Für Jürgen Trittin ist er ein Radikal-Realo, für seine Grünen ist Winfried Kretschmann wieder einmal Retter in der Not: Der Regierungschef muss beim Parteitag am vergangenen Wochenende in Tuttlingen nicht nur die Distanz zwischen Podium und Delegiertenreihen überwinden, zwischen Anzug samt Krawatte und Pullover, zwischen Älter und Jünger, sondern vor allem zu vielen, die seinen neuen Asylkurs bisher nicht akzeptieren mochten. Die Entscheidung im Bundesrat spiele der Argumentation des konservativen Lagers in die Hände, wollte die Grünen Jugend dem regierenden Parteifreund ins Stammbuch schreiben: "Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass wir dieser Linie folgen." Vier Fünftel der rund 230 Basisvertreter stützen dagegen die Position des Ministerpräsidenten, die den für Roma und Sinti alles andere als sicheren Westbalkan genau dazu erklärt. Kompromisse verlangen könnten nur die, die selber kompromissbereit seien, erläutert er noch einmal den Schwenk. Und er sagt noch einen Satz, gleich zu Beginn seiner Rede: "Ich will mich vor euch rechtfertigen." Nicht "ich muss", sondern "ich will". Viel zu selten, beklagt ein Delegierter, sei diese Haltung anzutreffen "nicht nur in der Politik, sondern überall im Leben".
Dass der 66-Jährige eine seltene Erscheinung ist im Politikbetrieb, ist oft beschrieben. Im langen Schatten von Strahlkraft und Ansehen reifte aber nur wenig andere Substanz heran. Zwar hat die grün-rote Koalition entgegen all der überzogenen Kritik von CDU und FDP das Land bisher alles in allem ordentlich regiert und viele ihrer Vorhaben umgesetzt oder in Angriff genommen: an den Hochschulen und im Schwarzwald, im Straßenbau und in der energetischen Sanierung, sogar in der Finanzpolitik. Aber die Schwungräder brauchen Antrieb. Die ausdrücklich zum Arbeitsparteitag erklärte Versammlung in Tuttlingen hätte den dringend nötigen Input bringen können. Stattdessen wird gleich mehrfach die abgedroschene Botschaft verkündet, Erfolge müssten endlich nur besser verkauft werden. Was zwar nicht falsch, aber kein Ersatz für neue Vorstellungen, Entwürfe und Ideen ist.
Statt gesellschaftspolitischer Analysen gefällige PR
Kompensiert werden sollen Leerstellen mit der Konzentration auf die Wirtschaftspolitik. (Auch weil Erfolge in Sachen Asyl für nicht wahlkampftauglich gehalten werden.) Abgesehen davon, dass damit Nils Schmid und seiner SPD ein Thema streitig gemacht wird – entgegen der klugen Losung, beide Koalitionspartner sollten jeweils auf ihren Weiden grasen –, verirren sich die grünen Strategen auch noch in der komplexen Materie. "Heimat, Hightech, Highspeed" sind Kretschmanns Schlagworte, als hätte er Lothar Späth seine Regierungserklärung schreiben lassen. Statt gesellschaftspolitischer Analysen gefällige PR: "Intelligent wachsen, grenzenlos daheim, sicher und selbstbestimmt leben, und eine starke Wirtschaft – das sind unsere Ziele." Bedenken gegen radikale Eingriffe in die Privatsphäre kommen nicht mehr vor, Risiken werden kleingeredet, der Landesvorstand präsentiert eilfertig einen zehnseitigen Leitantrag, der Baden-Württemberg "zum Top-Standort für Informations- und Kommunikationstechnologie entwickeln will".
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Ingwer
am 15.11.2014