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Buch "Angekommen in Renningen"

"Ein Leben ohne ständige Verhaftungen"

Buch "Angekommen in Renningen": "Ein Leben ohne ständige Verhaftungen"
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Überall wird über Migration gesprochen, oft negativ, häufig bösartig, meistens als etwas, das es zu begrenzen gilt. Die Stadt Renningen hat ihren Migrant:innen dagegen ein kleines Denkmal gesetzt und 15 beeindruckende Lebensgeschichten in ein feines Büchlein gebunden.

Fatemeh Haidari aus Afghanistan ist gerade 25 und hat Schreckliches gesehen auf ihrem Weg nach Deutschland. Der Palästinenser Saifaldin Areef zog Anfang der 2000er-Jahre wegen des dauernden Krieges von Gaza in die Ukraine. Bis dort der Krieg ausbrach. Fiori Tekleab ist in Eritrea geboren und floh unter großer Gefahr aus dem Land, tagelang eng gepfercht auf Lastwagen durch die Wüste. Sie alle haben in Renningen im Kreis Böblingen Zuflucht gefunden. Und zum Teil ein neues Leben.

Menschen aus 97 verschiedenen Nationen leben in Renningen, 15 davon haben gemeinsam mit dem Team des städtischen Integrationsmanagements ihre Lebensgeschichten aufgeschrieben. Zu den Internationalen Wochen gegen Rassismus im März dieses Jahres hat die Stadt sie zu einem Buch binden lassen. "Angekommen in Renningen" enthält Erzählungen über Flucht und Angst, über das Verlorensein in einer völlig neuen Umgebung, aber auch übers Ankommen, ganz neue Wege und Geborgenheit in der Fremde. Hier veröffentlichen wir fünf gekürzte Geschichten daraus.
 

Fiori Tekleab aus Eritrea

Ich wurde 1989 in Eritrea geboren als fünftes Kind von insgesamt sieben Kindern. Wir waren wohlhabend. Mein Vater konnte es sich leisten, alle Kinder zur Schule zu schicken. Das 12. Schuljahr findet in einem Militär-Camp statt. Danach wird einem eine Ausbildung oder unbefristeter Militärdienst zugeteilt. Da meine Mutter krank war, blieb ich heimlich zuhause, wurde aber nach einiger Zeit verhaftet und kam ins Gefängnis. Danach kam ich zum Militär. Mehrfach bin ich desertiert und wurde wieder gefangen und zum Militär gebracht.

Dazwischen habe ich geheiratet. Auch mein Mann wurde vom Militär gesucht, deshalb ging er in den Sudan. Ich wurde nochmals verhaftet. Zusammen mit einer Frau bin ich aus dem Gefängnis zu Verwandten in den Sudan geflohen. Ohne Papiere wird man dort verfolgt. Nachdem ich meinen Mann wieder gefunden hatte, beschlossen wir, nach Europa zu fliehen, um ein Leben ohne ständige Verhaftungen zu führen.

Im März 2016 starteten wir zusammen mit anderen in drei Lastwagen Richtung Libyen. Der LKW, in dem mein Mann saß, wurde von der Polizei angehalten und die Menschen verhaftet. Ich setzte meine Flucht fort. Es war schrecklich, ich mag mich nicht erinnern. Meine Flucht dauerte vier Monate. In Italien waren die Leute nett, aber das Flüchtlingscamp furchtbar. Wir hörten, dass die Situation in Deutschland besser sei. So fuhr ich per Zug nach Basel.

Eritreer bekommen keine Pässe, deshalb konnten wir keine Familienzusammenführung beantragen. So kam mein Mann 2019 per Schleuser nach Griechenland und dann legal nach Deutschland. Mit Hilfe unserer Sozialarbeiterin fand er 2021 Arbeit. Ebenfalls mangels Heiratsdokumenten haben wir am 31.10.2023 in Dänemark nochmals geheiratet, diese Papiere werden in Deutschland anerkannt. Wir sind Deutschland dankbar und genießen es, endlich frei zu sein: frei vom nicht endenden Militärdienst, frei vom Gefängnis, frei zur Meinungsäußerung und frei zu entscheiden, wo wir leben wollen.
 

Zahra Arabi aus Afghanistan

Ich ging weder in den Kindergarten noch zur Schule. Wir lebten in den unsicheren Zeiten des Bürgerkrieges, in dem sich die Taliban formierten. Ich war 17 Jahre alt, als mein Vater und mein Schwiegervater sich über meine Heirat einigten. Die Taliban beließen nur einen Mann pro Haushalt, so hat mein Mann meist im Iran gearbeitet. Als er eines Tages wieder bei uns war, kamen die Taliban und nahmen ihn mit. Er musste zwei Mal an die Front. Danach war er nicht mehr derselbe. Er ist traumatisiert durch die Ereignisse.

Mein Schwiegervater entschied, es sei besser für uns, in den Iran zu ziehen. Ich wollte nicht dortbleiben, weil ich wusste, dass wir immer illegal sein würden. Ich hatte gehört, dass in Almane alle Kinder zur Schule gehen dürfen. Ich wusste nicht, wo dieses Land liegt, aber ich habe erreicht, dass uns mein Schwiegervater Geld geschickt hat für die Flucht. Die ganze Flucht war schwer. Vor der Überfahrt hatten wir panische Angst. Aber wir haben es mit Hilfe der Schleuser über die Balkanroute bis Deutschland geschafft.

Die Anfangszeit war sehr schwer. Ich kannte mich nicht aus, und mein Mann war ebenfalls total überfordert und orientierungslos. Vieles blieb an mir hängen. Zum Glück gab es immer wieder deutsche Menschen, die mir geholfen haben. Ich erlebte nach und nach, dass die Menschen in Renningen sehr hilfsbereit sind. In der Unterkunft gab es ein Asyl-Café und Kinderprogramme. Nachdem wir die Aufenthaltserlaubnis bekommen hatten, durften wir Integrationskurse machen. Seit 18 Monaten hat mein Mann jetzt eine Vollzeit-Arbeit und ich habe vor zwei Monaten einen Minijob angefangen.

Ich habe das Gefühl, dass Deutschland sich um uns kümmert wie Eltern es tun. In den acht Jahren hier hat mich nie jemand beschimpft oder mir vorgeworfen, dass ich nicht gut deutsch spreche.

Erst jetzt habe ich Angst um die Zukunft, weil ich höre, dass Menschen fordern, alle Ausländer wegzuschicken. Mein Zuhause ist jetzt in Deutschland, ich möchte nicht wieder weg.
 

Nataliia Areef aus der Ukraine, Saifaldin Areef aus Palästina

Ich stamme aus Gaza-Stadt und meine Frau aus der Ukraine. Wir haben uns beim Studium an der Medizinischen Universität in Saporoschje kennengelernt, geheiratet und bekamen insgesamt drei Kinder. Bevor ich zum Studium in die Ukraine ging, war ich zwei Jahre lang Mitglied der Fußball-Nationalmannschaft von Palästina.

Nach erfolgreichem Studium kehrte ich mit meiner Familie nach Gaza zurück, wo wir im Al Shifa-Krankenhaus arbeiteten. Wegen des Krieges in meinem Heimatland mussten wir in die Ukraine zurückkehren und ich arbeitete weiterhin als Privatarzt. Meine Frau war zeitweise als Pharmareferentin tätig. Wir lebten 20 Jahre friedlich und glücklich.

Am 24.2.2022 begann der Krieg. Wir lebten in der Stadt Sumy, nahe der Grenze zu Russland, und schon am ersten Tag des Krieges befanden wir uns mittendrin. Militärisches Gerät stand auf unseren Straßen und es kam zu Gefechten. Wir hatten Angst um unsere Kinder. Also waren wir gezwungen, mit dem Auto wegzufahren. Der Weg war gefährlich, schwierig und lang, erst am fünften Tag überquerten wir die Grenze zu Polen. Wir waren erleichtert. Ende März kamen wir mit dem Zug in Deutschland an.

In Malmsheim wurden wir vom Integrationsmanagement der Stadt freundlich begrüßt und sehr gut unterstützt. So begann unser Integrationsprozess. Natürlich ist es sehr schwer, wieder neu anzufangen. Wir sind jetzt in einem Integrationskurs und ich möchte demnächst einen Freiwilligendienst in einem Krankenhaus machen. Die deutsche Sprache hat sich als schwierig erwiesen.

Die Kinder lernen in der Schule Deutsch und für sie ist es einfacher. Aber manchmal erleben sie durch russischsprachige Schüler Beleidigungen. Es tut gut, dass die Schulleitungen immer schnell reagiert haben. Solche Vorfälle sind schmerzhaft für Jugendliche, die durch den Krieg traumatisiert sind.
 

Fatemeh Haidari aus Afghanistan

Ich wurde im Jahr 2000 in Afghanistan geboren, habe aber danach etwa sieben oder acht Jahre in Teheran, der Hauptstadt des Iran, gelebt. Wir waren eine vierköpfige Familie und nur mein Vater arbeitete, er war in der Eisen- und Schrottindustrie tätig, meine Mutter war Hausfrau. Meine Schwester und ich gingen beide zur Schule. Für mich überraschend beschlossen meine Eltern, nach Europa auszuwandern, und wir machten uns auf den Weg. Der Grund waren die Probleme und Nöte, mit denen wir dort konfrontiert waren, zum Beispiel, dass wir nicht das Recht hatten, eine Universität zu besuchen, um unsere Ausbildung fortzusetzen, oder einen Führerschein zu machen, und die Schulen verlangten von uns jedes Jahr viel Geld.

An dem Tag, an dem wir nach Europa auswanderten, fiel es uns sehr schwer, uns von unseren Verwandten und Großeltern zu verabschieden. Wir mussten einen langen Weg zurücklegen, der fast 20 Stunden dauerte, um eine der türkischen Grenzstädte zu erreichen. Das Wetter war kalt und die Berge waren voller Schnee. Ich wurde Zeuge, wie Menschen auf diesem Weg starben, vergewaltigt und ausgeraubt wurden.

In Istanbul wurden wir von Schleusern im Keller eines Gebäudes untergebracht, ohne zu wissen, dass sie uns als Geiseln genommen hatten. Es war eine sehr schwierige Zeit, zwei Monate in diesem Keller ohne Badezimmer, ohne frische Luft und viele andere Dinge. Eines Tages gelang es meinem Vater, meinen Cousin, der in Ankara wohnte, zu kontaktieren, damit er die Angelegenheit der Polizei mitteilen konnte. Glücklicherweise gelang es uns, mit der Polizei zu kommunizieren und uns aus dem Keller zu retten.

Ein paar Tage später zogen wir nach Griechenland. Die Schleuser hatten ein Schlauchboot mit vielen Löchern für vierzig Personen vorbereitet. Die Überfahrt war schrecklich, wir hatten Todesangst. Wir haben geschrien, bis die griechische Marine uns fand und rettete. Wenn sie nicht gekommen wäre, wären wir alle gestorben.

Als wir in Deutschland ankamen, fiel es mir sehr schwer, die Sprache zu lernen. Ein Jahr lang bekam ich keinen Schulplatz. Aber nach und nach ging es mir immer besser. Ich ging zur Schule, absolvierte die Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten und wurde vom Ausbildungsbetrieb übernommen. Und jetzt bin ich sehr froh, dass mir das nach all den Strapazen, die ich durchgemacht habe, gelungen ist. Ich bin sehr glücklich darüber, denn so konnte ich die schlechten Erinnerungen nach und nach vergessen.
 

Wiktoria Sitnicka und Julia Dovha aus der Ukraine

Ich bin 65 Jahre alt und wurde in der Region Poltawa in einer Arztfamilie geboren. Ich studierte, arbeitete dann in Melitopol als Leiterin der Fleischverarbeitungsabteilung in einem großen Betrieb. Ich habe geheiratet, wir bekamen zwei Kinder. Das Leben war gut. Doch dann stellten drei Todesfälle mein Leben auf den Kopf: 2003 starb mein Mann, 2012 der Mann meiner Tochter und 2018 meine Tochter. Ich wurde zum Vormund meiner Enkelin Julia.

Mitten in den ersten Kriegswirren – um fünf Uhr morgens, Explosionen, Funken wie bei einem Feuerwerk und dann griff das Feuer auf das Hochhaus über – wurde zwei Monate zu früh meine dritte Enkelin geboren. Das Kind musste mit einer Sonde ernährt werden, für die Mütter gab es kaum noch etwas zu essen. Es war für alle unglaublich schwer, da der Feind bereits in der Nähe von Kiew war. Zu dieser Zeit fanden in Butscha und Irpin schreckliche Ereignisse statt. 

Mein Sohn gab uns zwei Stunden Zeit, uns fertig zu machen für die Flucht. Zwei Tage brauchten wir in die Westukraine. Dort war es auch nicht ruhig, deshalb entschieden wir (Julia und ich, die Schwiegertochter mit Karolina und dem Baby) nach einem Monat, nach Deutschland zu gehen. Die ersten Monate waren wirklich hart für uns. Wir waren deprimiert, litten ständig unter Schlaflosigkeit und Panik. Jedes laute Geräusch machte uns Angst. Die Kinder weinten und baten darum, nach Hause zu gehen, und wir dachten alle, dass wir in einem Monat in die Ukraine zurückkehren würden. 

Wir begannen, an Kundgebungen zur Unterstützung der Ukraine und am Ukraine-Café teilzunehmen, und sind tief berührt, dass die Deutschen bereit sind, uns zu helfen. Wir sind den Menschen in Deutschland sehr dankbar, dass sie uns in einer schwierigen Zeit Zuflucht gewährt haben. Wir werden uns unser Leben lang an diese gute Tat erinnern. Ich würde sagen, dass wir hier nach all dem Schrecken, den wir ertragen mussten, wieder zu leben begonnen haben. Aber die Sehnsucht nach unserer Heimat lässt uns nicht los.


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