Die Freude über diese Strategie hat sich deshalb, insbesondere bei den geduzten Adressaten im Möhringer Pressehaus, in engen Grenzen gehalten. Der Konzernbetriebsrat, dem wenig Qualen fremd sind, zeigt sich "fassungslos" ob der Wegnerschen Pläne. Erst kürzlich sei doch der Eindruck erweckt worden, die neuerliche "Rotstift-Aktion" gehe weitgehend an der Redaktion vorbei. Die letzte (nur zeitlich gesehene) Sparwelle, sowohl bei den StZN als auch in München bei der Süddeutschen, war schließlich erst im vergangenen Jahr über sie hinweggeschwappt.
Und jetzt das. Ausgerechnet in einer Zeit, in der beide Stuttgarter Blätter stolz ihr 75-jähriges Bestehen feierten, solle eine Institution verschwinden, die das "kulturelle Gedächtnis der Redaktion pflegt und bewahrt". Rational nachvollziehbar ist das tatsächlich nicht.
Der Posten Archiv ist höchstens Portokasse
Ökonomisch bewertet ist der Posten Archiv höchstens Portokasse für die SWMH. Der größte deutsche Tageszeitungskonzern weist einen Umsatz von knapp einer Milliarde Euro und eine Beschäftigtenzahl von mehr als 5.000 aus. Zum Vergleich: Im Möhringer Keller sind von ursprünglich elf MitarbeiterInnen noch vier übriggeblieben, die ihre Kosten zudem in Teilen wieder einspielen. Etwa durch die Beteiligung an einem Sonderheft über "Stuttgart 1942", mit dem laut Betriebsrat ein Umsatz von 100.000 Euro erzielt worden ist. Nicht zu vergessen die Zahlungen der LeserInnen, die ein "hohes Interesse" an Geschichte zeigten, und mittels eines "großen historischen und aktuellen Fundus", so die "Stuttgarter Zeitung", "mit Wissen versorgt werden". Die SWMH kontert: "Die Schließung ist auch notwendig, weil die Erlöse der Abteilung ständig sinken."
Publizistisch gesehen ist die Schleifung des Archivs ein Kulturbruch, ein weiterer Offenbarungseid. Man traut sich ja kaum mehr, daran zu erinnern, dass die Gegenwart nicht versteht, wer Geschichte nicht mitdenkt, dass das genauso für die Orientierung gilt, die den Verlegern so wichtig erscheint in der unübersichtlichen Welt. Vielleicht kann man noch sagen, dass journalistische Arbeit ohne Archiv unmöglich ist, es sei denn, man hielte Wikipedia bereits für eine ausreichende Recherchequelle. Oder genügt schon das Angebot, das gewiss von der SWMH kommen wird: sucht elektronisch bei uns? Ihr Sprecher Martin Gritzbach sagt, dass andere Abteilungen die Leistungen des Archivs übernehmen würden, etwa die Beantwortung von Leseranfragen, die Text- und Bildrecherche, die Geltendmachung von Text- und Bildrechten. Auch dies erfolge aus "wirtschaftlichen Gründen", wie im Übrigen von anderen Medienhäusern "seit Jahren umgesetzt". Letzteres stimmt, macht es aber nicht besser.
Der Betriebsrat hat schon recht, wenn er darauf verweist, dass die "Güte unserer Publikationen" leidet, sollte das Archiv ohne Menschen gemacht werden, die vor Ort mitrecherchieren, in alten Folianten stöbern, historische Texte und Bilder beschaffen, oder einfach an den 120. Geburtstag des Verlegers und Philantropen Josef Eberle, geboren am 8. September 1901, erinnern. Das gilt zumindest generell, ist aber auch abhängig von der Bereitschaft, das Angebot zu nutzen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Zusammen 100 Jahre im Dienst des Pressehauses
Menschlich betrachtet ist die Attacke auf das Archiv ein Skandal, so abgedroschen es auch klingen mag. Hier stehen vier MitarbeiterInnen an der Wand, alle ausgebildete DokumentaristInnen, zwischen 50 und 61 Jahre alt, zusammen 100 Jahre im Dienst des Pressehauses – und jetzt vor der Reise nach Jerusalem. Gesagt wurde ihnen, dass eine beziehungsweise einer von ihnen bleiben dürfe, worauf sie überlegt haben, ob sie untereinander losen oder lieber würfeln sollten. Doch halt, das hat sich jetzt geklärt. Die Besetzung der Stallwächterstelle obliegt der StZN-Chefredaktion, womit gesagt werden könnte, dass das Archiv offiziell nicht geschlossen wird, wenn noch das Schild "Abteilung Dokumentation, Bild und Text" an der Türe hängt. Sprecher Gritzbach teilt mit, der Bestand werde bei der MHS und verfügbar bleiben.
Was nun tun? Sichtbaren Widerstand zu leisten ist schwer. Das "allgemeine Entsetzen" kommt derzeit fast nur von den Heimarbeitsplätzen der RedakteurInnen, der Betonklotz an der Plieninger Straße 150 ist nahezu leer. Die Forderungen des Betriebsrats treffen per Mail ein: auf die Schließung verzichten, Alternativen prüfen und den KollegInnen eine Weiterbeschäftigung ermöglichen. Auf die Einsicht geschichtsbewusster Manager zu hoffen, dürfte vergeblich sein, da scheint öffentliches Interesse hilfreicher zu sein. Gegenüber Kontext versichert der SWMH-Sprecher, man werde den "Einsatz in anderen Abteilungen" erörtern oder nach "sozialverträglichen Lösungen" suchen.
Vielleicht hilft auch noch ein Merksatz für die Klugen: "Leider gibt es Verlagsmanager (und auch Chefredaktionen), die nicht nur an den Ästen sägen, sondern auch den Baum für einen dicken Ast halten". Geschrieben hat ihn Kurt Kister, der frühere Chefredakteur der "Süddeutschen Zeitung", die auch zum Reich der SWMH gehört.
2 Kommentare verfügbar
Achim Pilz
am 22.02.2021