Draußen zeigt der Winter, was er kann, mit einem ersten heftigen Schneegestöber. Der Stuttgarter Weihnachtsmarkt wird aufgebaut, Kinder hüpfen in der Vorfreunde auf die Fahrt mit dem Riesenrad. Für manche Familien beginnt jetzt die gefährlichste Zeit des Jahres. Drinnen, im Haus der Abgeordneten am Schlossplatz, diskutieren Fachleute über häusliche Gewalt. Die SPD-Fraktion hat zum Gespräch geladen. Und es ist, wie es immer ist: Ausgewiesene Expertinnen und einige wenige Experten nehmen sich der Materie an, bestärken sich gegenseitig, um nicht zu verzweifeln.
Die Gastgeberin, die Tübinger Landtagsabgeordnete Dorothea Kliche-Behnke, ist vor eineinhalb Jahren mit einem Gesetz zur Förderung der Frauen- und Kinderschutzhäuser an der grün-schwarzen Mehrheit im Landtag gescheitert, ebenso mit ihrer Idee für eine schon lange überfällige Verstetigung der Finanzierung. Wie notwendig die seit Jahrzehnten ist, dokumentiert ausgerechnet der Plan des vorerst letzten Mannes an der Spitze des Bundesfamilienministeriums Heiner Geißler (CDU). Der hatte in den 1980er-Jahren nach Vorarbeit durch die sozialliberale Regierung von Helmut Schmidt eine Regelmitfinanzierung der Träger von Frauenhäusern durch den Bund erwogen, konnte aber den Widerstand in seiner eigenen Partei sowie aus Ländern und Kommunen nicht überwinden, obwohl der Druck schon damals groß war.
Heute steigt er immer weiter an, auch wegen Corona. Natalie Gehringer, Doktorandin am Freiburger Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, schildert im Fraktionssaal der SPD, was es für betroffene Frauen und Kinder in der Pandemie bedeutete, in schwierigen Verhältnissen auf engstem Raum mit dem Gewalttäter zusammenleben. Notrufe waren infolge der permanenten Kontrolle durch solche Partner nicht möglich, Lehrkräfte konnten während der monatelangen Schulschließungen blaue Flecken oder blutunterlaufene Augen als Warnsignale nicht wahrnehmen. Kleine Lichtblicke: Hilfsmaßnahmen, online und per Telefon, konnten über Monate getestet und angepasst werden. Gerade in ländlichen Räumen sind derartige Angebote wichtig, weiß Gehringer, außerdem ist die Hemmschwelle im Vergleich zu dem persönlichen Kontakt in einer Beratungsstelle niedriger. "Und bei Präventionsveranstaltungen ist das Publikum im Netz viel größer", berichtet die Wissenschaftlerin.
Frauenfeinde sind auf dem Vormarsch
Aber längst nicht groß genug, schon gar nicht, um sich dem aufdrehenden gesellschaftlichen Wind entgegenzustellen. Influencerinnen promoten ihre Idealbilder von "Tradwives" nach der längst überholt erachteten Logik "Papa denkt, Mama kocht", der Mann sei der Verdiener, die Frau füge sich. Längst hat die "Alternative für Deutschland" (AfD) den Trend erkannt und weiß ihn zu nutzen. Schon im Sommer 2023 sorgte eine nicht repräsentative Online-Umfrage für Aufregung, weil ein Drittel der Männer angab, Frauen Respekt per Handgreiflichkeiten einzuflößen. Davor aber warnt Markus Söder (CSU) nicht, sondern vor der "düsteren Woke-Wolke", Manuel Hagel (CDU) vor dem "Gender-Zwang".
Ruth Weckenmann wiederum, die frühere Stuttgarter SPD-Landtagsabgeordnete, legt in dem Fachgespräch den Fokus auf den Machteinfluss AfD nicht nur in migrations-, sondern auch in gesellschaftspolitischen Fragen. Er nehme zu, weil die konservativen Parteien "Sprache und Positionen übernehmen und die Ablehnung von Frauenrechten größer wird". Mitfinanziert vom Bundesfamilienministerium fand Ende Oktober eine Tagung zum Thema Antifeminismus statt, weil der laut Einladung "dazu beiträgt, rechtsextreme und vielfaltsfeindliche Einstellungen zu normalisieren, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schwächen und die Demokratie zu untergraben".
Genau das findet beispielsweise in den USA statt, wo mit Donald Trump ein verurteilte Sexualstraftäter zum Präsidenten gewählt wird, in Polen unter den PiS-Regierungen, in Italien durch die Postfaschistin Georgia Meloni, in Ungarn ohnehin. "Die Ideologie, die die Gleichwertigkeit der Geschlechter ablehnt, greift um sich", warnt Katrin Lehmann, die beim Paritätischen für Krisenintervention und Existenzsicherung, Jugend und Bildung zuständig ist. "Wir dachten, dass wir schon weiter sind, aber das Patriarchat schlägt zurück." Das Netz, ChatGPT und Künstliche Intelligenz zementieren die neuen alten Stereotype, die Hemmschwelle gegenüber Gewalt sinkt.
In der realen Welt könnten die demokratischen Parteien dagegenhalten. "Wir werden das Recht auf Schutz vor Gewalt für jede Frau und ihre Kinder absichern und einen bundeseinheitlichen Rechtsrahmen für eine verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern sicherstellen", heißt es im Koalitionsvertrag der dahingeschiedenen Berliner Ampel aus SPD, Grünen und FDP. Ein Gewalthilfegesetz hatte sie noch erarbeitet, wonach bis 2030 ein Rechtsanspruch auf Schutz realisiert werden sollte. Rund 275 Millionen Euro pro Jahr sollten dafür bereitgestellt werden – so viel wollte Ex-Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) aber dafür nicht hergeben. Mit dem Scheitern der Regierung kam Bewegung in den Gesetzgebungsprozess, Lindners provisorischer Nachfolger Jörg Kukies (SPD) kann sich vorstellen, Geld locker zu machen.
Parteien taktieren lieber
Der inzwischen nurmehr rot-grünen Bundesregierung fehlt aber bekanntlich eine Mehrheit im Bundestag. Und die Union steht zwar ausweislich eines eigenen Antrags hinter dem Anliegen, will die Hand aber nicht reichen, weil wie so oft in diesen Wochen Parteitaktik Vorfahrt hat. Silvia Breher, Vize von Parteichef Friedrich Merz, könnte angesichts der jahrzehntelangen Versäumnisse auch der Union eine zügige Kooperation anbieten. Stattdessen ruft sie nach einer Gesamtstrategie gegen Partnerschaftsgewalt mit einem Schutzanspruch, mehr Prävention und einem höheren Strafmaß, das "zügig nach der Wahl kommen muss". In den rund fünf Monaten, die noch verstreichen dürften bis zum Amtsantritt einer neue Regierung, werden nach den Zahlen von 2023 weitere 150 Frauen von ihren Partnern umgebracht worden sein.
Gerade Baden-Württemberg muss ganz besonders auf den Bund hoffen. Denn der Nachholbedarf ist weiterhin enorm. Noch in den Achtzigern, als anderswo zumindest die Notwendigkeit von Frauenhäusern anerkannt war, wurde im Landtag oder im Stuttgarter Gemeinderat beim Thema häusliche Gewalt problematisiert, ob Ehemänner nicht doch in den eigenen vier Wänden eigene Rechte hätten. Weil Haushaltsberatungen traditionell vor Weihnachten stattfinden, forderten Grüne und SPD in diesen Wochen immer wieder mehr finanzielle Anstrengungen. Als Biggi Bender (Grüne), die erste Frau im Vorsitz einer Landtagsfraktion, ob der Pro-Kopf-Ausgaben für Frauenhäuser von umgerechnet 50 Cent 1997 "ausdrücklich" die Herren anspricht, "denn wir sind in einem Landesparlament, in dem zu 84 Prozent Männer sitzen," und verlangt, den Folgekosten von Männergewalt endlich den gebührenden Stellenwert einzuräumen, löst sie bei CDU-Volksvertretern peinliche Zwischenrufe aus, manche mit der Güte von "Ihre Rede ist auch ein Stück Gewalt!".
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