Weihnachten gab's noch Schokolade
Das komme einer Revolution gleich, glaubt die Chefredaktion, das sei einmalig in Deutschland. Abgekupfert in Amerika, halten Spötter dagegen. Ein "journalistischer Offenbarungseid", sagt eine Kollegin. Kurz vor Weihnachten haben sie von ihren Vorgesetzten noch eine Tafel Ritter Sport "Goldschatz" ins Homeoffice geschickt bekommen, verbunden mit dem Dank, dass viele Projekte "nur durch Ihren Einsatz" realisiert werden konnten. Für das neue Jahr wünsche man "viel Glück und Gesundheit".
Keinen Monat später, am 19. Januar 2022, sitzen dieselben Führungskräfte in einer Videokonferenz, um der Belegschaft ihre Hiobsbotschaft zu überbringen. Die Chefredakteure Joachim Dorfs ("Stuttgarter Zeitung"/StZ), Christoph Reisinger ("Stuttgarter Nachrichten"/StN), der Geschäftsführer der Medienholding Süd (MHS) Herbert Dachs, der designierte geschäftsführende Redakteur Holger Gayer und die Hoffnungsträgerin des Hauses, Swantje Dake, die das Digitale verantwortet. Mehr als 300 Personen sind zugeschaltet, Empörung, Wut, Tränen, Angst nehmen zu, je länger die Veranstaltung dauert.
Was der Betriebsrat als "Desaster", als "Plan ohne Verstand" und Mitarbeiter als "Massaker" geißeln, ist in der Tat ein Kahlschlag von nie dagewesenem Ausmaß: Jede/r Vierte soll gehen, macht 55 Stellen (davon 40 bei den StZN) und ein Einsparziel von 6,8 Millionen Euro. Die Ressortleiter müssen zurück ins Glied, weil sie nichts mehr zu leiten haben. Die Stadtteilzeitungen werden aufgelöst und ins Lokale integriert. Das macht eine Produktionslinie im Druckhaus entbehrlich und kostet voraussichtlich nochmals 20 Arbeitsplätze, die dahinter stehenden Familien nicht mitgerechnet. Sie hätten keine andere Wahl, behaupten Dorfs & Co., die Verleger ließen ihnen keine andere Chance. Sie zeigen sich zerknirscht.
Die Verleger wollen endlich Geld sehen
Man könnte jetzt sagen, für Dorfs böte sich eine Option bei der Industrie- und Handelskammer, wie es gerüchteweise hieß, aber das wäre nur eine individuelle Lösung. Strukturell ist sie schwierig, wie eine interne Dokumentation der Medienholding Süd (MHS), die zur Südwestdeutschen Medienholding (SWMH) gehört, belegt. Unter der Überschrift "Wirtschaftlicher Handlungsdruck" weist die MHS (StZ, StN, "Eßlinger Zeitung", "Böblinger Bote") miserable Daten aus: elf Prozent Umsatzrückgang, Einbruch der Werbeerlöse um 30 Prozent. Die digitalen Reichweiten rutschen, Schuld ist die "allgemeine News-Verdrossenheit", die Papierpreise steigen um 82 Prozent gegenüber dem Vorjahr, der Mindestlohn erhöht sich, die Kurzarbeit fällt weg, und zu allem Übel hat Springer auch noch seinen Druckauftrag für die Bildzeitung beim 2017 gekauften Eßlinger Bechtle-Verlag gekündigt. "Der Arsch geht auf Grundeis", fasst ein früherer Topmanager zusammen.
Alles drückt auf die Bilanzen der Gesellschafter, die offenbar keine Lust mehr haben, Jahr für Jahr auf ihre Dividenden zu verzichten. Viele von ihnen, insbesondere die kleineren, haben immer noch schwer zu schlucken am Kauf der "Süddeutschen Zeitung", die einst 750 Millionen Euro gekostet hat. Für 80 Prozent der Geschäftsanteile.
Jetzt stimmen sie einer Harakiri-Aktion zu, die ihre eigenen Ansprüche, zumindest in den Sonntagsreden, ad absurdum führt. Bildung, Orientierung, vierte Gewalt, ja wo sind sie denn? Stattdessen the same procedure as every year: Sparen, meist auf Kosten des Personals, das hinausbefördert oder, wie der Restbestand im Pressehaus, "kreuz und quer" durch die Redaktion versetzt wurde. Ohne Rücksicht auf Qualifikationen und persönliche Befindlichkeit, sagt ein Lokalredakteur, der es "aufgegeben" hat, die Spar- und Abfindungsrunden zu zählen. Jetzt wird es noch toller, jetzt wird direkt auf den Bauch gezielt. Das Stichwort lautet Leserbindung.
Die Digitalchefin ist die Gewinnerin
Reporter arbeiten in Teams, heißt es, die "nach Reichweiten- und Abozielen gesteuert werden". Das verheißt nichts Gutes beziehungsweise verschlimmert nur das Vorhandene. Wenn es im Bett nicht mehr klappt, der Schwertmord am Fasanenhof, das Rumpsteak grüßt, die Gehälter beim Daimler – das ist die "Fokussierung auf die wirklich relevanten Geschichten", die es zu optimieren gilt. Angeblich hat die Geschichte über die Verdienstmöglichkeiten beim Autobauer granatenmäßig gezündet, derart nachhaltig, dass sie zur Blaupause für die Thementeams wurde. Seitdem hört eines auf den Namen "Automobilwirtschaft". Da hält nur noch die Geschichte über "Frau Oberbürgermeisterin" Nopper mit, die einen eigenen Parkplatz am Rathaus will. Die ist durch die Decke gegangen.
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Emilia Landowski
am 17.02.2022