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Postmigrantische Perspektiven im WKV Stuttgart

Zweites Zuhause Max-Eyth-See

Postmigrantische Perspektiven im WKV Stuttgart: Zweites Zuhause Max-Eyth-See
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In einer Ausstellung im Württembergischen Kunstverein zeigen die Künstlerin Weiny Fitui und Architektin Aida Nejad, wie Menschen aus anderen Ländern Stuttgart zu ihrer Stadt machen. Das Projekt schließt eine große Lücke.

"Stuttgart ist wunderschön", sagt eine Frau im Video auf Portugiesisch mit Blick auf den Erwin-Schoettle-Platz im Stadtteil Heslach. Sie stammt aus Brasilien und ist allem Anschein nach noch nicht lange hier. Eine andere Frau aus Albanien erklärt, sie sei hier aufgewachsen. Sie gehe immer in die Kirche zum Beten, das sei ihr als Muslima wichtig. Wenn sie auf den Platz kommt, sagt sie, fragen die Leute sie immer, wie es ihr gehe und was es Neues gebe.

Zu sehen sind die Szenen im Rahmen der Ausstellung "Stuttgart im öffentlichen Raum" im Württembergischen Kunstverein (WKV), kuratiert von Aida Nejad, Architektin vom Büro Studio Malta, und der Künstlerin Weiny Fitui. Erst der Untertitel macht deutlich, worum es geht: "Bedeutung, Erfahrungen und Aneignung von Stadt aus (post)migrantischer Perspektive". Wie nehmen "Menschen mit Migrationshintergrund", wie die Statistischen Ämter sagen, den Stadtraum wahr? Wie machen sie ihn sich zu eigen?

44 Prozent der Stuttgarter Bevölkerung haben nach Angaben der Stadt diesen Migrationshintergrund, unter Jugendlichen sogar jede:r zweite. Dazu zählen alle, die nach 1940 aus dem Ausland zugewandert sind, und deren Kinder. Würde auch die dritte und vierte Generation mitgerechnet, wendet Nejad ein, also auch die Enkel und Urenkel der "Gastarbeiter", die seit 1955 aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei und anderen Ländern gekommen sind, wären es noch viel mehr.

Sie wurden angeworben, um hier zu arbeiten. Dass sie hier bleiben würden, Familien gründen oder mitbringen, womöglich Bürgerrechte oder Altersrente beanspruchen, war nicht vorgesehen. Wie sie ihre Freizeit verbrachten, kümmerte die Behörden nicht. Nejad und Fitui stellten fest, dass sie beide viel Zeit im Freien verbracht hatten wie viele Jugendliche aus migrantischen Familien. Dafür gibt es viele Gründe. Oftmals sind die Wohnverhältnisse beengt. Sie wollen sich Freiräume erobern.

Einwanderungsgeschichte interessiert Museen kaum

Fitui und Nejad interessieren sich für Orte, an denen die Migrationsgeschichte deutlich zu spüren ist: im Kernerviertel etwa, rund um das türkische Generalkonsulat oder in Stadtteilen wie Bad Cannstatt und Feuerbach. Im Stadtarchiv fanden sie dazu fast nichts. Im Haus der Geschichte gab es lediglich einmal eine Ausstellung zur Migration von Schwaben nach Amerika. Auch das Stadtpalais, "Museum für Stuttgart", hat nur deshalb einmal eine vierteilige Gesprächsreihe zum Thema "Zugehörigkeit in einer vielfältigen Stadtgesellschaft" veranstaltet, weil sich eine Manfred-Rommel-Stipendiatin mit dem Thema beschäftigte.

Fitui ist im Alter von drei Jahren mit ihren Großeltern und Geschwistern aus Eritrea nach Deutschland gekommen. Sie waren zuerst in einem Sammellager untergebracht und dann in einer kleinen Wohnung. Familie und Freunde trafen sich bei ihren Großeltern in einem Dorf bei Stuttgart. Sie waren die ersten Schwarzen Menschen im Ort und verbrachten die Zeit oft vor dem Haus im Freien. Nejad ist in Tübingen geboren und aufgewachsen. Ihre Familie stammt aus dem Iran. Sie traf sich mit Freund:innen in der Regel im öffentlichen Raum.

Wer gehört dazu? Darüber bestimmen Aufenthaltsgenehmigungen, Visa und Gesetze. Wer fühlt sich zugehörig: zu einer bestimmten Gemeinschaft etwa oder zu einer Stadt? Das ist eine zentrale Frage der Ausstellung im WKV. Oftmals werden Menschen als zugehörig zu bestimmten Herkunfts- oder Religionsgemeinschaften beschrieben. Aber Zugehörigkeit lässt sich auch ganz anders definieren: unabhängig von Herkunft und Religion als Verbundenheit mit einer Nachbarschaft.

Nejad und Fitui beschlossen, der Geschichte der Migration nachzugehen, ausgehend von einzelnen Quartieren in Stuttgart. Nejad gab ein Seminar am Institut für Städtebau. "Obwohl Stuttgart eine für die Stadt bedeutende Einwanderungsgeschichte auszeichnet", hieß es in der Ankündigung, "steht die Auseinandersetzung damit, wie Migration die Stadt prägt und geprägt hat, noch in den Anfängen." Die Studierenden erarbeiteten Dossiers zu einzelnen Orten, die nun in der Ausstellung auf einem Tisch ausliegen.

Starre Zuschreibungen überwinden

Sie wollten zum Beispiel herausfinden, wie sich seit der Eröffnung des türkischen Konsulats am Kernerplatz 1978 das Quartier verändert hat. Wo es keine schriftlichen Unterlagen gab, befragten sie Zeitzeugen und zogen Adressbücher zu Rate. Damals entstanden viele kleine Büros und Läden: Übersetzungs- und Reisebüros, Anwaltskanzleien, bis hin zu Einzelhandel und Restaurants, die das Viertel bis heute prägen.

An der Mauserstraße in Stuttgart-Feuerbach, auf der vom Ortszentrum abgewandten Seite der Bahngleise, hat sich eine Art Parallelgesellschaft entwickelt, geprägt von der größten Moschee des Verbands Ditib und einer türkischen Großbäckerei. Der Besitzer verdient richtig viel Geld, erklärt Nejad. Er könnte sich auch Räume im Stadtzentrum leisten. Aber keiner will an ihn vermieten. So ist die Entstehung des sehr stark türkisch geprägten Viertels letztlich auf Ausgrenzung seitens der Mehrheitsgesellschaft zurückzuführen.

Zwischen den Studierendenarbeiten liegen in der Ausstellung Bücher aus, Titel wie: "Wozu Rassismus?", "Das Integrationsparadox" oder "Die postmigrantische Gesellschaft: Ein Versprechen der pluralen Demokratie". Der Begriff postmigrantisch, geprägt durch das postmigrantische Theater der Berliner Intendantin Şermin Langhoff, bezeichnet eine Gesellschaft, die von Migration geprägt ist, vor allem aber von den Nachfahren der Migrant:innen: denjenigen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und zunehmend ihre Stimmen erheben.

Der Begriff "steht für das Überwinden starrer Zuschreibungen", definiert der Ausstellungsflyer, "die Entwicklung neuer Formen von Zugehörigkeit, Erinnerung und Sichtbarkeit sowie die kritische Auseinandersetzung mit rassistischen und ausschließenden Strukturen". Letztere hat der WKV immer wieder angesprochen: von den eigenen Beobachtungen im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste bis hin zu den Morden von Hanau. Solche negativen Erfahrungen haben Fitui und Nejad aber bewusst weggelassen, weil es ihnen auf die alltäglichen, positiven Erfahrungen der postmigrantischen Gesellschaft ankommt.

Sie haben Orte aufgesucht, die Menschen mit Migrationsgeschichte etwas bedeuten: die sie sich angeeignet haben. Das kann eine schlichte Bank sein, auf der sich eine Frau rumänischer Herkunft immer mit ihren Freund:innen getroffen hat. Oder die Grünanlagen am Max-Eyth-See, die entsprechend ihrer Bedeutung für die postmigrantische Gesellschaft Stuttgarts stark hervorgehoben sind.

Orte mit Bedeutung

Die Orte sind in ebenso professionellen wie unspektakulären Fotos von Victor S. Brigola festgehalten, begleitet von Zitaten der Menschen, die sie dort angetroffen haben. "Wir sind immer am Wochenende da, wenn meine Eltern nicht arbeiten", steht neben einem Foto der Liegewiese am Max-Eyth-See. "Es ist unser zweites Zuhause, wir wohnen in der Nähe, aber es gibt auch viele Leute, die von weiter weg kommen, weil sie so einen Ort nicht haben."

Manche kommen aus Esslingen oder Sindelfingen, erzählt Nejad, weil es dort vergleichbare Freiräume nicht gibt. Aber die meisten wohnen wohl eher in den nahe gelegenen Hochhaussiedlungen Freiberg und Mönchfeld, hoch über den Weinbergen am anderen Neckarufer. "Wir verbringen den ganzen Tag hier", fährt der Text fort, "wir frühstücken, trinken Tee und grillen zusammen, hören oder machen Musik und tanzen. Bis zum Sonnenuntergang bleiben wir hier und dann gehen wir nach Hause."

Sie treffen sich mit der ganzen Familie, feiern Feste und bringen auch ihre eigenen Bräuche mit. Im Video verknoten zwei Hände Gräser und lassen das Bündel einen Bach hinunterschwimmen. Es handelt sich um Sabzeh, gekeimten Weizen, der an Nowruz, dem iranischen Neujahrsfest am 20. März, mit anderen Dingen auf einem Tisch aufgebaut wird. 13 Tage später ist Sizdahbedar, der Tag der Natur. Die Menschen gehen hinaus ins Freie und picknicken. Das Sabzeh, gute Wünsche eingeknotet, wird einen Bach hinuntergeschickt, wie im Video zu sehen, um symbolisch das alte Jahr ziehen zu lassen.

Alle Texte der Ausstellung, die Zitate und Erklärungen sind viersprachig: Deutsch, Serbokroatisch – Nejad korrigiert: Bosnisch-Kroatisch-Serbisch-Montenegrinisch –, Türkisch und Arabisch. Weitere Sprachen könnten in Zukunft dazu kommen, denn die Ausstellung soll nur ein erster Schritt sein. Auf einem Tisch in den Umrissen des Stuttgarter Stadtgebiets können Besucher:innen ihre eigenen Orte in den einzelnen Stadtteilen hinzufügen.

Fitui und Nejad möchten die Videos gern auch am Max-Eyth-See zeigen. Zwar sind einige der Gesprächspartner:innen zur Eröffnung gekommen. Doch für viele ist der WKV von ihrem Leben weit entfernt. Das Stadtarchiv hat Interesse angemeldet, die Rechercheergebnisse dauerhaft in seine Bestände zu übernehmen. Die vielen noch nicht erzählten Geschichten könnten so ihren Platz im Stadtgedächtnis bekommen.


Die Ausstellung "Stuttgart im öffentlichen Raum – Bedeutung, Erfahrungen und Aneignung von Stadt aus (post-)migrantischer Perspektive" im Württembergischen Kunstverein am Stuttgarter Schlossplatz läuft noch bis 5. Oktober, der Eintritt ist frei.

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