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Kommunalwahlen

Doofes Ergebnis? Wahlrecht ändern!

Kommunalwahlen: Doofes Ergebnis? Wahlrecht ändern!
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Menschen engagieren sich in ihrer Stadt, stellen Listen auf, werden gewählt – und der Städtetag Baden-Württemberg ist sauer. Viele Kleingruppen in den Räten erschweren die Arbeit, findet er. Ministerpräsident Kretschmann (Grüne) und Innenminister Strobl (CDU) sind gleich dabei.

Der Städtetag ist unzufrieden mit den Wahlausgängen bei der Kommunalwahl. Ihm sind zu viele kleine Listen in die Gemeinde- und Kreisräte in Baden-Württemberg eingezogen. Die haben jetzt Rederecht, nun dauert alles länger, manche Stadt werde dadurch vielleicht unregierbar! Das, findet der Städtetag, tut der Demokratie nicht gut.

Interessante Interpretation von Demokratie. Bei der Bundestagswahl 2021 sind ganze vier Millionen Wählerstimmen durch die Fünf-Prozent-Hürde unter den Tisch gefallen. Und jetzt haben wir mal Wahlen, bei denen nahezu alle Stimmen berücksichtigt werden, und schon ist die Demokratie in Gefahr. Weil alles so mühsam wird. Behauptet der Städtetag jedenfalls mal vorsichtshalber und fordert, dass die Landesregierung eine Kommission einsetzt, die Vorschläge für eine Änderung des Kommunalwahlrechts erarbeitet.

Im Städtetag Baden-Württemberg sitzen 200 Bürger- und Oberbürgermeister:innen und ein paar Vertreter:innen von Kommunalverbänden. Ein exklusiver Kreis also, der die Interessen der Städte vertreten soll. So weit, so gut. Und ja, eine Stadtverwaltung zu führen ist viel Arbeit, und so ganz und gar menschlich gesehen ist nachvollziehbar, wenn der Einzelne nicht noch mehr Arbeit auf dem Tisch haben will.

Aber es geht ja nicht um persönliche Bedürfnisse von Bürger- und Oberbürgermeister:innen. Mit den Stadträt:innen zu reden gehört zur Berufsbeschreibung, und ja, das kann mühsam sein. So will der Städtetag sich natürlich nicht verstanden wissen. Ihm geht es um Schnelligkeit. "Der Erfolg von Kommunalpolitik hängt aber nicht nur von guten Entscheidungen, sondern oft auch von schnellen Beschlüssen ab", heißt es in einer Pressemitteilung.

Aha. Schnelle Beschlüsse sind also der Faktor für erfolgreiche Kommunalpolitik. Nicht etwa funktionierende Verwaltungen, ausreichend Beschäftigte in den Rathäusern oder eine rechtzeitige und verständliche Kommunikation mit Stadträt:innen und Bürger:innen. Wir lernen: Der Gemeinderat ist schuld, wenn eine Verwaltung schlecht organisiert ist. Klar, wenn ein Gemeinderat beschließt, Stellen in Verwaltungen abzubauen, ist das wenig hilfreich. Allerdings tut er das erfahrungsgemäß meist dann, wenn die Verwaltungsspitze ihm vorher eindringlich eingebläut hat, dass die Stadt nun fast pleite ist und unbedingt gespart werden müsse. Dass weniger Personal keine Verwaltung besser macht, sollte allerdings mittlerweile bekannt sein – siehe die Dysfunktionalität von vielen Ausländer- und Bürgerämtern, nicht nur in Stuttgart.

Die große Politik stimmt gleich mit ein

Auf die Erklärung des Städtetages hin haben Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und sein Stellvertreter Innenminister Thomas Strobl (CDU) flugs reagiert. Ein ernsthaftes Problem seien die vielen Listen (Kretschmann), ein Nachteil für die Wirtschaft vor Ort (Strobl). Auf Nachfrage bei der SPD-Landtagsfraktion sagt deren kommunalpolitischer Sprecher Klaus Ranger, er fände die vielen Kleinlisten in den Räten auch nicht gut, aber eine Fünf-Prozent-Klausel für die Kommunalwahlen wolle die SPD nicht (hat auch niemand gefordert). Vielleicht könne man über ein anderes Auszählverfahren nachdenken. Denn mit dem jetzigen (Sainte Laguë/Schepers) bräuchte es relativ wenig Stimmen für den ersten Sitz, für viele Sitze dagegen relativ mehr Stimmen. Alles sehr kompliziert, und erst 2011 hatte die damalige grün-rote Landesregierung das Zählverfahren von d'Hondt zu Sainte Laguë verändert. D'Hondt hatte übrigens oft die CDU bevorzugt.

Bezeichnenderweise äußern die politischen Diskutant:innen keine Gedanken darüber, warum immer mehr Menschen Kleinstparteien wählen. Könnte es vielleicht mit der Arbeit der etablierten Parteien zusammenhängen? Nein, meint der SPD-Abgeordnete und kommunalpolitische Sprecher seiner Fraktion. Das sei eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung hin zu immer mehr Individualität und Einzelinteressen. Da ist wahrscheinlich was dran und auch kein Wunder, wenn politische Parteien seit Jahrzehnten mehr oder weniger intensiv Neoliberalismus predigen, also meinen, wenn jede:r an sich selber denkt, ist an alle gedacht. Funktioniert zwar nicht, wird aber gerne weiter verbreitet, allen voran von der FDP.

Zurück zur Kommune und den Listen. Klar ist es wenig schlau, wenn Listen antreten, die nur ein Thema haben wie "Freibad behalten" oder "Büchereistandort bewahren", aber keine Meinung zu Kita-Gebühren, Wohnungsbau und so weiter. Aber die werden in der konkreten Gemeinderatsarbeit schnell feststellen, dass Kommunalpolitik einen Zacken komplizierter ist als sie gedacht (oder suggeriert) haben. Doch diese Ein-Themen-Listen sind ja nicht die Mehrheit der neuen Gruppierungen. In manchen Orten trat erstmals die rechtsextreme AfD an, Wählervereinigungen spalteten sich, eingebürgerte Deutsche oder Frauen taten sich zusammen, weil sie befanden, dass die bisherige Politik ihre Interessen und Perspektiven nicht beachtet.

Jetzt engagieren sich Leute – passt auch nicht

Anstatt wie die Bürger- und Oberbürgermeister:innen nur mehr Arbeit auf sich zukommen zu sehen, ließe sich auch sagen: Die Leute kriegen den Hintern hoch und tun was. Eine eigene Liste stellt man nicht in fünf Minuten abends am Küchentisch auf. Es müssen Mitstreiter und Kandidatinnen gefunden, zig Formulare ausgefüllt werden. Außerdem: Hieß es nicht immer aus der Politik, die Bürger:innen sollten sich mehr politisch engagieren? Was denn nun?

Im Grunde müssten es auch die Städtetag-Bürgermeister:innen besser wissen. Wo viele Einzelkandidat:innen oder zwei von einer Liste einziehen, tun sich diese kleinen meist zu einer Fraktionsgemeinschaft zusammen, weil auch ihnen klar ist, dass Einzelkämpfertum wenig bewirkt. Und das mit dem Rederecht muss halt diskutiert werden. Redezeit kürzen ist eine Idee.

Demokratie ist nunmal mühsam, sie braucht Debatte und Kompromissfähigkeit. Wer in der Schule noch Gemeinschaftskunde hatte, hatte vielleicht das Glück zu lernen, dass zu einer Demokratie zwingend die Beachtung von Minderheitenrechten gehört. Es ist erschreckend, wenn nach Ansicht mancher Amtsinhaber:innen kommunalpolitisch Engagierte jetzt nur als zusätzliche Arbeit wahrgenommen werden. Aber auch nicht völlig überraschend. Bei der Wahl zum nächsten Europaparlament 2029 wird eine Sperrklausel gelten, wahrscheinlich zwei Prozent. Der Bundestag hat den Weg prinzipiell dafür frei gemacht; die endgültige Entscheidung steht aus, da der Bundesrat noch zustimmen muss – was zu erwarten ist. Im Bundestag jedenfalls waren sich die Ampel-Parteien und CDU/CSU einig. Damit dürfte es bei der nächsten Europawahl eng werden für die Satirepartei Die Partei, die Tierschutzpartei, Volt und noch so einige andere. Auch hier war das Argument, Zersplitterung vermeiden zu wollen. Was ebenfalls Unsinn ist, da sich die meisten Einzelkandidat:innen im Europäischen Parlament anderen Fraktionen anschließen. Und mit dem Argument Zersplitterung vermeiden, um die Arbeit zu erleichtern, kann man Wahlen auch gleich ganz abschaffen.

Wer mehr oder weniger an der Macht ist, scheint wenig geneigt zu sein, mittels Politik, also Inhalten, mehr Wähler:innen auf seine Seite ziehen zu wollen. Lieber wird versucht, kleinere politische Gruppen mit bürokratischen Hürden zu behindern. Alleine die Tatsache, dass politisch Mächtige darüber diskutieren, ein Wahlrecht zu ändern, nachdem ihnen Wahlergebnisse nicht gefallen haben, ist haarsträubend. Und mit Sicherheit nicht demokratiefördernd.

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2 Kommentare verfügbar

  • Oktarine
    am 08.07.2024
    Antworten
    Ich bekenne mich schuldig gewählt zu haben und damit zum Niedergang der Demokartur beigetragen zu haben.
    Auch zweifele ich an der Allwissenheit und Unfehlbarkeit der Omimpopanzität der politischen Leidfigurinen, die nur zu Ihrem Wohl, zu entscheiden wissen, auf dass es uns besser erginge, so wir…
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