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Stuttgart 21

Folgeschäden

Stuttgart 21: Folgeschäden
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Der Deutschen Bahn fehlt bundesweit viel Geld. Dennoch hoffen Gemeinden an der Gäubahn, dass ihre Forderungen schnell erledigt werden. Immerhin geht es um den Zugverkehr zwischen Zürich und Stuttgart und die Anbindung der südlichen Landesteile Baden-Württembergs mit zweieinhalb Millionen Einwohner:innen.

Guido Wolf, der CDU-Abgeordnete aus dem Wahlkreis Tuttlingen-Donaueschingen, kennt die unendliche Geschichte: Er hat sogar einmal mit dem einigermaßen absurden Alternativvorschlag einer S-Bahn von der Landeshauptstadt nach Singen am Hohentwiel und zurück aufwarten lassen. Mit dem Mega-Bahnprojekt Stuttgart 21 soll die Gäubahn gekappt werden. Auf den Fildern, genauer gesagt im baulich gar nicht dafür ausgelegten Halt in Stuttgart-Vaihingen, müssten die Fahrgäste dann in eine S-Bahn umsteigen, die sie zum Flieger oder zum Fernzug bringt. Weil aber die Strecke zwischen Vaihingen und Hauptbahnhof kommendes Jahr saniert werden soll, sind die Fahrgäste aus Tuttlingen für alles ab Vaihingen auf Ersatzbusse angewiesen.

"Man lässt die Fahrgäste im sprichwörtlichen Nichts stranden", empörte sich Wolf schon im Mai. Jetzt hat er einen Brief an Verkehrsminister Winfried Hermann geschrieben, jenen Grünen, den er als Abgeordneter im Landtag, als die CDU zwischen 2011 und 2016 in der Opposition war, massiv bekämpfte. Später dann, als die Grünen und die Schwarzen eine Koalition eingingen, saß Wolf für fünf Jahre als Justizminister gemeinsam mit Hermann am Kabinettstisch.

Es dämmert auch S-21-Fans

Wolfs Anliegen ist so kleinteilig wie viele der notwendigen Reparaturarbeiten, die Stuttgart 21 und der dazugehörige Tiefbahnhof auslöst, und doch von großer Bedeutung für Zehntausende Fahrgäste und die Anbindung an die Schweiz. Er wirbt in seinem Brief für die Zweigleisigkeit der Gäubahn zwischen Rietheim-Weilheim und Tuttlingen sowie von Sulz bis Epfendorf. Der Ausbau solle vorgezogen, ein stabileres Angebot sichergestellt werden. Denn gegenwärtig lassen die Eidgenoss:innen ihre Züge schon mal außerplanmäßig in Singen am Hohentwiel enden statt deutlich weiter im Norden, weil sie deutsche Verspätungen nicht ins eigene Schweizer System importieren wollen.

Wolf, der – fast vergessen – 2016 Ministerpräsident werden wollte, gehört damit auch zu jener Gruppe der S-21-Befürworter:innen, denen allmählich dämmert, an welchen Schwächen der überflüssigste aller Tiefbahnhöfe noch lange oder gar für immer laborieren wird. Auch deshalb durfte Wolf sich kürzlich direkt vom Verkehrsminister angesprochen fühlen, als der auf einen leicht zu belegenden Umstand hinwies: Noch nie habe sich einer der S-21-Fans eine Entschuldigung abringen können. Für die vielen falschen und längst widerlegten Behauptungen rund ums angebliche Jahrhundertprojekt. Für die vielen persönlichen Angriffe. Und dafür, dass sich alle Warnungen vor explodierenden Kosten ebenso bewahrheitet haben wie die Vorhersagen zu unvermeidlichen Nachbesserungen. Oder eben auch zu massiven Problemen für diejenigen, die auf die Gäubahn angewiesen sind, um den Stuttgarter Flughafen oder den Hauptbahnhof aus dem Süden Baden-Württembergs zu erreichen.

Erschwerend hinzu kommt der dringende Handlungsbedarf an vielen anderen Bahn-Baustellen in der ganzen Republik. Nur zur Erinnerung: Die Bahn wollte 40 Strecken bundesweit bis 2030 generalsanieren, hat diesen Zeitplan aber um mindestens sechs Jahre strecken müssen. Zum noch größeren Ganzen gehört, dass zwar der neue Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) sich in seinen ersten fünf Monaten vielleicht schon einen Überblick über Prioritäten verschaffen konnte, nicht aber der neue Bahnchef oder die -chefin: Noch ist dieser Posten unbesetzt. Dass sich anstehende Entscheidungen weiter verzögern statt beschleunigen, liegt auf der Hand. Und im Land konkurriert die Gäubahn mit anderen Engstellen: Wie bei einem Puzzle oder einem Mosaik fehlen zentrale Steine, und sie werden eher mehr als weniger.

Landesverkehrsminister Hermann kann sich jedenfalls nicht beschweren über zu wenig bahnbetreffenden Posteingang aus der CDU. Auch fünf Abgeordnete, darunter der Migrationsstaatssekretär Siegfried Lorek aus dem Wahlkreis Waiblingen, beklagen Ausfälle und Ausdünnungen, hier auf der Murrbahn, die das Stuttgarter S-Bahn-Netz mit Crailsheim im Nordosten des Landes verbindet. "Wir bitten Sie dringend, gemeinsam mit den beteiligten Verkehrsunternehmen kurzfristige und nachhaltige Maßnahmen zur Behebung dieser Probleme zu ergreifen", heißt es in dem Schreiben. Als hätte Adressat Hermann einen Zauberstab in seinem Ministerbüro versteckt oder wenigstens die eine oder andere einsetzbare Langgarnitur, also einen Zug, der so richtig viele Passagiere auf einmal aufnehmen kann.

Länder zahlen Bahnsanierung

Ebenfalls auf einen zweigleisigen Ausbau wartet seit etlichen Jahren die Strecke zwischen Backnang und Schwäbisch Hall-Hessental. Ab dem bevorstehenden Fahrplanwechsel könnte sie ein Nadelöhr der Sonderklasse werden. Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 reagiert auf einen Zeitungsbericht, wonach die DB ab 14. Dezember eine ICE-Sprinter-Verbindung von Stuttgart über Nürnberg nach Berlin einrichten will, mit deutlichen Worten: "Wegen einiger Fernreisender verschlechtert sie die Mobilität von vielen Fahrgästen in Regionalzügen und S-Bahnen spürbar", heißt es in einer ersten Analyse, in der minutenscharf dargelegt ist, wie der Fahrplan durch die neuen Sprinter-Pläne noch mehr aus dem Takt gerät als eh schon und wie S-Bahnen, Regionalzüge und ICEs sich in Stuttgart und darüber hinaus gegenseitig behindern.

Verkehrsminister Hermann kritisiert zudem, dass die Deutsche Bahn, wenn sie sich auf einträgliche Rennstrecken beschränkt und weniger nachgefragte Verbindungen streicht, Kosten auf die Länder abwälzt. Denn die Angebotslücken müssten mit schnellen Nahverkehrszügen geschlossen werden. Laut Grundgesetz sei aber der Bund verpflichtet, die Länder mit angemessenen Mitteln für den Schienenpersonennahverkehr auszustatten, denn es gehe nicht an, "dass wir Länder die finanzielle Sanierung der Deutschen Bahn bezahlen."

So gesehen müssten die wackeren Briefeschreiber der CDU weiter Briefe schreiben. An den Bundesverkehrsminister oder – noch besser – gleich an ihren Bundesvorsitzenden Friedrich Merz. Denn auch der Bundeskanzler hat seine Unterschrift unter einen Koalitionsvertrag mit der SPD gesetzt, in dem so weitreichende Sätze stehen wie: "Investitionen in das deutsche Schienennetz werden gesteigert." Und, Gäubahn-Anrainer aufgemerkt: "Das gilt für Haupt- und Nebenstrecken (…) gleichermaßen."

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