Die Alternativen wurden bei Stuttgart 21 seit der Projektpräsentation 1994 stets in den dramatischsten Farben gemalt. Etwa: Ohne das Projekt drohe die Abkopplung Stuttgarts vom europäischen Hochgeschwindigkeitsbahnnetz. Und mit ihm werde nicht nur diese Katastrophe abgewendet, sondern auch noch ein ganz neues Stadtviertel ermöglicht. Aktuell verfällt dieser Strategie sogar ein profilierter S-21-Kritiker der ersten Stunde: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) mag nicht mehr auf eigenes Wissen und eigene Erfahrungen im Umgang mit der DB bauen. Sondern er geht erwiesenermaßen haltlosen Behauptungen auf den Leim.
In seinem Brandbrief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), datiert vom 26. Juni, bezeichnet er den "Digitalen Knoten Stuttgart" (DKS) als "von zentraler Bedeutung für die Innovationsfähigkeit Deutschlands". Und er greift selber zu dieser Mischung aus Heilsversprechen und Angstszenario: "Sollten das Pilotvorhaben in Stuttgart und in dieser Folge die Digitalisierung weiterer Bahnknoten scheitern, birgt dies Risiken für die weitere Produktentwicklung in Deutschland." Es drohe "ein umfassender Innovations- und Kompetenzverlust". Werde dagegen alles umgesetzt, dräue eine blühende Zukunft: "Mit der geplanten Digitalisierung der Schiene kann die Kapazität des bestehenden Netzes um 20 bis 35 Prozent gesteigert werden, ohne dass Neubaumaßnahmen in Beton gegossen werden müssen."
Eine ohne relativierenden Konjunktiv zumindest gewagte und hochspekulative Aussage, um nicht von einer Falschbehauptung zu sprechen. Denn für eine Kapazitätssteigerung in dieser Dimension gibt es bislang keinerlei empirischen Beleg. Was auch daran liegt, dass Stuttgart nicht nur der erste Bahnknoten in Deutschland ist, der mit ETCS ausgestattet wird, sondern auch der größte und komplexeste. Bislang ist das digitale Zugleitsystem in Deutschland nur auf einigen Hochgeschwindigkeitsstrecken im Einsatz. Doch selbst im von Winfried Hermann (Grüne) geführten Landesverkehrsministerium werden gern die erwarteten Kapazitätssteigerungen angeführt, gerade in Zusammenhang mit Zusatzprojekten wie dem "Nahverkehrsdreieck Stuttgart" (Kontext berichtete).
Auf den Plan rufen Einschätzungen wie diese das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, das Kretschmanns Depesche an den Kanzler zum Anlass nimmt, selbst an Scholz zu schreiben, um "angesichts der vielen sachlich nicht haltbaren Aussagen" auf die Faktenlage insbesondere zu ETCS hinzuweisen: "Angesichts des desolaten Zustands des Projekts erschienen uns weitere Milliardentransfers als 'lost costs', verlorene Kosten." Das Kapazitätsproblem von Stuttgart 21 mit immer weiterem Milliardenaufwand lösen zu wollen, sei "eine der vielen Lebenslügen der Befürworter". Denn weder die geplanten weiteren 47 Kilometer Tunnel noch die ETCS-Implementation können etwas am Engpass ändern, der durch die Halbierung der Gleiszahl entsteht.
Faktenfreie Polit-Lyrik von Schaufler bis Merkel
Die Lebenslügen: Was ist nicht alles versprochen worden, spätestens seit Juli 1995 auch hochoffiziell von Seiten der baden-württembergischen Landesregierung. Und was hätte nicht von Anfang an enttarnt werden können als unrealistisch. Die Grünen-Fraktion stellte damals einen detaillierten parlamentarischen Antrag zu Verfahren, Konzept sowie Finanzierung und verlangte konkret, drei Alternativen zusätzlich zu prüfen. Die Begründung des Antrags liest sich visionär: Aufgrund der hohen Finanzrisiken des Projekts sei zu befürchten, dass erhebliche finanzielle Mittel gebunden werden, die an anderer Stelle fehlten. Zudem bestehe die Gefahr, Verkehrsengpässe der Zukunft zu bauen. Die damalige CDU-SPD-Koalition im Land, namentlich der kürzlich verstorbene Verkehrsminister Hermann Schaufler (CDU), kannte keine Hemmungen, schwarz auf weiß zu dokumentieren, wie sehr die politisch Verantwortlichen ganz und gar bereit waren, sich der DB und ihren Versprechen auszuliefern. Eine "sehr umfangreiche Variantenuntersuchung" habe bereits stattgefunden, das Ministerium gehe davon aus, dass auch in den weiteren Planungsschritten, ausgehend von der fortschreitenden technischen Entwicklung und bei einer sich gegebenenfalls ändernden Verkehrslage im Schienenbereich, in Detailfragen weitere Alternativlösungen angedacht und untersucht werden. Leider lauter Lyrik.
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Karl Heinz Siber
am 06.07.2024