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Druckerei Pressehaus Stuttgart

Die Zukunft endet am 1. April

Druckerei Pressehaus Stuttgart: Die Zukunft endet am 1. April
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Vor 20 Jahren als Wunderwerk gefeiert, jetzt beerdigt. Zu teuer, zu ineffizient, sagt das Stuttgarter Pressehaus und hat sein Druckzentrum stillgelegt. Einer, der sich damit nicht abfinden will, ist Samir Alicic, der Betriebsratsvorsitzende. Er kämpft einfach weiter.

Wie die Zeit vergeht. Am 30. Juni 2003 feiert das Pressehaus Stuttgart seine neue Druckerei. Es sei ein "technisches Wunderwerk", heißt es in der 24-seitigen Beilage zum Festakt, das modernste seiner Zeit, wobei nicht ganz klar wird, ob in Europa oder auf der Welt. Länger als ein Jumbo-Jet (83 Meter), so schwer wie 90 Lokomotiven (1.750 Tonnen), 17 Meter hoch und 100 Millionen Euro teuer. Damit habe die "Zukunft des Druckens" begonnen, verspricht die Titelzeile. Es war die Zeit des ungebrochenen Glaubens an die Papierzeitung. Für die Mitarbeiter:innen hat es damals sogar eine rote Wurst gegeben.

In den Grußworten schließen sich prominente Menschen diesen Einschätzungen an. Walter Döring, einst Wirtschaftsminister von der FDP, erkennt eine "große Zukunft" für die Zeitungen, Jürgen Fritz (CDU), Vorsitzender der Region Stuttgart, sagt, niemand befürchte mehr einen "Niedergang der Zeitungen" zugunsten des Internets, und Wolfgang Schuster, OB der Landeshauptstadt von der CDU, preist das "unternehmerische Geschick" der Zeitungsgruppe. Darunter entbietet die Wochenzeitung "Sonntag Aktuell" halbseitig einen herzlichen Glückwunsch zur "Investition in die Zukunft". Ihre Redaktion wird sechs Jahre später geschlossen. Ein wunderlicher Chefredakteur der "Stuttgarter Nachrichten" namens Grote wirft ihr "weinerlichen" Journalismus vor.

In der Nacht des 1. April 2023 ist die Zukunft vorbei. Das technische Wunderwerk spuckt die letzte "Stuttgarter Zeitung" aus. Die Geschäftsleitung spendiert ein paar Kästen Bier. Die Drucker haben feuchte Augen, der Dienstälteste ist seit 44 Jahren im Betrieb. Die zuständige Führungskraft, Johannes Degen, sagt, die Maschinen seien "nicht mehr effizient" zu betreiben. Energie, Papier, Zustellung – alles teurer geworden. Ab sofort wird in Esslingen bei der dortigen Zeitung gedruckt, die dem Pressehaus gehört und technisch mit 18 Millionen Euro aufgerüstet wurde. Auf die Anfrage von Kontext, wie es am Stammsitz an der Plieninger Straße 150 weitergehe, kommt keine Antwort.

An der Wand hängt Tito. Lange gefackelt wird nicht

Samir Alicic, der Betriebsratsvorsitzende, wollte an dem "Leichenschmaus" nicht teilnehmen. Zu schmerzhaft. Er erinnert sich an die 90er-Jahre, als sie samstags immer neben der Rotation gekocht haben, Rostbraten mit handgeschabten Spätzle und einem Zuschuss des Geschäftsführers Jürgen Dannenmann in Höhe von zwei Mark pro Person. Später, als die Renditen geringer und die Zeiten rauer wurden, traf man sich eher vor dem Arbeitsgericht. Alicic hat mal nachgezählt: Von 2005, als er Betriebsratschef wurde, bis heute waren es 495 Verfahren.

Bei ihm werde nicht lange gefackelt, sagt der 56-Jährige, woran kein Zweifel besteht, wenn man sein Büro als Beweis für seine Tatkraft heranzieht. Im hintersten Eck der einst modernsten Druckerei in Europa oder der Welt ist er untergebracht, ein bunkerartiger Raum ohne Fenster, aber mit Tito, Bob Marley und St. Pauli-Wimpel an der Wand. Es ist das einzige Büro im ganzen Pressehaus-Komplex, in dem noch geraucht wird, ausgiebig genutzt vom Marlboro-Mann aus Bosnien, der die Führungskräfte zwar mit ihrem Doktortitel anredet, so sie einen haben, sonst aber die Ehrfurcht vermissen lässt. Richard Rebmann, der frühere CEO, ist "Richy Rich", Christian Wegner, der amtierende, der "Parship-Typ", der nur von Datingportalen etwas versteht.

Im Augenblick schwankt der ehemalige Handballer zwischen Wehmut und Zorn. Das Druckzentrum ist sein Leben und Leiden in der Rotation. Beim Reinigen der Maschinen ist er vor Jahren abgestürzt, hat sich die linke Schulter mehrfach gebrochen, fünf Operationen überstanden. Seitdem ist er zu 60 Prozent schwerbehindert, aber immer da, eigentlich Tag und Nacht. Am Sonntagmorgen, dem Tag nach der letzten Nummer, geht er über den Parkplatz und sieht das Auto eines Kollegen, der final gedruckt hat. Er war wohl nicht mehr fahrtüchtig, vermutet Alicic, so lange sei es noch gar nicht her, dass er von Suhl nach Stuttgart gekommen ist. Aus dem Ostthüringischen ist er weg, weil seine Druckerei dichtgemacht hat, eine von denen, die zum Reich der Südwestdeutschen Medienholding gehörte.

Die letzte StZ geht mit 87.000 Stück vom Band

Was bleibt, ist eine riesige Maschine, die stündlich 42.500 Exemplare drucken konnte, seien es die beiden Stuttgarter Blätter, der "Kicker", das "Amtsblatt", die Beilagen von "Media Markt" und "Saturn" bis hin zum "L’Osservatore Romano", dem Hausorgan des Papstes. Damit habe man gut Geld verdient, betont Alicic, 50 Millionen Euro Eigenkapital angesammelt, andererseits dürfe aber auch nicht übersehen werden, dass die Auflagen dramatisch gesunken sind: Die letzte StZ-Samstagsausgabe ging in Möhringen mit 87.000 Stück vom Band, 2015 waren es noch 160.000, die StN notierten 40.000 gegenüber 78.000.

Beim Sparen helfen soll jetzt die "MHS Print", eine Tochter der Stuttgarter Zeitung Verlagsgesellschaft, die wiederum eine Tochter der Südwestdeutschen Medienholding (SWMH) ist. Sie ist raus aus der Tarifbindung, ohne Betriebsrat und garantiert die bisherigen Löhne nur für die nächsten drei Jahre. Danach, so Verdi, seien es 30 Prozent weniger. Die Tarifverträge mit der Gewerkschaft seien "nicht gleichermaßen wirtschaftlich für das Unternehmen und attraktiv für die Mitarbeitenden", befand die Geschäftsleitung, deren PR-Prosa, analog zur Firmenkultur, dringend einer Renovierung bedürfte. Entsprechend bescheiden fällt die Zahl der Wechsler aus: Von 60 Druckern gehen zwölf nach Esslingen. Der Rest hat es vorgezogen, die Abfindungen anzunehmen, die im Stuttgarter Pressehaus diesmal ungewöhnlich hoch sind. 187.000 Euro in der Spitze.

Das hat auch mit dem Dickschädel Alicic zu tun. Und mit Uwe Kreft, seinem Kompagnon bei Verdi. Beide sind unangenehme Verhandler, der Gewerkschaftssekretär gar literarisch beschlagen, wenn er Walter Jens ins Feld führt, der auf die "streikerfahrenen, zernarbten Erben Gutenbergs" setzt, im Kampf für eine bessere Welt. Das verweist auf die Geschichte der Drucker, die sich, im Gegensatz zur schreibenden Zunft, der Arbeiterklasse zugehörig fühlten und gerne auf die Straße gingen. Alicic sagt, bei ihm hätte es mindestens alle zwei Jahre sein müssen, weil die Manager nur diese Sprache verstünden. In der Tat gelten die Stuttgarter als Spitzenreiter beim Streiken, was ihren Argumenten eine gewisse Überzeugungskraft verleiht.

Und das soll einfach so weitergehen? Es könnte, wenn Alicic seinen Plan wahr macht: Der in der Möhringer Teppichetage bestgehasste Mann will keine Abfindung, er will nach Esslingen, und dafür klagt er auf Weiterbeschäftigung. Wenn es sein müsse, bis zum Europäischen Gerichtshof, sagt er. Allein der Gedanke, er könnte damit Erfolg haben, dürfte bei der Geschäftsleitung einen mittleren Herzkasper auslösen. Den Querulanten weiter ertragen, das Geld für das Arbeitsessen mit ihm in der Plieninger "Garbe" zum Fenster rausschmeißen, aus dem neunten Stock auf das Parkdeck starren, wo der Arbeiterführer die Faust reckt? Unerträglich. Und doch möglich, wenn er Recht bekommen sollte. Die "MHS Print", grinst der gebürtige Bosnier, "braucht dringend einen Betriebsrat".

Neues aus der Redaktion: Reisinger wird Doppelchef

Offenbar Dringendes musste auch im journalistischen Beritt der Stuttgarter Zeitungsgruppe erledigt werden. Ausweislich einer Pressemitteilung von vergangener Woche beschäftigt der Konzern ab sofort einen Doppelchefredakteur: Christoph Reisinger, Jahrgang 1962, Anführer der "Stuttgarter Nachrichten", übernimmt auch das Kommando beim "Schwarzwälder Boten", welchen die StN mit ihren Mantelgeschichten bestückt. Dies ermögliche eine "einheitliche redaktionelle Führung" bei den beiden Blättern, teilte Geschäftsführer Herbert Dachs mit, was der Idee einer flächendeckenden Einheitszeitung sicher Auftrieb verleihen wird. Inwieweit Reisinger ein "ausgewiesener Experte" ist, wie von Dachs behauptet, muss sich noch zeigen. In ersten Mails berichten Schwarzwälder Kolleg:innen, sie hätten den Oberstleutnant der Reserve höchstens einmal im Jahr zu Gesicht bekommen, zu wenig Zeit, um ihm zu erläutern, dass für sie der SC Freiburg wichtiger ist als der VfB. Beim nächsten Mal sollten sie vielleicht mit der ortsansässigen Waffenschmiede Heckler und Koch locken.

Untergegangen ist bei diesem Wechsel, wie das Auswechseln zustande kam. Der Amtsinhaber, Constantin Blaß, keine zwei Jahre in Oberndorf, wolle sich "neuen Herausforderungen widmen", ließ der Verlag wissen, und verriet natürlich nicht, dass diese Neuorientierung praktisch in der Mittagspause des Mittwochs, 29. März, geschehen sein musste. In der vormittäglichen Betriebsversammlung hatte er zu seiner Redaktion noch als Chefredakteur gesprochen, gar Verständnis für eine Gehaltserhöhung gezeigt, nachmittags war er keiner mehr. "Völlig überrascht" seien sie gewesen, sagt der Betriebsratsvorsitzende Christoph Holbein, für einen Rausschmiss habe es "keinerlei Anzeichen" gegeben, sie seien auf einem "guten Weg" gewesen.

Offenbar hat das Schwabo-Geschäftsführer Carsten Huber anders gesehen. Er gilt als Erbsenzähler, unbefleckt von jeglicher publizistischen Phantasie, und als langer Arm von Verleger Richard Rebmann, der grauen Eminenz im Haus. Beide haben mit Journalismus nichts am Hut, beide eint der Tunnelblick auf die Bilanz. Mit einem Chefredakteur weniger ist wieder einmal gespart.


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4 Kommentare verfügbar

  • Kilgore Trout
    am 09.04.2023
    Antworten
    Danke für diesen minutiös recherchierten Artikel, dessen Wortwitz und Präzision uns mundeten und zum tröstlichen Kichern brachten, trotz des ernsten Sujets. Wir drücken Herrn Alicic sehr die Daumen und assoziieren mit dem Namen des Autors künftig: Nomen est Omen, denn das Lesen war reich an Freude…
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