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Grünen-Parteitag

Eine war kritisch

Grünen-Parteitag: Eine war kritisch
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Dass dieser Bundesparteitag der Grünen emotional wird, war zu erwarten nach dem Abgang führender Köpfe der Grünen Jugend und dem Rücktritt des Führungsduos. Allerdings brachen sich viele Gefühle nicht im Flügelstreit Bahn, sondern in Streicheleinheiten. Eine der wenigen Ausnahmen war Luisa Neubauer.

Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen am vergangenen Wochenende in Wiesbaden: Sogar zur höchst umstrittenen Migrationspolitik der Ampel blieb der große Knatsch aus. Vielmehr gab es Applaus, als Bundesaußenministerin Annalena Baerbock in einer kämpferischen Rede, unter vielen anderen, auch diese eingegangenen Kompromisse verteidigte. Im mit großer Mehrheit angenommenen Antrag heißt es: "Wir werden uns den Herausforderungen, der Angst und den Zweifeln stellen." Fast 180 abweichende Positionen waren vorab und gerade dank des Engagements des linken grünen Migrationsspezialisten im Europaparlament Erik Marquardt eingearbeitet worden.

Die entscheidende Weichenstellung auf Zusammenhalt erfolgte schon Freitagabend. Ausgerechnet Wolfgang Ischinger, der internationale Spitzendiplomat und langjährige frühere Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, flocht den Grünen größte Kränze in seiner Laudatio auf Omid Nouripour. Er sprach von "der Liebesaffäre mit dem Status quo", die Deutschland seit dem Fall der Mauer eingegangen sei, und davon, dass "viele Dinge, die heute nicht mehr so gut funktionieren, auf diese Liebesaffäre zurückzuführen sind". Dann kam's ganz dick. Denn: "Die einzige Partei, die über diese Zeit hinweg nicht nur auf eigene Veränderung gesetzt hat, sondern auch auf die Veränderung des Landes, waren die Grünen."

Luisa Neubauers Rede auf dem Grünen-Parteitag als Kurzbeitrag in der ARD-"Tagesschau".

Ebenfalls emotional – und zwar kritisch – war die Klimaaktivistin Luisa Neubauer in ihrer Verabschiedungsrede für Ricarda Lang. Die 28-Jährige, bekannt geworden als eine der Hauptorganisator:innen der deutschen Fridays for Future und Grünen-Mitglied, zeigte darin als eine der wenigen Parteitagsredner:innen zentrale Versäumnisse auf – ihrer Partei und der Gesellschaft. Kontext dokumentiert die Rede.

Politik ohne Klima ist Märchenpolitik

Von Luisa Neubauer

"Ich war zuletzt zwei Monate in den USA und habe den Versuch beobachtet, einen Wahlkampf ohne Klima zu führen: Harakiri, würde ich sagen. Und vergangene Woche haben wir bei der Weltklimakonferenz in Aserbaidschan erlebt, wie sich der fossile Faschismus gegen uns alle in Stellung bringt. Und hier haben Aktivist:innen von Fridays for Future draußen vor der Tür protestiert – mit dem klaren Anspruch an Euch, liebe Grüne, in diesem Wahlkampf die ökologischen Standards zu setzen. Wir wissen alle, dass es keine Partei gibt, die in diesem Wahlkampf vorschlagen wird, doch mal eine Runde grüner zu sein als die Grünen. Wenn Ihr nicht ehrlich und klar benennt, was in Sachen Klimakrise los ist, was in Sachen Klimagerechtigkeit gemacht werden muss, dann werden sich alle anderen dahinter verstecken. Die Erwartungen an Euch sind groß. Wer im Jahr 2024 Bundespolitik machen will ohne Klima, der macht keine Bundespolitik, der macht Märchenpolitik. Und das wissen wir alle.

Zu dir, Ricarda. Als du mich gefragt hast, ob ich die Laudatio halte, gab es noch keine Neuwahlen. Jetzt ist meine Rede ein bisschen anders als geplant, aber keine Sorge, wir werden das Kind schon schaukeln. Wir kennen uns sechs Jahre. Ich habe dich als Grüne-Jugend-Vorsitzende erlebt, als stellvertretende Bundesvorsitzende und als Grünen-Chefin: Ich hab' dich in Wahlkämpfen erlebt, in Großkrisen und in der Kneipe, erstaunlich oft alles gleichzeitig, du warst beim allerersten Klimastreik in Berlin dabei. Damals konnte wirklich niemand absehen, was daraus werden würde. Und spätestens seither bis du nicht mehr wegzudenken, nicht aus Berlin und nicht aus meinem ganz persönlichen politischen Kosmos.

Aber wir müssen über das sprechen, was jetzt über diesem Parteitag schwebt. Ungewollt und ungeplant prallen 99 Tage vor einer Bundestagwahl zwei Welten aufeinander: das Ende eines Bundesvorstands und der Anfang einer Wahlkampagne. Ein Wahlkampf verlangt nach Antworten und Orientierung – und das am laufenden Band und rund um die Uhr. Und doch stehen im Raum riesengroße Fragezeichen. Lange haben wir gedacht, Klimapolitik wird einfacher, wenn die Leute nur informiert genug sind. Dann dachte man, die Katastrophen müssten erst einmal da sein. Und später hat man gehofft, dass Klimaschutz, wenn er profitabel ist und sozial gerecht ist, aufgehen würde. Und heute? Heute sind die Menschen informiert wie nie, die Katastrophen sind sichtbar wie nie, und auf den notorisch unglücklichen UN-Klimakonferenzen sind die einzigen, die wirklich strahlen, grüne Investoren.

In den vergangenen drei Jahren wurde mit einem unglaublichen Kraftaufwand mehr Klimaschutz umgesetzt als jemals zuvor. Das kann man nicht oft genug sagen. Und dennoch triumphiert nicht die Ökologie. Es triumphiert die AfD, die Klimaleugnung nimmt zwischen Hochwassern zu. Man muss sich freuen über die Kinder, die noch die Wut haben, auf die Straßen zu gehen, die noch nicht vor Angst um die Zukunft aufgegeben haben.

Mit einer Ampel in Scherben, mit drei verlorenen Landtagswahlen weiß man jetzt auch, wie viel man nicht weiß. Es bleibt ungeklärt, wie ökologische Politik gegen den Faschismus gewinnen kann. Es bleibt ungeklärt, wie ökologische Politik in einer Koalition nicht zur Unkenntlichkeit verprügelt wird. Es bleibt ungeklärt, wie 1,5-Grad-Politik in der Praxis aussieht. Dein Rücktritt, Ricarda, ist eine eigenständige mutig Entscheidung, für die dir deutschlandweit Respekt gezollt wird. Aber es ist im Kern nicht nur dein Abschied, es ist ein Abschied von Gewissheiten, die keine mehr sind.

Jetzt kann man es sich leicht machen, jetzt kann man sich einreden, mit dem Rücktritt und Neuwahlen ist das gegessen und auf neue Ergebnisse hoffen. Oder eben auch nicht. Ricarda, du hast in deiner unfassbaren Größe etwas offengelegt: deine Eigenheit im Kampf um soziale und ökologische Gerechtigkeit. In diesem Kampf kommt es darauf an, was wir machen, wenn es gut läuft. Ausschlaggebend ist aber das, was wir machen, wenn es nicht gut läuft. Unsere Entscheidungen in harten Zeiten schaffen erst die Bedingungen dafür, dass es einmal ökologischer und gerechter werden kann. Was passiert also jetzt? Wo wird sich die Zeit genommen, gerade jetzt, wo man die Zeit nicht hat? Und wer macht die Regeln für diesen Umgang mit den Scherben, die ja offensichtlich sind?

Ich bin nicht klüger als Ihr, aber ich habe ein paar Ansätze mitgebracht, inspiriert von dir, Ricarda. Nummer eins: Das letzte Mal, als ich auf einer BDK gesprochen hab', hab' ich versucht, die Partei von einem Deal mit RWE abzuhalten. Meiner Rede und den vergeblichen Bemühungen einer Hälfte der Partei folgte etwas, das man im besten Fall einen fossilen Rückfall nennen kann. Nachdem eine Reihe von, nun ja, Männern einen komplett überflüssigen Kohledeal geschlossen hatten, nachdem eine ökologische Zivilgesellschaft im Matsch und Regen versucht hat zu retten, was noch zu retten ist, nachdem das Verhältnis zwischen Grün und Bewegung auf einem neuen Tiefpunkt angelangt war, da saßen du und ich bei Anne Will und sollten die Kastanien aus dem Feuer holen. Und ich fand es so sinnbildlich: natürlich du, denn deine Schmerzgrenze in der Politik ist ohnehin ungebrochen, du scheust keine Konfrontation, du bist Vermittlerin durch und durch, und ich habe mich gefragt damals, wie eine Politik aussieht, in der Widerspruch und Konflikt wirklich ehrlich Platz haben.

Der Soziologe Nikolaj Schultz sagt, der Einsatz für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen ist keine Friedensverhandlung, er ist eine Kampfansage. Ich würde sagen, er ist beides, aber wenn wirklich Frieden geschlossen werden soll in der Gesellschaft mit der Welt, dann geht es nicht ohne Konflikt, dann geht es darum anzuerkennen, dass wir eben nicht immer alle auf derselben Seite stehen. Frieden ohne Konflikt, das ist nicht Politik, das ist Straßenfest. Und man fragt sich jetzt, was Konflikt ohne Frieden ist? Das ist die CSU im Wahlkampf, aber das ist ein anderes Thema. Politik, die Konflikte aushält und Widersprüche, das ist niemals eine gekränkte Politik, und auch dafür stehst du, Ricarda. Statt deine Kränkungen zu verwalten, verwaltest du Anekdoten aus den dunkelsten Stunden, bei denen du selbst dann beim Erzählen vor Lachen weinen musst.

Und wie ist es künftig um den Konflikt bestellt? Wird er eingeladen oder nur geduldet? Wird der ernsthafte Versuch unternommen, ihn nicht zu diskreditieren – auch dann nicht, wenn der Druck steigt? Wir haben das damals ausdiskutiert bei Anne Will. Ich habe alles daran als Zumutung empfunden. Und auch das ist Teil der Geschichte der Ökologie. Das ist kein Tanz nach Utopia, das ist eine Zumutung für alle. Es gibt Verlierer, selbst wenn das nur die fossile Nostalgie ist, es gibt Widerstand und Ressentiments. Und wer meint, über all das nicht sprechen zu müssen, den holt das von vorne ein. Die Regeln für eine Politik, die den vielen sichtbaren und unsichtbaren Konflikten gerecht wird, sollten nicht aus Gewohnheit kommen, sondern aus den neuen Anforderungen der Welt und ihrer Scherben.

Es gab da einen Moment in den letzten Jahren, da ging es anders. Das ist mein zweiter Punkt. Da telefonierten wir, während wir bei Fridays for Future eine zwischenzeitliche Erdgas-Euphorie des Wirtschaftsministers bremsen wollten. Es ging darum, ein Erdgasfeld vor Borkum zu stoppen. Auf einmal schien eine lang vermisste Augenhöhe zwischen Partei und Bewegung greifbar, sich gegenseitig Abhängigkeiten zu akzeptieren. Die Bewegung wurde nicht als Dienstleister in der Verteidigung unbeliebter Gesetzesvorhaben verstanden, sondern als notwendiges Korrektiv vor Ort und als ein Ort, wo Momentum wächst. Es gelang, neue Allianzen und neue Bündnisse zu bauen mit ehrlicher Unterstützung aus Berlin. Und statt die Klimaziele den Umständen anzupassen, wurde sich ernsthaft auf die Suche nach Lösungen gemacht, die groß genug warnen, um die Welt und das Klima zu vereinen.

Borkum ist nicht Bundespolitik und ein vorläufig geschütztes Erdgasfeld ist kein eingehaltenes Klimaziel. Aber es ist so hoffnungsvoll, dass es gehen kann, dass die Regeln für den Umgang mit den Krisen miteinander, aus respektvollem Umgang und aus gelebter Rollenverteilung wachsen können. Einen echten Klimawahlkampf machen, den sonst niemand macht, eine Augenhöhe mit der Bewegung in den Konflikten um den fossilen Ausstieg und mehr Ricarda wagen. Dann kann es was werden.

Und es gibt noch einen dritten Punkt. In den letzten sechs Jahren haben sich unsere Positionen oft ergänzt, aber oft auch nicht, auch wir haben unsere Widersprüche und große Fragen, auf die wir unterschiedlich blicken. Es gibt aber eine Sache, die haben wir auf jeden Fall gemein, eine Art Lebensweisheit, die uns begleitet. Und die geht so: Du bist eine junge Frau in der Politik oder in der Öffentlichkeit, dann ist dir nichts garantiert – außer, dass du es garantiert falsch machst. Sind wir selbstbewusst, dann nehmen wir zu viel Raum ein, tun wir es nicht, nennt man uns Mauerblümchen, gehasst werden wir so oder so, über den Hass sollen wir auch reden, aber bitte niemanden damit belästigen, denn es soll ja um die Inhalte gehen. Auf alles sollen wir eine Antwort haben, aber wehe, du hast auf alles eine Antwort, das wäre ja arrogant: Der eigene Lebensstil wird auf Ökoregeln überprüft, die wir überhaupt nicht selbst aufgestellt haben und wehe, du lebst wirklich ökologisch, das wäre dann moralisierend.

Und komm' bitte jetzt nicht auf den Gedanken, Witze zu machen, das wäre unseriös, aber schade irgendwie, dass die jungen Frauen von heute so wenig Humor haben. Und selbst dann, wenn wir einfach nur ein einziges Mal ausreden wollen, dann kommen wir leider nicht zum Punkt. 16 Jahre Merkel und bis heute wissen wir nicht, wie eine Politik aussieht, in der wir nicht andauernd daraufhin überprüft werden, wie sehr wir es schaffen, uns in mittelalte Männer zu verwandeln, um selbst daran kategorisch zu scheitern. Du, Ricarda, bist in den letzten Jahren über dich hinausgewachsen, und auch dafür sollst du dich noch entschuldigen. Einige von Euch führen diese Debatten seit Jahrzehnten. Ich weiß nicht, wie ihr hier noch ruhig sitzt. Ich würde auf dem Tisch stehen und schreien.

Liebe Ricarda, du lässt nicht zu, dass dir irgendjemand da draußen dein Lachen nimmt, deine Freiheit, deine Würde, deine Haltung. Dieses Land und diese Partei haben ein unfassbares Glück, dich hier zu wissen, an der Startlinie bei allem, was kommt, was es zu erkämpfen, zu erstreiten und zu verteidigen gibt."

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11 Kommentare verfügbar

  • Edelbert Hackenberg (Elder)
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Habe selten soviel Kleinkinderkramgerede gehört wie aktuell bei den GRÜNEN - die Partei besteht anscheinend nur noch Lobhudlern/innen die sich gegenseitig toll finden. Ach war das seinerzeit, in den ersten Jahren nach der Gründung, noch kreativ als es noch viele unterschiedliche Meinungen zu…
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