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Gewalt gegen Frauen

Das Patriarchat schlägt zurück

Gewalt gegen Frauen: Das Patriarchat schlägt zurück
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In Deutschland wird fast jeden Tag eine Frau von ihrem Partner getötet. Trotzdem ist häusliche Gewalt ein Nischenthema. Die in den nächsten zwei Jahren zusätzlich vorgesehenen fünf Millionen Euro für Schutzeinrichtungen, zu zahlen aus der Landeskasse, ändern daran wenig.

Draußen zeigt der Winter, was er kann, mit einem ersten heftigen Schneegestöber. Der Stuttgarter Weihnachtsmarkt wird aufgebaut, Kinder hüpfen in der Vorfreunde auf die Fahrt mit dem Riesenrad. Für manche Familien beginnt jetzt die gefährlichste Zeit des Jahres. Drinnen, im Haus der Abgeordneten am Schlossplatz, diskutieren Fachleute über häusliche Gewalt. Die SPD-Fraktion hat zum Gespräch geladen. Und es ist, wie es immer ist: Ausgewiesene Expertinnen und einige wenige Experten nehmen sich der Materie an, bestärken sich gegenseitig, um nicht zu verzweifeln.

Die Gastgeberin, die Tübinger Landtagsabgeordnete Dorothea Kliche-Behnke, ist vor eineinhalb Jahren mit einem Gesetz zur Förderung der Frauen- und Kinderschutzhäuser an der grün-schwarzen Mehrheit im Landtag gescheitert, ebenso mit ihrer Idee für eine schon lange überfällige Verstetigung der Finanzierung. Wie notwendig die seit Jahrzehnten ist, dokumentiert ausgerechnet der Plan des vorerst letzten Mannes an der Spitze des Bundesfamilienministeriums Heiner Geißler (CDU). Der hatte in den 1980er-Jahren nach Vorarbeit durch die sozialliberale Regierung von Helmut Schmidt eine Regelmitfinanzierung der Träger von Frauenhäusern durch den Bund erwogen, konnte aber den Widerstand in seiner eigenen Partei sowie aus Ländern und Kommunen nicht überwinden, obwohl der Druck schon damals groß war.

Heute steigt er immer weiter an, auch wegen Corona. Natalie Gehringer, Doktorandin am Freiburger Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, schildert im Fraktionssaal der SPD, was es für betroffene Frauen und Kinder in der Pandemie bedeutete, in schwierigen Verhältnissen auf engstem Raum mit dem Gewalttäter zusammenleben. Notrufe waren infolge der permanenten Kontrolle durch solche Partner nicht möglich, Lehrkräfte konnten während der monatelangen Schulschließungen blaue Flecken oder blutunterlaufene Augen als Warnsignale nicht wahrnehmen. Kleine Lichtblicke: Hilfsmaßnahmen, online und per Telefon, konnten über Monate getestet und angepasst werden. Gerade in ländlichen Räumen sind derartige Angebote wichtig, weiß Gehringer, außerdem ist die Hemmschwelle im Vergleich zu dem persönlichen Kontakt in einer Beratungsstelle niedriger. "Und bei Präventionsveranstaltungen ist das Publikum im Netz viel größer", berichtet die Wissenschaftlerin.

Frauenfeinde sind auf dem Vormarsch

Aber längst nicht groß genug, schon gar nicht, um sich dem aufdrehenden gesellschaftlichen Wind entgegenzustellen. Influencerinnen promoten ihre Idealbilder von "Tradwives" nach der längst überholt erachteten Logik "Papa denkt, Mama kocht", der Mann sei der Verdiener, die Frau füge sich. Längst hat die "Alternative für Deutschland" (AfD) den Trend erkannt und weiß ihn zu nutzen. Schon im Sommer 2023 sorgte eine nicht repräsentative Online-Umfrage für Aufregung, weil ein Drittel der Männer angab, Frauen Respekt per Handgreiflichkeiten einzuflößen. Davor aber warnt Markus Söder (CSU) nicht, sondern vor der "düsteren Woke-Wolke", Manuel Hagel (CDU) vor dem "Gender-Zwang".

Ruth Weckenmann wiederum, die frühere Stuttgarter SPD-Landtagsabgeordnete, legt in dem Fachgespräch den Fokus auf den Machteinfluss AfD nicht nur in migrations-, sondern auch in gesellschaftspolitischen Fragen. Er nehme zu, weil die konservativen Parteien "Sprache und Positionen übernehmen und die Ablehnung von Frauenrechten größer wird". Mitfinanziert vom Bundesfamilienministerium fand Ende Oktober eine Tagung zum Thema Antifeminismus statt, weil der laut Einladung "dazu beiträgt, rechtsextreme und vielfaltsfeindliche Einstellungen zu normalisieren, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schwächen und die Demokratie zu untergraben".

Genau das findet beispielsweise in den USA statt, wo mit Donald Trump ein verurteilte Sexualstraftäter zum Präsidenten gewählt wird, in Polen unter den PiS-Regierungen, in Italien durch die Postfaschistin Georgia Meloni, in Ungarn ohnehin. "Die Ideologie, die die Gleichwertigkeit der Geschlechter ablehnt, greift um sich", warnt Katrin Lehmann, die beim Paritätischen für Krisenintervention und Existenzsicherung, Jugend und Bildung zuständig ist. "Wir dachten, dass wir schon weiter sind, aber das Patriarchat schlägt zurück." Das Netz, ChatGPT und Künstliche Intelligenz zementieren die neuen alten Stereotype, die Hemmschwelle gegenüber Gewalt sinkt.

In der realen Welt könnten die demokratischen Parteien dagegenhalten. "Wir werden das Recht auf Schutz vor Gewalt für jede Frau und ihre Kinder absichern und einen bundeseinheitlichen Rechtsrahmen für eine verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern sicherstellen", heißt es im Koalitionsvertrag der dahingeschiedenen Berliner Ampel aus SPD, Grünen und FDP. Ein Gewalthilfegesetz hatte sie noch erarbeitet, wonach bis 2030 ein Rechtsanspruch auf Schutz realisiert werden sollte. Rund 275 Millionen Euro pro Jahr sollten dafür bereitgestellt werden – so viel wollte Ex-Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) aber dafür nicht hergeben. Mit dem Scheitern der Regierung kam Bewegung in den Gesetzgebungsprozess, Lindners provisorischer Nachfolger Jörg Kukies (SPD) kann sich vorstellen, Geld locker zu machen.

Parteien taktieren lieber

Der inzwischen nurmehr rot-grünen Bundesregierung fehlt aber bekanntlich eine Mehrheit im Bundestag. Und die Union steht zwar ausweislich eines eigenen Antrags hinter dem Anliegen, will die Hand aber nicht reichen, weil wie so oft in diesen Wochen Parteitaktik Vorfahrt hat. Silvia Breher, Vize von Parteichef Friedrich Merz, könnte angesichts der jahrzehntelangen Versäumnisse auch der Union eine zügige Kooperation anbieten. Stattdessen ruft sie nach einer Gesamtstrategie gegen Partnerschaftsgewalt mit einem Schutzanspruch, mehr Prävention und einem höheren Strafmaß, das "zügig nach der Wahl kommen muss". In den rund fünf Monaten, die noch verstreichen dürften bis zum Amtsantritt einer neue Regierung, werden nach den Zahlen von 2023 weitere 150 Frauen von ihren Partnern umgebracht worden sein.

Gerade Baden-Württemberg muss ganz besonders auf den Bund hoffen. Denn der Nachholbedarf ist weiterhin enorm. Noch in den Achtzigern, als anderswo zumindest die Notwendigkeit von Frauenhäusern anerkannt war, wurde im Landtag oder im Stuttgarter Gemeinderat beim Thema häusliche Gewalt problematisiert, ob Ehemänner nicht doch in den eigenen vier Wänden eigene Rechte hätten. Weil Haushaltsberatungen traditionell vor Weihnachten stattfinden, forderten Grüne und SPD in diesen Wochen immer wieder mehr finanzielle Anstrengungen. Als Biggi Bender (Grüne), die erste Frau im Vorsitz einer Landtagsfraktion, ob der Pro-Kopf-Ausgaben für Frauenhäuser von umgerechnet 50 Cent 1997 "ausdrücklich" die Herren anspricht, "denn wir sind in einem Landesparlament, in dem zu 84 Prozent Männer sitzen," und verlangt, den Folgekosten von Männergewalt endlich den gebührenden Stellenwert einzuräumen, löst sie bei CDU-Volksvertretern peinliche Zwischenrufe aus, manche mit der Güte von "Ihre Rede ist auch ein Stück Gewalt!".

Wochenends und feiertags durchgehend geöffnet. Foto: Joachim E. Röttgers

"Hoffentlich auch abschreckend" – die vier Gewaltambulanzen im Land

Vor einem Jahr hat die Gewaltambulanz im Klinikum Stuttgart ihre Arbeit aufgenommen. Die Staatssekretärin im Sozialministerium Ute Leidig (Grüne) zieht eine "positive Bilanz". Die Wortwahl ist zumindest merkwürdig angesichts der Tatsache, dass mehr als 300 Betroffene seitdem Hilfe, Unterstützung und Schutz suchen mussten nach sexuellem Missbrauch, sexuellen Übergriffen oder Nötigungen "bis hin zu Vergewaltigungen". Wie in den einschlägigen Einrichtungen in Heidelberg, Freiburg und Ulm geht es daneben auch um die gerichtsfeste Beweissicherung, ohne sofort Strafanzeige stellen zu müssen. Kostenlos werden Spuren in Körpersekreten und anderen Stoffen aufbewahrt und Verletzungen detailliert dokumentiert. Erstattet ein Opfer nachträglich Strafanzeige bei der Polizei, können die Spuren im Strafverfahren ausgewertet werden. Aus Landesmitteln fließt eine Förderung von rund einer Million Euro pro Jahr an die vier Ambulanzen. "Gerade Menschen, die Gewalt erfahren haben, brauchen schnelle und niederschwellige Hilfe", sagt Jan Steffen Jürgensen, der Vorstand des Klinikums. Hilfesuchende fänden in Stuttgart alles unter einem Dach. Das verhelfe ihnen zu ihrem Recht "und wirkt damit hoffentlich auch abschreckend auf potenzielle Täter".  (jhw)

Erst seit 2011, seit dem Machtwechsel zum Kabinett Kretschmann I, werden Mittel ernsthaft aufgestockt. Zu einer Regelfinanzierung durch das Land konnten sich allerdings selbst Grün-Rot und erst recht nicht Grün-Schwarz nicht durchringen. Vielmehr machte Ute Leidig (Grüne), Staatssekretärin im zuständigen Sozialministerium (das nicht mal die "Frauen" im Namensschild führt), Versprechungen zulasten Dritter. Um die unwürdige Ablehnung des SPD-Gesetzentwurfs vor eineinhalb Jahren zu verteidigen, verwies sie auf die Ankündigung der Bundesregierung, ab 2025 die Finanzierung der Frauenhäuser neu zu regeln und ein Gewalthilfegesetz vorzulegen. "Diese Regelung ist notwendig", so die Karlsruher Abgeordnete damals, "denn es braucht eine gesellschaftliche Verpflichtung zum Gewaltschutz auf allen Ebenen." Dass dieses Gesetz – siehe oben – mit allergrößter Wahrscheinlichkeit gar nicht mehr kommen wird, müsste jetzt zu Reaktionen führen.

Abermals jedoch verstreicht eine Gelegenheit. Wieder laufen Haushaltsberatungen. Statt endlich zu liefern, werfen ausgerechnet grüne Abgeordnete Nebelkerzen. Denn Leidig verkündet Mitte November einerseits, dass das Land die Landkreise Böblingen und Rottweil dabei unterstützt, "neue, barrierefreie Schutzplätze für bis zu 28 Frauen und ihre Kinder einzurichten". Sie verschleiert aber, dass diese Förderung bereits läuft und sich über die Haushaltsjahre 2024 bis 2027 zieht. Stefanie Seemann, die frauenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Landtag, verkündet am vergangenen Wochenende, dass im gegenwärtig beratenen Doppelhaushalt 2025/2026 fünf Millionen zusätzlich vorgesehen sind, um "auf die dramatische Situation in den Frauenhäusern" zu reagieren. Sie macht aber nicht deutlich, dass Teile dieser Gelder bereits in Böblingen und Rottweil verplant sind.

Kosten: 54 Milliarden Euro pro Jahr

Ohnehin sind solche Summen nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein, sondern sie wären, würde ausreichend in Prävention und Hilfe gesteckt, locker zu refinanzieren. Tabea Konrad vom Vorstand des Landesverbands "Frauen* gegen Gewalt e.V." hat zum SPD-Fachgespräch Zahlen mitgebracht. Die gesellschaftlichen Folgekosten von häuslicher und sexualisierter Gewalt (u.a. durch medizinische Behandlung, Krankheitstage, Polizeieinsätze, Justiz) liegen für ganz Deutschland bei rund 54 Milliarden Euro pro Jahr, also 148 Millionen am Tag republikweit und – den Königsteiner Verteilschlüssel unter den Länder angewandt – bei rund 19 Millionen pro Tag in Baden-Württemberg.

Überlegungen, wie an dieses Geld durch kluge politische Entscheidungen mittelfristig ranzukommen ist, gibt es keine. Frauenhaus-Vereine oder auch der Landesfrauenrat werden im Kreis geschickt auf der Suche nach einer zumindest etwas auskömmlicheren Finanzierung ihrer Arbeit. Ute Mackenstaedt, die Vorsitzende des Landesfrauenrats, berichtet, wie die Regierungsfraktionen auf die Kommunen und Kreise verweisen, weil die doch so viel Geld bekämen vom Land, die Kommunen und Kreise aber zurück aufs Land verweisen, weil dieses sie mit immer neuen Aufgaben überhäufe.

Den Teufelskreis durchbrechen müssen Entscheider, die Väter unter den Politikern zum Beispiel, die in jeder Rede, nicht nur sonntags, das hohe Lied auf die Familie singen. Anstoß könnten die auch 2024 unvermeidlichen Kurzmeldung über angestiegenen Fallzahlen sein. "Ich fühle mich schon gar nicht mehr so weihnachtlich", schreibt die feministische Bloggerin Inken Behrmann, "aber meine Mutter sammelt zum Nikolaus immer unsere Wunschzettel ein. Am liebsten würde ich draufschreiben, dass ich keine Angst mehr davor haben will, dass meine Schwester, ich oder eine meiner Freundinnen mal in einer gewalttätigen Beziehung landet. Aber da bitte ich schon wieder die Falsche – eine Frau. Dieses Jahr ist es Zeit, mir etwas von den Männern in meinem Umfeld zu wünschen: dass sie mit ihren Freunden über Gewalt gegen Frauen* sprechen und die Männergewalt zu einem Männerthema machen." Was für ein frommer Wunsch ans Christkind.

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