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Streik im Stuttgarter Pressehaus

"Wir gehen aufrecht hier raus"

Streik im Stuttgarter Pressehaus: "Wir gehen aufrecht hier raus"
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Im Stuttgarter Pressehaus wird gestreikt und viele gehen hin. Befeuert von Managern, die mit allem brechen, was einst halbwegs heilig war. Aber sie haben die Rechnung ohne den Betriebsratschef gemacht. Ein Blick ins Innere einer Zeitung, die aufgehört hat, eine Zeitung zu sein.

Am Ende seiner Rede steht der Saal. Minutenlanger Beifall für einen Betriebsratsvorsitzenden, der eigentlich ein ganz ruhiger Typ ist, promovierter Theologe, konsensual veranlagt. Diesmal hat er aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht, erzählen im Streik Geübte später draußen. "Wenn jemand die Regeln des Anstands verletzt", hören sie Michael Trauthig sagen, "dann macht das etwas mit mir". Enttäuschung, Empörung, Erschöpfung. Wut über die Respektlosigkeit. Mehr als hundert Streikende im DGB-Haus, schätzt Verdi, hören fasziniert zu, erkennen sich in den Erzählungen wieder. Unter ihnen viele junge. Was ist passiert?

Der 61-jährige Politikredakteur hat nichts anderes getan, betonen die Verdianer, als zu erzählen, wie es ihm in den vergangenen Tagen ergangen ist. Wie ihm die andere Seite, das Management des Stuttgarter Pressehauses, vorgegaukelt habe, die Hand ausstrecken zu wollen, und nichts anderes im Sinn gehabt hätte als seine Interessen durchzudrücken. Raus mit den Gewerkschaften, weg mit Tarifen, rein in ein betriebliches Bündnis, das nur noch Individualverträge kennt. Aber nicht mit ihm, nicht mit ihnen.

Das ist Balsam auf die wunden Seelen, die zurückliegenden Vorweihnachtstage waren schwer zu ertragen.

Am Montag, den 16. Dezember, um 13.11 Uhr, erreicht eine Mail die Belegschaft, die es so noch nie gegeben habe, sagen Langgediente. Sie nennen es wechselweise einen Kultur- oder Tabubruch oder eine Kriegserklärung. Die Post kommt von der Geschäftsführung und der Chefredaktion. Als "Bündnis für die Zeitungsgruppe Stuttgart" zeigen sie sich über den Betriebsrat "zutiefst befremdet". Der rufe zu Streiks auf, obwohl er die wirtschaftliche Lage kenne ("Print bricht weiter ein. Das Anzeigengeschäft ist prekär"), und der Betriebsrat habe die Gespräche mit dem Arbeitgeber "abrupt beendet", anstatt mit ihnen über neue Vergütungsgrundsätze zu verhandeln. Man könnte meinen, das Pressehaus in der Plieninger Straße 150 stünde kurz vor der Pleite.

Zehn Zeilen über den Streik

13 Streiktage haben die Beschäftigten hinter sich – ohne auch nur eine irgendwie geartete Reaktion ihrer Arbeitgeber erhalten zu haben. Von einer anständigen Berichterstattung darüber in den eigenen Blättern ganz zu schweigen. Zehn Zeilen unten rechts, in denen man sich für die "Unannehmlichkeiten" entschuldigt. Der Anlass: Die Streikenden wollen die Zeitungsgruppe Stuttgart (ZGS) im Tarif haben, um zu beenden, dass es weiterhin Menschen erster und zweiter Klasse unter einem Dach gibt. Insoweit ist es auch ein Solidaritätsstreik der Premiumklasse, also derer, die noch tarifgebundene Altverträge bei der "Stuttgarter Zeitung" und den "Stuttgarter Nachrichten" haben. Bei der ZGS, die knapp die Hälfte der 350-köpfigen Belegschaft stellt, wird individuell verhandelt. Laut Betriebsrat fällt das Jahresgehalt der ZGSler:innen im Schnitt um rund 7.000 Euro geringer aus, wenn man die längere Arbeitszeit, den kürzeren Urlaub und die schlechtere Altersversorgung einbezieht.

Am Dienstag, den 17. Dezember, um 10 Uhr, ist "Open House". So heißt die morgendliche Konferenz mittlerweile. Normalerweise beginnt sie mit der Verkündung der Klickzahlen. "Wilbär", der verstorbene Liebling aller Wilhelma-Fans, war zuletzt unangefochtener Spitzenreiter bei den Zugriffszahlen, was sofortige Wiederholungsforderungen der Chefredaktion nach sich zog. Glücklicherweise folgten die Koalabären. Rund 200 Angestellte sind zugeschaltet.

An diesem Tag spricht zuerst Michael Trauthig. Laut Protokoll nennt er die Mail ein "schlimmes Dokument". Schlimm nicht nur wegen des Bruchs der Redaktionskultur, schlimmer noch wegen der offensichtlichen Ignoranz des Arbeitsrechts. Ein Blick ins Betriebsverfassungsgesetz und ins Tarifrecht hätte genügt, sagt Trauthig, um zu kapieren, dass der Betriebsrat weder zum Streik aufrufen, noch über Gehälter, Urlaubsansprüche, geschweige denn Tarifbindungen verhandeln könne.

Trauthig empfiehlt den wortkargen Führungskräften, sie mögen doch mal den Paragraf 77 Betriebsverfassungsgesetzes studieren und dann feststellen, dass dafür die Gewerkschaften zuständig sind. Ausweislich der oben angeführten Mail wollen sie mit denen aber nicht reden. Sie hätten nicht die "nötige Flexibilität", um die Schritte mitgehen zu können, die ein "attraktiver Arbeitgeber" gehen müsse, steht da geschrieben. In der Runde erhebt sich die Frage, ob die Chefetage eigentlich wisse, wer für sie in welchem Fall der Ansprechpartner sei?

Mit Gewerkschaften sprechen? Auf keinen Fall!

Was ist das? Unvermögen, Unkenntnis oder Chuzpe? In diesem Fall wohl von allem etwas. Als erstes wirft das "Bündnis", das aus den Chefredakteuren Joachim Dorfs, Christoph Reisinger, Johanna Bruckner, dem geschäftsführenden Redakteur Holger Gayer und dem Geschäftsführer Herbert Dachs besteht, alles über Bord, was diese Zeitung in ihrem Innenleben einst ausgemacht hat: eine gewisse Noblesse im Umgang miteinander, ein gewisses Vertrauen untereinander. Das Pflicht-Duzen macht das nicht wett. Heute bringt es Dachs fertig, dem Betriebsrat im großen Mailverteiler zu unterstellen, das Gespräch zu verweigern, obwohl sich Trauthig häufig mit ihm austauscht. Vom Angebot der Journalistengewerkschaften dju und djv, mit ihm zu reden, eingereicht am 13. Dezember, verrät Dachs nichts.

Der zweite Bruch liegt in der Geschichtslosigkeit des leitenden Personals. Selbst Wirtschaftsliberale, seien es die ehemaligen Chefredakteure Thomas Löffelholz und Uwe Vorkötter oder Geschäftsführer Jürgen Dannenmann gewesen, hätten die staatstragende Funktion der Gewerkschaften nie in Frage gestellt. Heute fordern Hardliner wie Dachs und Gayer explizit Verhandlungen ohne die Gewerkschaften – im Auftrag der Verleger, versteht sich, die ihre Profite schwinden sehen.

Das kommt nicht von ungefähr: Keines der digitalen Geschäftsmodelle hat bisher nach Wunsch funktioniert, nur der analogen Weinhandel, den Gayer mit seiner "Württembergischen Weinmeisterschaft" zu einer Dauerwerbesendung in der "Stuttgarter Zeitung" entwickelt hat. In dieser Lage, klagt das Management, sei ein Tarifvertrag für die ZGS "nicht darstellbar".

Der dritte Bruch spiegelt sich in der Spaltung der Redaktion wider. Hier geht es nicht nur um die Jungen in der ZGS und die Alten bei den StZN, viel mehr um den tiefen Graben zwischen Oben und Unten. Die Beletage hat sich in ihrer Parallelwelt eingerichtet, findet prinzipiell alles großartig, was ihr einfällt oder von Transformationsaposteln eingeflüstert wird. Die gedruckte Zeitung liegt schon auf der Resterampe, obwohl sie immer noch 85 Prozent des Umsatzes bringt, das Zauberwort heißt Künstliche Intelligenz (KI) und verspricht Wunderbares: "KI Sophi" kann bereits ganze Seiten erstellen, mit noch kleinen Macken, aber verbunden mit großen Ängsten. Sie sollen sich schon mal Gedanken machen, was sie in zwei Monaten zu tun gedenken, hören Mediengestalter:innen und Editor:innen in der Redaktion, die für das Redigieren der Texte zuständig sind. Bis zu 40 Arbeitsplätze, befürchtet der Betriebsrat, stünden hier zur Disposition.

Der vierte Bruch ist ein kommunikativer. Das notorische Duzen hilft nicht weiter, wenn das Verhältnis zur Wahrheit taktischer Natur, die innere Emigration längst vollzogen ist. Wenn ständig von Wertschätzung die Rede ist, weil "ihr für exzellenten Lokaljournalismus" brennt, wenn die Chefredaktion bei der Weihnachtsfeier behauptet, sie sei stolz auf ihre tapfere Truppe und gerade mal ein paar Hände voll kommen, wenn sie gemeinsam mit dem Betriebsrat eine zukunftsfähige Lösung anstreben wollen – "in Eurem Sinne" – dann ist das Lachen bitter.

Und jetzt brauchen die Chefs noch Unterchefs

Und als wär's noch nicht genug, hält die Chefredaktion eine weitere Überraschung bereit. Sie braucht weitere Führungspersonen. Gesucht werden sechs "Managing Editors", die zwischen Chefredaktion und Editor:innen sitzen, die Thementeams anleiten, und die StZN zur "zukunftsgewandten Stimme" der Stadt machen. Damit seien sie eine Entlastung für die Topkräfte, heißt es, und das wiederum bedeutet nichts anderes als die Rückkehr zum Prinzip der Ressortchef:innen, dessen Abschaffung vor drei Jahren als revolutionäre Tat verkauft wurde.

Sei's drum, Geschwätz von gestern, aktuell drohen Dorfs & Co. mit einer großen Digitaloffensive, die direkt auf den Bauch der Userinnen und User zielt. Die neuen Führungsfiguren (für die offensichtlich Geld vorhanden ist, aber das nur nebenbei) sollen "multimediale Erlebniswelten rund um unsere Top Audiences" aufbauen. Mit der Haus- und Hofberichterstattung rund um Daimler und Porsche klappt das schon ganz gut, mit Uwe Bogens Streifzügen durch die mystische Welt der Stars und Sternchen und Holger Gayers nutzerzentrierten Weinverkostungen noch besser.

Hilfreich wird auch die Eingrenzung des Versuchsfelds sein. Die Rede ist nicht mehr von der führenden Regionalzeitung, die auch im Kanzleramt gelesen wird, jetzt lautet die Losung: Wir bieten "exzellenten, modern erzählten Lokaljournalismus". Verkündet wird sie von der neuen Digitalchefin Johanna Bruckner, die nahe an der Lebenswirklichkeit ihrer Kundschaft sein und sie "inspirieren" will. Assistiert wird die gebürtige Filderstädterin von Joachim Dorfs ("Vergesst Print"), der zusammen mit ihr neuerdings für das Digitalgeschäft verantwortlich ist.

Das ist die nächste Rolle rückwärts nach dem Rückzug aus dem Lokalen. Aber auch darüber, berichten Gewerkschafter:innen, habe sich im DGB-Saal niemand gewundert. Sie hätten Verdi-Sekretär Uwe Kreft viel Beifall gespendet für seine Ermunterung, nicht nachzulassen, ihren Weg "konsequent weiter" zu gehen, bis Weihnachten weiter zu streiken. Zum Helden des Tages hätten sie Michael Trauthig gemacht nach dem Satz: "Wir können in den Spiegel schauen, wir gehen hier aufrecht raus."

Treu geblieben ist sich das Pressehaus beim Einhalten seines Prinzips der kommunikativen Zurückhaltung. Beim Beantworten von Presseanfragen. Ein Sprecher lässt Kontext wissen, dass alle strukturellen Maßnahmen in der Redaktion nur mit dem Ziel durchgeführt würden, den "wichtigen Prozess der Digitalisierung" weiter voranzutreiben und damit ihren Regional- und Lokaljournalismus "zukunftssicher aufzustellen". Und was das interne Kommunizieren anbelange, möchte er mitteilen, dass sie entgegen anderslautenden Informationen "durchaus in Gesprächen mit dem Betriebsrat stehen". Das stimmt. Am Freitag, den 13. Dezember, war Trauthig noch bei Dachs, um nach Lösungen zu suchen. Drei Tage danach kam die brachiale Mail.

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14 Kommentare verfügbar

  • Henriette Schaf
    vor 3 Wochen
    Antworten
    Der Niedergang wird sich nicht mehr aufhalten lassen - es passt einfach nichts mehr zusammen. Man ist weit davon entfernt, sowas wie "The Voice of Baden-Württemberg" zu sein, die überregional wahrgenommen wird und setzt auf eine dümmliche Lokalveranstaltungshype (nur nicht ein einziges Wort gegen…
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