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Stuttgart 21

Gleis 4711

Stuttgart 21: Gleis 4711
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Die Bahn will den Abstellbahnhof Untertürkheim nicht wie geplant an den neuen, unterirdischen Stuttgarter Hauptbahnhof anbinden. Das erscheint nebensächlich. Aber ein Bahnhof funktioniert nicht ohne die zuverlässige Bereitstellung von Zügen.

Seit 18 Jahren sind die Pläne für den Abstellbahnhof in Untertürkheim genehmigt. Er soll mit Inbetriebnahme des Tiefbahnhofs Stuttgart 21 den bestehenden Abstellbahnhof am Hauptbahnhof ersetzen. Denn dort, wo er sich aktuell befindet, auf der sogenannten Gleisharfe, soll das Rosensteinquartier hin: das zentrale Versprechen, weshalb es sich gelohnt haben soll, mehr als zehn Milliarden Euro zu investieren, um einen gut funktionierenden Kopfbahnhof in ein unterirdisches Nadelöhr zu verwandeln.

Man könnte nun meinen, 18 Jahre müssten genügen, um diese Pläne umzusetzen, sodass die Züge, die ab Ende 2026 im Untergrundbahnhof starten sollen, auch von Untertürkheim aus bereitgestellt werden können. Doch weit gefehlt. Zwar soll der Abstellbahnhof bis dahin fertig sein. Die Anbindung von Süden, unter dem Neckar und dem Stuttgarter Osten hindurch, ist ebenfalls schon weit gediehen. Aber die für die Nord-Anbindung vorgesehenen zwei Gleise nach Bad Cannstatt will die Bahn nicht wie geplant bauen.

"Es ist zutreffend", bestätigt das Landesverkehrsministerium auf Anfrage von Kontext, "dass die planfestgestellte, leistungsfähige Anbindung zwischen Bad Cannstatt und dem Abstellbahnhof Untertürkheim zur Inbetriebnahme von Stuttgart 21 nicht zur Verfügung stehen wird." Die Bahn habe im Oktober 2021 mitgeteilt, "dass diese neue Verbindung nicht wie geplant umgesetzt werden könne und ein Planänderungsverfahren eingeleitet werden müsse. Dies ist seither aber noch nicht erfolgt."

Plötzlich Eidechsen?

Warum ist das so? Warum will die Projektgesellschaft der Bahn diese Verbindung nicht herstellen? Eine Änderung des Planfeststellungsbeschlusses sei erforderlich, antwortet ein Projektsprecher auf Anfrage reichlich vage: "Die Änderungen betreffen insbesondere Themen des Artenschutzes." Weil 18 Jahre nach der Genehmigung unvorhersehbar Eidechsen aufgekreuzt sind?

Die geplanten neuen Gleise sollten über bestehendes Schienengelände führen. Gleichwohl bleibt dafür nicht viel Platz, denn zuerst ist die Interregiorampe und -kurve im Weg, dann die Schusterbahn. Die geplante Verbindung sollte daher unter der eingleisigen Interregiorampe hindurchgeführt werden. Tatsächlich sind dort, wo die Rampe die notwendige Höhe erreicht hat, zwei kastenartige Durchlässe zu sehen. Auf der anderen Seite aber ist nichts, nur ein Schotterbett. Hier müssten nun eigentlich die zwei Gleise wieder herauskommen und an Höhe gewinnen, um die dortige Schusterbahn zu überqueren.

Vom Bahn-Ausbesserungswerk zum Motorenwerk

Auf einer Insel zwischen den Zug- und S-Bahngleisen, nahe der Haltestelle Neckarpark steht heute das Mercedes-Benz-Motorenwerk Cannstatt. Bis 1989 befand sich hier ein Bahn-Ausbesserungswerk. Im Westen schließt sich das Neubaugebiet Neckarpark an, der ehemalige Güterbahnhof Cannstatt. Zum Mercedes-Werk gehört auch das kreisrunde Parkhaus im Zwickel zwischen der Bahnlinie ins Remstal, der Schusterbahn und den S-Bahngleisen.  (dh)

Ein "Ringverkehr", also der Anschluss des Tiefbahnhofs an den Abstellbahnhof in beide Richtungen, sei "zentraler Bestandteil des Betriebskonzepts und der Planrechtfertigung von Stuttgart 21", heißt es wiederholt in den Planunterlagen. "Zur Inbetriebnahme von Stuttgart 21 im Dezember 2026 wird ein Ringverkehr für Abstell- und Bereitstellungsfahrten von und zum Abstellbahnhof sichergestellt", beteuert aktuell auch der Projektsprecher. Die Anbindung an den Bahnhof Bad Cannstatt erfolge deshalb "zunächst eingleisig über eine ausgebaute Strecke zwischen Bad Cannstatt und Untertürkheim (Strecke 4711)."

Strecke 4711 allerdings, ein einziges Gleis, durchquert das Areal in Untertürkheim und kreuzt dabei vier vielbefahrene andere Gleise, auf denen jede Menge Personen- und Güterverkehr unterwegs ist. Es kann also eng werden, vor allem morgens und abends. Denn mehr als 200 Züge sollen täglich zwischen Abstellbahnhof und Hauptbahnhof verkehren. Es wird wohl zu einem "Kompetenzgerangel" kommen, wie eine Zugbegleiterin das kürzlich einmal genannt hat, wenn irgendjemand entscheiden muss, welcher Zug zuerst an der Reihe ist. Mag sein, dass sich auf dem Papier ein Fahrplan erstellen lässt, nach dem das alles klappt wie am Schnürchen. Doch wann ist das in der Realität bei der Deutschen Bahn schon der Fall?

Für lange Zeit noch mehr Bahnchaos

"Die Inbetriebnahme von Stuttgart 21", so das Verkehrsministerium etwas lahm, sei unter diesen Umständen "zwar möglich, aber inkomplett und unbefriedigend." Im Schreiben an Hans-Jörg Jäkel von den S-21-Kritiker:innen "Ingenieure 22", der das Problem durch hartnäckiges Nachfragen beim Eisenbahnbundesamt ans Tageslicht gebracht hat, führt das Ministerium weiter aus, es könnten "auch wegen der eingeschränkten Anbindung des Abstellbahnhofs nicht alle für die Hauptverkehrszeit gewünschten zusätzlichen Regionalverkehrszüge ins Fahrplankonzept aufgenommen werden." Und dass die Bahn wegen möglicher Klagen "mit einer sehr langen Verfahrensdauer" für die Neuplanung rechne.

Im Klartext: Es soll für sehr lange Zeit noch mehr Verspätungen und Bahnchaos geben. Der notwendige Ausbau des Regionalverkehrs kommt nicht voran. Und das Land hat zusätzliche Ausgaben, denn für die Bereitstellung der Züge vom Abstellbahnhof Untertürkheim zum Hauptbahnhof müsse, so das Ministerium, mit 45 statt 15 Minuten gerechnet werden. Damit nicht genug: "Ferner müssen Züge auch aus anderen Standorten zugeführt bzw. in diese zurückgeführt werden." Und zu guter Letzt will die Bahn auch noch eine in Untertürkheim vorgesehene Außenreinigungsanlage nicht mehr bauen. Das heißt, die Regionalzüge müssen anderswo gereinigt werden. Das sei "aus Sicht des Landes nicht möglich", protestiert das Ministerium.

204 Zugfahren täglich sah das ursprüngliche Betriebskonzept 2004 zwischen dem Abstellbahnhof und dem Hauptbahnhof vor. Wenn sich die Fahrgastzahlen verdoppeln sollen, müssten es mehr werden. Ohnehin ist der Abstellbahnhof Untertürkheim viel kleiner als der bestehende: ungefähr ein Drittel der Fläche. Belehrend erklärt der Projektsprecher: "Maßgeblich für die Leistungsfähigkeit sind die verfügbaren Gleislängen in Summe und insbesondere auch der einzelnen Gleise, nicht die Flächengröße."

Bis vor Kurzem waren noch weitere Abstellgleise in Stuttgart-Münster und Obertürkheim vorgesehen. Die Planungen werden allerdings "aktuell nicht weiterverfolgt", lässt der Projektsprecher wissen. "Die in Untertürkheim bereitgestellten Abstelllängen genügen den verkehrlichen und vertraglichen Anforderungen vollauf." 

Das Ministerium ist anderer Ansicht. Es hat sich deshalb ans Eisenbahnbundesamt gewandt. "Weitere Gespräche zwischen der DB und dem Verkehrsministerium", heißt es auf Kontext-Anfrage, "sollen ab Ende Februar 2025 dazu geführt werden."

Im Durcheinander steckt auch eine Chance

Doch es gibt eine ganz einfache Lösung. Und fast hat es den Anschein, als ob sich alle Beteiligten heimlich, still und leise darauf vorbereiten: Die Bahn hat 2022 ihren Antrag zur Stilllegung des alten Abstellbahnhofs zurückgezogen. Die Stadt müsse diese beantragen, da sie seit 2001 die Gleisflächen besitzt. Ob die Stadt, die selbst keinen Bahnverkehr betreibt, dazu überhaupt berechtigt ist, bleibt unklar. Beantragt hat sie die Stilllegung nicht.

Das Eisenbahnbundesamt schreibt an Jäkel, die verzögerte Anbindung des Abstellbahnhofs an den Bahnhof Bad Cannstatt werde "in den Planfeststellungsverfahren zum Rückbau der Betriebsanlagen im bestehenden Hbf behandelt werden". Die Bahn wiederum rechnet mit einer "sehr langen Verfahrensdauer" für die Neuplanung der Anbindung und tut nichts, um zusätzliche Abstellflächen in Münster oder Obertürkheim einzurichten.

Dann wird wohl die Gleisharfe noch lange Zeit gebraucht. Und damit auch der Kopfbahnhof. Denn erstens kommen die Züge aus den Abstellgleisen nicht heraus, ohne zum Kopfbahnhof zu fahren. Und zweitens kann, solange die Gleisharfe bleibt, das Rosensteinquartier nicht gebaut werden – und dann entfällt auch die Notwendigkeit, den Kopfbahnhof stillzulegen. Auch die Gäubahn könnte in diesem Fall weiter in den Kopfbahnhof einfahren.

Die Situation bietet also auch eine Chance. Es ließe sich im Realbetrieb testen, was besser funktioniert: der Tiefbahnhof allein oder der in der Schlichtung geforderte Kombibahnhof. Die zehn Milliarden Euro, die in das Projekt investiert wurden, sind ohnehin verpulvert. Und neue Wohngebiete kann man, wenn der Bahnbetrieb gut funktioniert, auch außerhalb bauen.

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