-Württemberg, favorisierte lange mit Inbrunst Jens Spahn für den Bundesvorsitz, als "liberal und modern konservativ". Aber dann im Februar 2020 war plötzlich innerhalb von Tagen alles anders: Gemeinsam mit dem damaligen Landeschef Thomas Strobl und Susanne Eisenmann, der tatsächlichen Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl, appellierte Hagel, beim anstehenden Bundesparteitag Merz zu unterstützen – wegen seines sehr hohen Ansehens in der deutschen und insbesondere in der baden-württembergischen Wirtschaft. Und weil es "mit ihm am besten gelingen kann, Wähler von der AfD zurückzuholen".

Der Hoffnungsträger der Südwest-CDU benötigte bekanntlich drei Anläufe, um endlich bundesweit die schwarze Nummer eins zu werden. Und als sich die Union in der K-Frage für die Merz-Show rüstete, stand Baden-Württemberg abermals schnell an seiner Seite. Ein Argument zu seinen Gunsten war der angekündigte Kampf gegen die AfD und das – nie umgesetzte – Versprechen, deren Wählerschaft zu halbieren. Inzwischen lässt der Parteichef zu, dass im Europaparlament EVP-Mehrheiten dank der Stimmen von der AfD zustande kommen – während er im Bundestag Reden hält, die wild entschlossen auf massive Konfrontation mit den Rechtsaußen zu setzen scheinen.

In den kommenden Monaten benötigt der Kanzlerkandidat die Unterstützung aus Baden-Württemberg, dem zweitgrößten Landesverband der CDU, ganz besonders. Und umgekehrt: Es wird Hagel nur gelingen, die Grünen nicht allein in der Demoskopie, sondern auch in der realen Welt der Stimmzettel zu überholen, wenn Merz im Kanzleramt das nötige Format beweist. Vorschusslorbeeren regnete es vor einem Jahr auf dem Landesparteitag allerdings fürs Gegenteil. Da waren sie wieder, die Rhetorik im Stakkato, das pfiffige Lächeln und dazu der lockere Umgang mit der Wahrheit. Der Applaus war riesig, als er gegen "die 20-jährigen Studienabbrecher in der grünen Bundestagsfraktion, die uns von morgens bis abends die Welt erklären" wetterte. Niemand dachte anscheinend darüber nach, dass mit 20 kaum jemand ein Studium abbricht. Und eine, die jüngste Grüne überhaupt, Emilia Fester, hat gar keines angefangen, sondern sofort nach dem Abitur (Note 1,3) gearbeitet.

Wenn Fakten schon nichts zählen, die Prognosen sollen natürlich eintreffen in Merz' Kosmos. "Es wird sich ja wohl kaum mehr verhindern lassen, dass wir die nächste Wahl gewinnen", rief er selbstbewusst in die Reutlinger Stadthalle. Da ist in der Tat einiges dran. Im großen Jubel der Delegierten ging jedoch der mahnende Sarkasmus völlig unter, der in dem von Wolfgang Schäuble (CDU) stammenden Zitat steckt. Und der Nachsatz ebenso: "Jetzt liegt es nur noch an uns."

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1 Kommentar verfügbar

  • Thomas Rothschild
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Die angeborene Überzeugung flüstert mir ein: um Gottes (!) willen, nur nicht die CDU, weder in Baden-Württemberg, noch anderswo. Aber bei zweiter Überlegung empfinde ich doch einen Mangel, nicht nur wegen des Tanzes von Sahra Wagenknechts BSW um die goldene AfD. Wie viel leichter fiele es mir,…
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