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Festival "Jetzt" der Kulturregion Stuttgart

Pirat:innen der Intimität

Festival "Jetzt" der Kulturregion Stuttgart: Pirat:innen der Intimität
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Das Floß soll die Region verbinden. Es steht im Mittelpunkt des diesjährigen Festivals der Kulturregion Stuttgart. Das könnte ein Aushängeschild sein und bleibt doch eher ein Mauerblümchen.

Wenn die Region Nordschwarzwald ein dreimonatiges Kunst- und Design-Festival organisiert, beauftragt sie ein professionelles Pressebüro, das Journalist:innen aus aller Welt einlädt. Das Ergebnis: unter anderem ein Hinweis in der "Washington Post" sowie lange Artikel in der chinesischen Tageszeitung "Ming Pao" und in einer Beilage der großen portugiesischen Zeitung "Publico".

Die Region Stuttgart hält das nicht für nötig. Sie kündigt ihr Festival, das alle zwei Jahre stattfindet, ein paar Wochen vorher an, und nach drei Wochen ist es schon wieder vorbei. Vieles unterscheidet die beiden Regionen. Und doch geht es in beiden Fällen darum, Gemeinschaft zu stiften. "Können wir die bestehenden Grenzen überwinden und eine gemeinsame Plattform schaffen, die den Dialog fördert und ein friedliches, freies und wertschätzendes Miteinander ermöglicht?" fragen der Vorsitzende der Kulturregion, der Ludwigsburger Oberbürgermeister Matthias Knecht, und die Geschäftsführerin Bettina Pau.

"Jetzt! Handlungsräume zwischen Kunst und Gesellschaft" ist das diesjährige Festival überschrieben. Die Kurator:innen Melanie Mohren und Bernhard Herbordt wollen Verbindungen schaffen zwischen den Kommunen der Region, aber auch zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft: Kinder und Jugendliche, Kulturbürger:innen und Philosoph:innen, Radfahrer:innen und Kanut:innen. Im Mittelpunkt steht ein Floß – oder eigentlich drei, die von Ort zu Ort schippern.

Um 11 Uhr sollte es losgehen, an der Rudergesellschaft 1899 Untertürkheim beim Inselbad, doch das Floß ist noch nicht fertig. Der Erlebnispädagoge Manuel Assner von der Stuttgarter Jugendhaus-Gesellschaft hat es mit Schüler:innen gebaut. Eigentlich lag es nach einem Workshop auf der Neckartagung der IBA'27 schon auf dem Feuersee, doch es soll größer werden.

Schließlich ist es so weit: Mit Mühen gelingt es, die vier Meter breite Floß-Plattform, außen auf Kajaks, in der Mitte auf blauen Kunststofftonnen, über die eigentlich zu schmale Rampe zu Wasser zu lassen. Aber nichts geht in Deutschland ohne drei- bis vierfache Sicherheit. Jede:r der Fahrgäste muss eine Schwimmweste überziehen. Dann trägt Assner in seiner Rolle als Kapitän die Anweisungen vor. Wichtigste Erkenntnis: Die Reling ist kein Geländer. Wer sich anlehnt, könnte krachend ins Wasser fallen.

Ein Floß auf dem Fluss: eine schöne Idee, die Jung und Alt begeistert. Aber das Festival-Publikum muss am Ufer bleiben. Das Floß ist "Die Akademie", das mobile Festival-Zentrum, das von Ort zu Ort schippert und verschiedene gesellschaftliche Gruppen zusammenbringen will. Ein zweites wird von Backnang die Murr hinab gleiten, ein drittes, kleineres, von Waldenbuch ein Stück auf der Aich, um dann zum Abschluss am 12. Oktober auf dem Landweg zum Ludwigsburger Franck Areal zu gelangen.

Poesie, Fahnen, Gesang

Die erste Fahrt, mit internationalen Gästen, ist deklariert als Betriebsausflug des Cannstatter Kulturkabinetts, das von seiner früheren Bezeichnung "Kommunales Kontakt-Theater" noch die Abkürzung KKT bewahrt. Während ein Schwarm gelber Kajaks das Floß umrundet, beginnt Kai Krämer mit ihrer Performance: Sie liest auf der gesamten Fahrt weit über eine Stunde, einen langen, poetischen Text.

"Ich habe meinen Namen verloren", beginnt sie. "Namenlose Begegnungen im Chaos." Waldbrände und Stürme beschwören den Klimawandel herauf. "Siehst du die Sterne auf meiner zwölffingrigen Pranke? Fäuste ohne Ziel, ohne Geschlecht, krallen sich fest." Die Fahrt auf dem Floß, den Neckar hinab, wird zum körperlich spürbaren Bild des Loslassens, die zusammengewürfelte Gruppe zur Schicksalsgemeinschaft: "Pirat:innen der Intimität, was verbindet uns? Ein gemeinsamer Mikrokosmos? Eine gemeinsame Erfahrung?"

Geizige Kulturregion Stuttgart

Als sich Anfang der 1900er-Jahre der Verband Region Stuttgart neu formierte, gründete sich parallel die Kulturregion: Als Verein, an dem anfangs nur 19 der 179 Kommunen beteiligt waren – heute sind es 43. Auf das Aufsehen erregende Skulpturenprojekt "Platzverführung" folgte ein heterogenes Programm, bis sich der Verein beinahe auflöste. Das Festival, beim ersten Mal unter dem überzogenen Titel "Garten Eden", musste zuerst die Kommunen selbst überzeugen, sich weiter zu engagieren. Von Mal zu Mal wurde es besser. Doch für eine Region mit einem Bruttoinlandsprodukt von 150 Milliarden Euro, für einen Regionalverband mit einem Etat von über 400 Millionen bleiben die jährlichen Aufwendungen von 360.000 Euro – und das nicht allein für das Festival – ein Nasenwasser. Zum Vergleich: Für die "Ornamenta" im Nordschwarzwald hat allein die Stadt Pforzheim 1,9 Millionen ausgegeben.  (dh)

Die Zuhörer:innen sind eingeladen, etwas auf eine grüne Fahne zu schreiben: "Eine Fahne, durch die wir den Himmel sehen können." An der Reling hängt ein Transparent, auf dem steht: "Was bedeutet Fürsorge für dich? Care ist für mich immer politisch, auch im Privaten." Was passiert, wenn man sich der Verwertungslogik entzieht? "Ich hänge eine Fahne auf. Sie trägt Wut, Angst, Liebe."

Nach dem Schleusen klettern Passagiere und Crew in Cannstatt auf der Neckarinsel an Land. Die Rockmusikerin Suli Puschbang singt von der Brücke herab: "…hält das Ruder, hält das Ruder, oh, die See." Ein Lied für die Kinder Geflüchteter, die die gefährliche Odyssee über das Mittelmeer hinter sich haben. Die 2019 als "Ausnahmeerscheinung" mit dem Deutschen Musikautorenpreis ausgezeichnete Erzieherin gibt anschließend noch ein Familienkonzert. Der Blinden- und Sehbehindertenverband hat sich derweil bereits auf den Weg zum Max-Eyth-See gemacht. Eine Begegnung fand hier nicht statt.
 

Bauernkrieg individuell gesehen

Im Böblinger Bauernkriegsmuseum wartet abends ein weiterer Höhepunkt. Die aus Bangalore stammende Künstlerin Deepika Arwind entschlüsselt die Botschaften der Bauern von 1525 an die Welt von heute. Während ihres Solitude-Stipendiums haben die Kurator:innen sie gefragt, ob sie Lust hätte, sich mit der Geschichte zu beschäftigen. Und zugleich mit Lea Wegner gesprochen, die das Museum seit zwei Jahren leitet. Sie hat eine erste Sonderausstellung zum 500. Jahr des Bauernkriegs konzipiert, mit der Arwind, im selben Raum, in Dialog tritt.

"Seit 40 Jahren wurde zum Bauernkrieg nicht mehr geforscht", konstatiert Wegner, die an der Universität Tübingen ihre Doktorarbeit zum Thema schreibt und deshalb die Stelle bekam. Noch gelten hier die alten Feindbilder, erklärt sie, wie in den 1970er-Jahren: "Die da oben" und "wir hier unten". Es gebe aber sehr viele Dokumente, die zeigen, dass hier nicht homogene Blöcke gegeneinander standen, sondern Menschen, die individuell, von Mal zu Mal, vor Entscheidungen gestellt waren.

Von dieser Ausstellung, "Der Aufstand in Person!", mit viel rotem Text auf dunkelgrünem Grund unterscheidet sich Arwinds Beitrag schon optisch. Sehr viel freier, um nicht zu sagen wilder, bedecken hier englische Sätze, zum Teil auch in anderen Sprachen, von Hand geschrieben die Wände. Und Bilder, gezeichnet von Arwind selbst, die eigentlich Theaterautorin ist. Der Weg von den Bauernprotesten in Deutschland vor 500 Jahren zu denen im heutigen Indien ist für sie ein Gespräch mit vielen Stimmen.

"Consider a one-act play", steht da: Ziehe einen Einakter in Betracht. "Ich schreibe dieses neue Stück", so beginnt, auf Englisch, an anderer Stelle ein Dialog. Arwinds Ausgangspunkt sind die "zwölf Artikel", die Forderungen der Aufständischen im Bauernkrieg, unter anderem die Abschaffung der Leibeigenschaft, freier Zugang zu Brennholz, Jagd und Fischfang sowie ein Verbot der Veräußerung von Gemeindegütern. "Wie lässt sich ein Manifest für die Gegenwart umfunktionieren?", fragt Arwind und formuliert neue zwölf Artikel, zuletzt: "Überbewerte Poesie, es ist notwendig."

Nicht mehr als ein Gänseblümchen am Revers

Sie sei nicht gewöhnt, Eröffnungsreden zu halten, behauptet die Autorin. Und lässt deshalb eine Performance folgen, das heißt eine Lesung auf Englisch, gesprenkelt mit deutschen Sätzen. "Ich träumte einmal vom öffentlichen Raum", deklariert sie. "Wo wir die Dinge ansprechen können, die weh tun. Ich träumte vom öffentlichen Transport." Sie erzählt von der Einreise, "Willkommen in Deutschland", und wie schwierig es sei, ein Visum zu bekommen. Wie man taktisch vorgehen müsse, um an ein Stipendium zu gelangen.

Vieles an den zwölf Artikeln der Bauern, die Forderungen nach Gleichberechtigung und Grundrechten, lassen sich ohne weiteres auf heute übertragen. Doch es gibt andere Dinge in Rechnung zu stellen: Frauenrechte etwa oder die Gleichberechtigung des globalen Südens und die Rechte von Migrant:innen. Deepika Arwind formuliert kein neues Manifest. Sie stellt Fragen, gibt Anregungen. Dazwischen krabbeln immer wieder große, künstliche Fliegen über die Wand. Es lohnt sich, das anzusehen.

Das Festival der Kulturregion ist, seit es 2014 zum ersten Mal stattfand, immer besser geworden. Es präsentiert herausragende künstlerische Arbeiten und stellt relevante Fragen. Aber es ist, was die öffentliche Wahrnehmung und die finanzielle Ausstattung angeht, nicht mehr als ein Gänseblümchen am Revers der wohlhabenden Region Stuttgart, die sich nie dazu durchringen konnte, Kultur zu einem zentralen Anliegen zu machen. Dabei hat nur Kultur das Zeug, Identität zu stiften und die Kommunen zu einer Region zu verbinden.


Das Festival läuft bis 12. Oktober. Zum Programm, 80 Veranstaltungen in 15 Kommunen, geht es hier und hier. Der Eintritt ist in der Regel frei.

Die Ausstellung im Bauernkriegsmuseum in Böblingen läuft bis 17. November. Am 29. September um 16 Uhr unterhält der Festival-Philosoph Michael Turinsky dort mit Deepika Arwind und anderen einen Salon zum Thema Landwirtschaft, Anmeldung hier.

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