Wie die Zeit vergeht. Am 30. Juni 2003 feiert das Pressehaus Stuttgart seine neue Druckerei. Es sei ein "technisches Wunderwerk", heißt es in der 24-seitigen Beilage zum Festakt, das modernste seiner Zeit, wobei nicht ganz klar wird, ob in Europa oder auf der Welt. Länger als ein Jumbo-Jet (83 Meter), so schwer wie 90 Lokomotiven (1.750 Tonnen), 17 Meter hoch und 100 Millionen Euro teuer. Damit habe die "Zukunft des Druckens" begonnen, verspricht die Titelzeile. Es war die Zeit des ungebrochenen Glaubens an die Papierzeitung. Für die Mitarbeiter:innen hat es damals sogar eine rote Wurst gegeben.
In den Grußworten schließen sich prominente Menschen diesen Einschätzungen an. Walter Döring, einst Wirtschaftsminister von der FDP, erkennt eine "große Zukunft" für die Zeitungen, Jürgen Fritz (CDU), Vorsitzender der Region Stuttgart, sagt, niemand befürchte mehr einen "Niedergang der Zeitungen" zugunsten des Internets, und Wolfgang Schuster, OB der Landeshauptstadt von der CDU, preist das "unternehmerische Geschick" der Zeitungsgruppe. Darunter entbietet die Wochenzeitung "Sonntag Aktuell" halbseitig einen herzlichen Glückwunsch zur "Investition in die Zukunft". Ihre Redaktion wird sechs Jahre später geschlossen. Ein wunderlicher Chefredakteur der "Stuttgarter Nachrichten" namens Grote wirft ihr "weinerlichen" Journalismus vor.
In der Nacht des 1. April 2023 ist die Zukunft vorbei. Das technische Wunderwerk spuckt die letzte "Stuttgarter Zeitung" aus. Die Geschäftsleitung spendiert ein paar Kästen Bier. Die Drucker haben feuchte Augen, der Dienstälteste ist seit 44 Jahren im Betrieb. Die zuständige Führungskraft, Johannes Degen, sagt, die Maschinen seien "nicht mehr effizient" zu betreiben. Energie, Papier, Zustellung – alles teurer geworden. Ab sofort wird in Esslingen bei der dortigen Zeitung gedruckt, die dem Pressehaus gehört und technisch mit 18 Millionen Euro aufgerüstet wurde. Auf die Anfrage von Kontext, wie es am Stammsitz an der Plieninger Straße 150 weitergehe, kommt keine Antwort.
An der Wand hängt Tito. Lange gefackelt wird nicht
Samir Alicic, der Betriebsratsvorsitzende, wollte an dem "Leichenschmaus" nicht teilnehmen. Zu schmerzhaft. Er erinnert sich an die 90er-Jahre, als sie samstags immer neben der Rotation gekocht haben, Rostbraten mit handgeschabten Spätzle und einem Zuschuss des Geschäftsführers Jürgen Dannenmann in Höhe von zwei Mark pro Person. Später, als die Renditen geringer und die Zeiten rauer wurden, traf man sich eher vor dem Arbeitsgericht. Alicic hat mal nachgezählt: Von 2005, als er Betriebsratschef wurde, bis heute waren es 495 Verfahren.
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Kilgore Trout
am 09.04.2023