In der jedoch regierten die Grünen zusammen mit den Sozialdemokraten und dem großen Versprechen von einem substanziellen Neuanfang ("Der Wechsel beginnt"). Kretschmann zog in die Villa Reitzenstein ein und mit ihm das Ziel, der Bürgerschaft auf Augenhöhe zu begegnen. Also hätte er alles daran setzen müssen, die dunklen Aktenecken auszuleuchten.
Zwar war der grüne MP Projektbefürworter:innen aus der SPD in die Falle gegangen und hatte sich mit dem Sozialdemokraten Peter Friedrich als Minister im Staatsministerium einen Aufpasser im eigenen Haus zur Seite stellen lassen. Auch die neue graue Eminenz in der Villa Reitzenstein, der Amtschef Peter Murawski, hatte sich nicht eben als Stuttgart-21-Kritiker und vor allem -Kenner hervorgetan. Aber Kretschmann wusste wie viele andere führende Grüne seit Jahren um die diversen Defizite des Tiefbahnhofs – und wusste deshalb sicher, wo er hätte suchen lassen können.
Frühere Akteneinsicht hätte Aus für S 21 sein können
Statt aber nachzubohren und nach Wegen zu suchen, wie wirklich für das Publikum Transparenz herzustellen war auf dem Weg zum vereinbarten Volksentscheid, kritisierte er lieber Parteifreunde wie Landesverkehrsminister Winfried Hermann oder den Stuttgarter Bürgermeister Werner Wölfle, die gelegentlich Widerworte riskierten. Auf diese Weise kam es zu einer eklatanten Schieflage. So durfte in der Informationsbroschüre zu Volksabstimmung 2011 die Pro-S-21-Seite ungehindert und aus heutiger Sicht wider besseres Wissen davon fabulieren, "dass S 21 den Stresstest bestanden hat und damit als leistungsfähiger Bahnknoten bestätigt worden ist". Außerdem sei das Milliardenprojekt "im Kostenrahmen".
Dass dies nicht der Fall war, wussten selbst hartnäckige Projektfreunde damals schon längst – was zu ahnen war, was aber die jetzt vorgelegten Papiere in bemerkenswerter Deutlichkeit zeigen. Unter Punkt 2 "Taktisch" steht in der vertraulichen Notiz vom 10. November 2010 zur organisierten Camouflage der realen Problemlage ganz Anderes zu lesen: "Verbesserungen wären dann – jedenfalls in der politischen Darstellung – nicht einem Defizit des Konzepts geschuldet, sondern einem Kompromiss zur Herstellung von Akzeptanz." Ähnlich manipulativen Charakter hat der Gedanke, dass auf diese Weise auch "Projektgegner in eine Mitverantwortung für Kostensteigerungen genommen werden könnten".
Wären die Akten schon frühzeitig öffentlich gemacht worden, hätte dies also nicht nur Ermittlungen gegen Mappus nach sich ziehen können, sondern unter Umständen auch den weiteren Gang des Projekts S 21 beeinflussen können, bis hin zu seinem möglichen Aus. Aber schon in diesen ersten Wochen nach dem Machtwechsel 2011 zeigte sich, dass Kretschmann im Zusammenhalten einer von ihm geführten Landesregierung sein oberstes, weil staatspolitisch wichtigstes Ziel sieht – und das bis heute.
Ex-Richter Reicherter spricht von Zeugenkomplott
Für diese Haltung steht, wie hartnäckig Staatsministerium und Bahn sich gegen die Herausgabe entscheidender Akten wehrten. Dabei hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg schon 2017 dem Ansinnen auf Veröffentlichung (AZ 10 S 436/15) zugestimmt. Gerade erst ein Jahr in der Koalition mit der CDU, konnten die Grünen aber den absehbaren Ärger nicht brauchen. Also zog die Landesregierung vors Bundesverwaltungsgericht, das wiederum den EuGH um eine Einschätzung bat.
Um deren Auslegung bemühen sich jetzt die Jurist:innen rund um Kretschmann. Auf die Kontext-Anfrage, warum die Einsicht erst jetzt erfolgen durfte, heißt es in einer ersten Antwort: "Aufgrund des langen Zeitlaufs hat das Staatsministerium eigeninitiativ angeboten, Akteneinsicht zu gewähren." Eine gerichtliche Verpflichtung dazu habe nicht bestanden. Verpflichtet allerdings wären Spitzengrüne damals im Sommer und im Herbst 2011 gewesen, sich vor der Volksabstimmung nicht hinter der Einstufung wichtiger Dokumente als "vertraulich" oder "interne Mitteilung" zu verstecken. Beispielsweise ging ein Konvolut solcher Papiere noch vor der Landtagswahl 2011 an die CDU-Fraktion im Landtag. Von vertraulich und intern, argumentiert Dieter Reicherter seit Jahren, könne also keine Rede sein.
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Ulrich Völker
am 20.08.2022Nachdem…