KONTEXT:Wochenzeitung
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Zum 20-Jährigen der NRWZ

"Nicht nur zur Dachluke rausschauen"

Zum 20-Jährigen der NRWZ: "Nicht nur zur Dachluke rausschauen"
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Die "Neue Rottweiler Zeitung" feiert Geburtstag. Gegründet 2004, weil die Lokalpresse den Landkreis nicht mehr bediente, ist sie eine der ersten Widerständigen gegen die Pressekonzentration hierzulande. Am Samstag wurde die NRWZ 20. Kontext-Mitgründer Josef-Otto Freudenreich hielt die Laudatio.

Die AfD hatte am vergangenen Mittwoch, dem 29. Januar, ihren historischen Tag. Es war der Tag, an dem eine rechtsradikale Partei hoffähig wurde. Ermöglicht vom Vorsitzenden der CDU, Kanzlerkandidat Friedrich Merz, der keine Scham hatte, seine sogenannte Asyl-Wende mit Hilfe der AfD durch den Bundestag zu bringen. Die Brandmauer war gefallen. Der Berliner "Tagesspiegel" schrieb: "Laut heraus gebrüllte Häme bei der AfD, tiefe Verzweiflung bei SPD, Grünen und Linken."

Was das im Einzelnen bedeutet, diese "Verschärfung der Migrationspolitik", zu der man auch "Festung Europa" sagen kann, soll hier nicht das Thema sein. Erwähnt sei nur, dass es auch der Tag des Holocaust-Gedenkens im Bundestag war, der Befreiung von Auschwitz vor 80 Jahren – durch die Rote Armee, was gerne vergessen wird. Damals waren es deutsche und europäische Juden, die an fremden Grenzen abgewiesen wurden. Was hätte ein Recht auf Asyl für sie bedeutet?

Dieser Vorspann musste sein, weil er für unser Thema wichtig ist. Für die Demokratie, ihre Verteidigung, ihren Erhalt und ihre Zukunft. Also für alles, was Weidel und Höcke bekämpfen.

Konstitutiv für die Demokratie, so heißt es, sei eine freie Presse, unterlegt durch Artikel 5 des Grundgesetzes: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Eine Zensur findet nicht statt." Immer wieder taucht auch der Begriff "Vierte Gewalt" auf, der impliziert, dass die Presse staatliches Handeln nicht nur begleiten, sondern auch kontrollieren soll. Nicht zu vergessen den Auftrag, an der Willens- und Meinungsbildung der Bevölkerung mitzuwirken.

Boulevard und Banalität prägen das Bild

Gestatten Sie mir eine kleine Geschichte aus dem Reich der Südwestdeutschen Medienholding (SWMH), zu der unter anderen die "Süddeutsche Zeitung", die Stuttgarter Blätter, die "Rheinpfalz" – und der "Schwarzwälder Bote" gehören. Ich rede hier vom zweitgrößten Tageszeitungskonzern in Deutschland.

In den vergangenen Wochen haben die Kolleginnen und Kollegen der beiden mittlerweile zusammengelegten Stuttgarter Zeitungen immer wieder gestreikt. Zurzeit sind sie beim insgesamt 19. Streiktag angelangt. Warum sie das tun, lesen sie in der "Stuttgarter Zeitung" und den "Stuttgarter Nachrichten" nicht. Zum einen setzen sie sich für Kolleginnen und Kollegen ein, die in tariflosen Gesellschaften arbeiten, zum andern haben sie wieder einmal eine Sparrunde vor Augen, die Dutzende von Arbeitsplätzen kosten wird. Ich nehme an, dass Ihnen diese Geschichten bekannt vorkommen. Beim "Schwarzwälder Boten" gab es einst den längsten Streik in der deutschen Mediengeschichte. Mehr als 100 Tage.

In zehn Jahren habe er vier Entlassungswellen erlebt, berichtet der Betriebsratsvorsitzende in Stuttgart, und jedes Mal mit der Begründung, das müsse sein, damit das Unternehmen zukunftssicher aufgestellt sei. Selbstverständlich weiterhin mit Qualitätsjournalismus, der allerdings in vielerlei Hinsicht neu definiert, sprich den Bedürfnissen des modernen Menschen angepasst werden müsse. Dass diese Bedürfnisse häufig in der Bauchgegend angesiedelt werden, wird niemandem entgehen, der diese Zeitungen liest. Boulevard und Banalität prägen das Bild.

Das Entlassen von Personal erscheint den Eigentümern dieser Produkte als einzige Möglichkeit ihrer Existenzsicherung, die wiederum auf der Basis veralteter Annahmen beruht. Die Lizenz der Alliierten zum Zeitungsdruck war eine Lizenz zum Gelddrucken, die Profitrate exorbitant – bis zur Jahrtausendwende, bis das Internet so weit gediehen war, dass es zum bevorzugten Platz für die Anzeigen wurde und die sogenannten sozialen Medien zur Gratisbörse für Information und Unterhaltung aufstiegen.

Bei Ihnen hier in Rottweil konnten Sie diesen Prozess realiter beobachten. Ich meine damit nicht den Umfang des anschwellenden Vermögens, sondern die Sicherung desselben. Soll heißen: Die Schließung des "Schwarzwälder Volksfreund" 2004, der Lokalausgabe der "Schwäbischen Zeitung" – bei der ich einst volontiert habe, wie der NRWZ-Herausgeber Peter Arnegger. Aber das nur nebenbei.

Gilt das Credo der Aufklärung nur für die anderen?

Heute würde man den Vorgang, der einer Nacht- und Nebelaktion glich, als Gebietsbereinigung nach Gutsherrenart bezeichnen, tat der "Schwarzwälder Bote" in Trossingen doch dasselbe mit seinem Lokalblatt, also Laden dicht, und zack waren beide Verlage an diesen Orten etwas, was Kapitalisten immer sein wollen: Sie waren Monopolisten. Was ihre Kundschaft anbelangt, blieben sie wortkarg, sie durfte über die Gründe rätseln und sich fragen, ob das Credo der Aufklärung, das bürgerliche Zeitungen gerne vor sich hertragen, nur gilt, wenn es um andere geht.

In Rottweil war das nicht so geräuschlos zu erledigen. Es gab Unterschriftenlisten und eine Demonstration, und ich habe einem NRWZ-Interview mit dem langjährigen Stadtarchivar Winfried Hecht entnommen, dass dafür ein "hoher Intellektualisierungsgrad" der Stadt verantwortlich war. Die Bürgerinnen und Bürger empfänden Meinungsvielfalt als wertvoll, sagte er, sie wollten nicht nur zur Dachluke rausschauen, sondern durch mehrere Fenster.

Das war sehr schön formuliert, und lässt erahnen, worauf ihr Protest gründet. Auf ein ordentliches Selbstbewusstsein. Auf Bürgerstolz in der ältesten Stadt Baden-Württembergs. Ganz nebenbei, das ist mir bei der Vorbereitung auf diese Rede auch noch aufgefallen: Ein Foto Ihres Oberbürgermeisters Christian Ruf, der in seinem Amtszimmer sitzt, neben ihm ein Hund namens Archilles. Die Überschrift lautet: "Rottweil protestiert gegen Rottweiler-Verbot". Adressat ist der Kanton Zürich, der eine Anschaffung dieser Rasse untersagt, weil sie ein "erhöhtes Gefährdungspotenzial" darstelle. Ruf kontert und sagt, der Rottweiler sei "wachsam, stark und unerschrocken". Womöglich hat er das symbolisch gemeint. Auch für seine Stadtgesellschaft.

Tatsache ist, dass dieser Menschenschlag widerborstig ist, dass er einen Verein gegründet hat und der wiederum eine Zeitung, die "Neue Rottweiler Zeitung" hieß, und die es heute noch gibt. Zur Überraschung aller. Seit mehr als 20 Jahren. Unter den Gratulanten sind viele ehrbare Menschen, Heckler & Koch aus dem benachbarten Oberndorf und Ruja Ignatova, die Kryptoqueen aus Schramberg, sind nicht dabei. Chapeau!

Die beste Mitarbeiterin ist die dpa

Einen dicken Glückwunsch meinerseits! Auch an den Kollegen Martin Himmelheber, der für die Nicht-Gratulanten verantwortlich ist. Glauben Sie mir, ich weiß, was es heißt, ein solches Projekt auf die Welt zu bringen. Und es in ihr zu halten. Wir haben 1982 die "Karlsruher Rundschau" gegründet, als Gegenstück zu den "Badischen Neuesten Nachrichten", und waren nach zwei Jahren pleite. 2011 kam Kontext, als Gegenstück zu den Stuttgarter Blättern, und wir waren nach einem Jahr – fast – pleite.

Gerettet haben uns die Leserinnen und Leser, die die Notwendigkeit einer zweiten Stimme erkannt haben. Es war die Hochzeit der Proteste gegen Stuttgart 21. Zehntausende sind damals auf die Straße gegangen und mussten zuhause lesen, dass sie irregeleitet, Zukunftsverweigerer waren, weil sie nicht kapiert haben, wie man dagegen sein konnte, in einem Zug von Paris nach Bratislava zu fahren.

Ich erzähle Ihnen das auch, weil Sie mit einer Spätfolge von Stuttgart 21 zu kämpfen haben: mit der Abkopplung der Gäubahn. Sie passt so wunderbar ins Bild dieses Immobilienprojekts, das bisher alles bestätigt hat, was seine Kritiker kritisiert haben. Ich kann Ihnen nur raten, wachsam zu bleiben.

Wenn Uniformität zur Blattlinie aller wird, hilft es wenig, wenn Verleger und Politik gemeinsam das hohe Lied der Vielfalt singen. In Baden-Württemberg wird es besonders gerne angestimmt, vorneweg von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), weil es hier noch 17 sogenannte publizistische Einheiten gibt. Und dann schauen Sie mal rein in diese Zeitungen. Die präsenteste Mitarbeiterin ist die dpa, dahinter rangieren die Berichte der eingekauften Netzwerke aus Berlin und der Bürogemeinschaften in Stuttgart.

Ausgerechnet Lokaljournalismus verschwindet

Und das Lokale? Die Grundlage journalistischen Schaffens? Die womöglich letzte Existenzsicherung der Tageszeitungen, weil die Informationen über den Nahbereich der Nachbarschaft nicht frei flottierend zur Verfügung stehen? Das unverzichtbare Medium der Demokratie?

Auch darum ist es nicht gut bestellt. Ich zitiere einen entscheidenden Satz aus einer aktuellen Studie der Otto-Brenner-Stiftung: "Weil die Verlage wirtschaftlich immer weiter unter Druck geraten, dünnen sie ihre Redaktionen aus, mit der Folge, dass die Berichterstattung leidet. Dadurch werden sie für viele Abonnent*innen uninteressanter, Werbeanzeigen und Abonnements gehen zurück, die Zeitung steht wirtschaftlich noch schlechter da, sie dünnt die Redaktion noch weiter aus – bis sie schließlich aufgeben muss". Es ist ein Teufelskreis des Sparens.

Eine Folge sind leere Pressebänke in den Rathäusern, Vereinen, Theatern, Firmen, eine Flut von PR-Meldungen, und damit verbunden der Verlust der Gatekeeper-Funktion, die ureigenes journalistisches Geschäft ist, sprich das Wachen über Anstand, Normen und Werte, Standards und Regeln.

Wie sehr das auf den Nägeln brennt, hat uns ein Brandbrief von fünf Landräten aus der Metropolregion Stuttgart gezeigt, die den Pressekonzern SWMH aufgefordert haben, ihrem Auftrag der seriösen Unterrichtung der Bürgerinnen und Bürger nachzukommen. Man könne ja mal darüber sprechen, lautete die Rückmeldung, aber – sie wissen schon, der Kostendruck. Ausgesandte des Verlags boten dann eine Lösung an, einen Newsletter zu fertigen, der von den Gemeinden finanziert wird. Nicht eines der vielen SWMH-Blättern hat darüber berichtet.

Und damit erzeugen sie Verdruss, wo sie Vertrauen schaffen sollten. Stattdessen leisten sie der Entwicklung Vorschub, dass ihr Publikum auf Kanäle ausweicht, die öffentliche Kommunikation in die eigenen Hände nimmt, und damit die Gesellschaft weiter fragmentiert. Kein Wunder, dass die Auflagen der Zeitungen mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit in den Keller rauschen. In den Verlagen herrscht derweil große Ratlosigkeit, die durch den verstärkten Verkauf von rabattierten Abonnements, Weinflaschen und Reisen nicht kompensiert werden kann.

Getragen von Leserinnen und Lesern

Eine Perspektive bieten die Lückenspringer. All die alternativen Projekte, die in den zurückliegenden Jahren entstanden und angetreten sind, die Leerstellen zu füllen. "Correctiv" ist das bekannteste unter ihnen, hervorgetreten durch das Veröffentlichen der "Remigrations"-Pläne der AfD. Dazu gehören "Reporter ohne Grenzen", das "Netzwerk Recherche", die "Krautreporter", die "Riffreporter", aus Meck-Pomm "Katapult", aus Baden-Württemberg "Seemoz" und "Kontext" – und natürlich die "Neue Rottweiler Zeitung". Mit ihren 20 Jahren darf sie sich zu den Pionieren zählen.

Gemeinsam ist ihnen, dass sie von ihren Leserinnen und Lesern getragen werden und nicht von renditegetriebenen Privatpersonen, die ihr Geld in Cent und Euro verzinst sehen wollen. Die Alternative ist unabhängiger Journalismus.

Und wer weiß, vielleicht ist es auch bald in Oberschwaben soweit? Dort fährt die "Schwäbische Zeitung" (SchwäZ), das Monopolblatt für "Christliche Kultur und Politik", einen AfD-nahen Kurs, der selbst leidensfähige LeserInnen über Gebühr strapaziert, und dem Gedanken nahebringt, eine Alternative aus der Taufe zu heben. Einen ersten Schritt ist die frühere Leiterin der SchwäZ in Lindau gegangen. Sie hat das gemeinnützige Online-Nachrichtenmagazin "Kolumna" gestartet, 657 zahlende AbonnentInnen hat sie schon.

Nun sind die tapferen Gründerinnen und Gründer nicht so verwegen, zu glauben, sie könnten die Altmedien ersetzen. Einfach so. Getragen von der Freude am Job, von der Freiheit bei der Arbeit, vom Engagement für einen Journalismus, der den Anspruch verwirklicht, konstitutiv für eine demokratische Gesellschaft zu sein. Das reicht nicht. Die Kolleginnen und Kollegen von der NRWZ werden mir das bestätigen können. Ohne überzeugte Leserinnen und Leser ist alles nichts.

Wir haben seit geraumer Zeit einen Mitarbeiter, der auch zu Ihren Gratulanten gehört. Maxim Flößer. Er hat eine Masterarbeit geschrieben, die sich mit der Frage beschäftigt, ob es einen Einfluss auf die Stimmenanteile der AfD hat, wenn es vor Ort keine Lokalzeitung gibt. Ja, hat es, im Durchschnitt wird dort 1,6 Prozent mehr AfD gewählt. So hat er es für die Landtagswahlen 2021 in Baden-Württemberg ermittelt.

Warum das so ist, erklärt der Sozialwissenschaftler so: Ein "präsenter Lokaljournalismus" fördert das politische Wissen, verbindet die Menschen, fördert den Zusammenhalt, und befähigt sie, politische und ökonomische Prozesse auf ihre Korrektheit hin zu beurteilen. Sie verstehen, wie Demokratie funktioniert. AfD-Wähler eher weniger. Vor diesem Hintergrund sei es um so schlimmer, folgert Flößer, wenn die Verlage ihre Redaktionen weiter ausdünnten oder gleich zuschlössen. (In Parenthese: Seit 2005 sind in den USA 2.000 Zeitungen eingestellt worden. Donald Trump ist zum zweiten Mal Präsident).

Inzwischen ist die AfD dazu übergegangen, sich medial auf eigenen Kanälen zu bewegen. Besonders erfolgreich ist sie bei TikTok, wo sie an der digitalen Spitze steht, auf ihren analogen Wegen kapert sie seit neuem Anzeigenblätter, die sie ungeniert als PR-Plattform nutzt.

Wir, also Kontext, sind seit Jahresbeginn auch Verleger von zwei Anzeigenblättern. Vom "Blättle Stuttgart West" und vom "Blättle Stuttgart Süd". Gesamtauflage 42.000. Wir haben sie gekauft, ganz im Sinne von Maxim Flößer, der seine Studie "Bläddle gegen Rechtspopulismus" genannt hat. Eine Anzeige der AfD werden Sie darin nicht finden, aber mehr als drei Seiten zur Bundestagswahl, an deren Endes steht, am wichtigsten sei, dass vor allem eine siege: die Demokratie.

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