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Camp Festival

Abstrakt und schillernd mit splitterndem Klang

Camp Festival: Abstrakt und schillernd mit splitterndem Klang
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 Fotos: Jens Volle 

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Künstler:innen unterschiedlicher Disziplinen an einem besonderen Ort zusammenzubringen, ist die Idee: Das Camp Festival pflegt seit 25 Jahren den Geist internationaler, kreativer Kooperation. In diesem Jahr beeindruckte es in den Wagenhallen.

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Auf einer weitläufig verschachtelten Bühne bewegt sich eine Tänzerin zum pulsierenden Elektroklang, eine Stimme singt und Szenarien aus Licht entfalten sich, abstrakt, schillernd, knallbunt, kreatürlich. In einem anderen Bühnenbild stehen Musiker und erzeugen harten, splitternden Klang, Trümmer häufen sich, schweben erstarrt in der Luft, und auch hier fliegen Projektionen vorüber, von konkreten Dingen dieses Mal, von alten Filmbildern, Puppen, Uhren. In einem dritten Raum schließlich treten vermummte Gestalten zu dunkler Musik in einen leuchtenden Kreis, ringen mit ihren Träumen und Alpträumen. Drei Tage lang, von Donnerstag bis Samstag vergangener Woche, ist das Camp Festival in den Wagenhallen zu Gast. 14 Künstler:innen zeigen performative Werke, die dort, vor Ort, in wenigen Tagen entstanden sind.

Künstler:innen an einem besonderen Ort zusammenzubringen, das ist die Idee. Menschen aus aller Welt, die ihre persönliche künstlerische Sprache, ihr Medium und ihren Ausdruck bereits gefunden haben, Raum und Zeit zu geben, in denen sich ein Zusammenklang entwickeln kann, ist das Ziel. Der Begriff "Camp" steht dabei für Collaborative Art and Music Project und findet nicht zum ersten Mal in den Stuttgarter Wagenhallen statt. Thomas Maos und Fried Dähn kuratieren das Festival seit 25 Jahren. 2005, als die Wagenhallen noch ein Ort der Subkultur waren, kaum zugänglich, von Gebüschen überwuchert, waren sie bereits dort zu Gast, und vor drei Jahren, beim letzten Camp Festival, arbeiteten sie im Kunstverein Wagenhalle, wenige Schritte entfernt. In München, Potsdam, Portugal, in Osteuropa oder am ZKM Karlsruhe fand das Camp Festival bereits statt. Fried Dähn und Thomas Maos, zuhause in Tübingen, sind profilierte Musiker, die jenseits aller Genregrenzen agieren. Martin Mangold und Stefan Hartmaier unterstützen sie als professionelle Ausstellungsmacher.

Nun streckten Dähn und Maos wieder ihre Fühler aus, luden ein – und die Künstler:innen kamen, aus Deutschland, der Ukraine, den USA, um drei Tage die Zusammenarbeit zu entdecken. Bewusst setzen die Kuratoren einen Schwerpunkt auf die Ukraine – vier Künstlerinnen und ein Künstler stammen von dort. Zumeist haben sie ihre Heimat verlassen. Dmytro Radzetskyi, als einziger Mann in der ukrainischen Gruppe, wurde nicht zum Militär eingezogen. Seit Januar trafen sich alle Beteiligten in Zoom-Gesprächen und bereiteten sich auf ihre Zusammenarbeit vor. "Es gab dabei schon makabre Situationen", erzählt Thomas Maos. "Wir waren an einem Abend mit Dmytro im Zoom, als in Kiew der Bombenalarm losging. 'I’m sick of this Noise', sagte Dmytro und begann, in der Tonhöhe des Alarms auf seinem Klavier zu spielen."

Svitlana Reinish ist eine ukrainische Medienkünstlerin. Sie lebt in London und entwickelt Videoprojektionen, mit denen sie Gebäude bespielt oder Konzerte begleitet. "In den Performances, die hier entstanden sind", sagt sie, "greift keiner von uns auf das Thema Krieg zurück. Aber als wir uns zuerst trafen, beschlossen wir, als Künstler:innen aus der Ukraine, ein eigenes Projekt über den Krieg umzusetzen. Wir waren zu viert – zwei Musiker, eine Tänzerin und ich, mit meinen Visuals – und die Arbeit fiel uns sehr leicht. Wir mussten uns nicht untereinander absprechen, wir mussten uns nichts erklären, jeder von uns wusste, worum es ging und was der andere fühlte. Wir möchten diese Zusammenarbeit nun fortsetzen."

Größte Herausforderung: "Die Kontrolle über alles aufgeben."

Die dreiteilige Präsentation konzentrierter Kreativität, mit der das Camp Festival am Samstagabend endet, ist ein berauschendes, intensives Erlebnis und das Ergebnis eines vielschichten Prozesses. Für die Künstler:innen stand dieser Prozess im Vordergrund. Darin liegt der besondere Charakter des Camp Festivals: Oft arbeiteten die Teilnehmer:innen zuvor kaum je in einem vergleichbaren Kontext. Sie kommen zusammen, sie bringen ihre künstlerische Vergangenheit mit, ihre Handschrift, ihre Erfahrungen, um in einem knapp bemessenen Zeitraum etwas Gemeinsames, Neues zu erschaffen. 2024 ist dieser Zeitraum noch knapper bemessen: Nicht nur das Camp Festival feiert ein Jubiläum, auch die Wagenhallen als Eventlocation werden 20 Jahre alt. Ein Anlass, aus dem heraus Stefan Mellmann, Geschäftsführer der Wagenhallen, dem Festival für drei Tage Räume zur Verfügung stellte. In anderen Jahren erstreckte es sich über eine Woche. Die Zeit für Gespräche und ein besseres Kennenlernen fehlte den Künstler:innen, der Produktionsdruck war größer.

"Als wir hier ankamen und die Räume sahen, die uns zur Verfügung stehen", sagt Svitlana Reinish, "hat das all unsere Vorstellungen umgeworfen. Was wir in unseren Performances zeigen, das entstand ausschließlich hier, vor Ort, in diesen drei Tagen." Die Künstler:innen reagieren unmittelbar auf das Gegebene – und erleben beim Camp Festival 2024 also auch, wie groß der Abstand zwischen einer Präsenzerfahrung und allen virtuellen Vorgesprächen ist. Sie erleben außerdem, auf intensivere Weise, den Prozess der Einstimmung, Einfühlung in die Arbeitsweise, die Rhythmen und Muster eines kreativen Gegenübers.

"Ein Musiker", erklärt Thomas Maos, "arbeitet in einem anderen Zeitraum als ein Videokünstler oder eine Tänzerin. Tänzer müssen physisch fit sein und sind, wenn es losgeht, bereits sehr fokussiert. Musiker spannen sehr viel größere Bögen. Diese Prozesse zu synchronisieren und eine gemeinsame Sprache zu finden, ist oft die größte Challenge." Beim Camp Festival treffen Musiker, Künstler aufeinander, die sich nie zuvor begegnet sind. Und sie alle bringen etwas mit, erschaffen etwas Neues.

Dan Wilcox stammt aus Alabama, lebt in Karlsruhe und tritt auf unter dem Namen "Robot Cowboy". Er vermischt in seiner Solo-Performance Computermusik, Punk und Rockabilly, er wird zum Cyborg der US-amerikanischen Pop-Kultur. "Eigentlich", sagt er, "bin ich eine One-Man-Band. Ich habe schon mit anderen Künstlern zusammengearbeitet, aber nicht in einer solchen Situation. Für mich war die größte Herausforderung hier, die Kontrolle über alles aufzugeben, und die größte Überraschung war, wie leicht mir das fiel." Auch Wilcox empfindet noch Anspannung, ehe die Performances beginnen. "Was wir heute Abend aufführen, konnten wir nicht einproben", sagt er. "Ganz gleich, was geschieht, ich möchte, dass es spannend bleibt."

Wilcox gehört zu jener Künstlergruppe, die gemeinsam mit Fried Dähn am E-Cello im dunklen Raum agiert. "In unserer Performance gibt es ein sehr dunkles Element", sagt er. "Unser Thema sind unsere Träume, wir spielen einen verstörenden Wachtraum in einem minimalistischen Bühnenbild."

Künstler:innen und Macher:innen, die beim Camp Festival 2024 kooperiert haben, erschufen drei Welten aus Licht, Klang, Tanz und Bewegung. Ihr Publikum folgt ihnen vom kunterbunten Pop Art-Elektro-Fantasy-Traum in die zerstörte Stadt, die von Noise-Musik und einer Bilderflut überzogen wird, bis ins dunkle, verborgene Innere, in dem eine Gestalt mit ihren Ängsten kämpft und schließlich doch ihr Gesicht entblößt: Eine Trilogie, ad hoc entstanden aus der Zusammenarbeit Unbekannter, in der sich viel vom Empfinden der Menschen in der Gegenwart widerspiegelt. Die Zuschauer:innen sind beeindruckt, werden absorbiert. Der Abend endet mit Musik, Projektionen, Tanzperformance mitten unter den Menschen, die später, in der Nacht, vor den Wagenhallen stehen.

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