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Fotosommer Stuttgart

Die Zeiten ändern sich

Fotosommer Stuttgart: Die Zeiten ändern sich
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Seit 22 Jahren gibt es den Stuttgarter Fotosommer. Mit dabei diesmal: Fotograf:innen des Verbands Freelens und damit auch Kontext-Fotograf Joachim E. Röttgers. Das Thema lautet: Transformation. Der dazu passende Ort: die Kirche St. Maria.

Ständig ändert sich was. In der Arbeitswelt, in der Politik, im Privatleben, in der Natur: Nichts bleibt, wie es ist. "Transformation" lautet das Thema des diesjährigen Stuttgarter Fotosommers, und das kann wie häufig bei solchen Themenstellungen buchstäblich alles und nichts bedeuten. Wenn etwa Victor S. Brigola die Einsätze von Pralinenschachteln, sogenannte Blisterpackungen, frontal aufnimmt, transformiert er sie damit zu abstrakten Kunstwerken, die von der goldglitzernden Ästhetik der Massenware immer noch etwas bewahren. Eine Kritik am Verpackungsmüll ist das noch nicht.

Anders bei Peter Oppenländer. Er zeigt – ebenfalls sehr ästhetisch – Plastikmüll an den Stränden, weist auf die Probleme der Massentierhaltung hin und visualisiert mit schmelzenden Eiswürfeln die Erderwärmung. So unterschiedlich sind die Beiträge der 19 Fotograf:innen des Verbands Freelens: Die einen arbeiten minimalistisch wie Margrit Müller, die in einer Serie von zwölf Schwarzweißfotos das Aufblühen, Wachsen und Verwelken von drei Tulpen in einer Vase festhält. Die anderen gesellschaftskritisch. Oder beides zugleich wie Dirk Wilhelmy, der mit drei an sich sehr schlichten Fotos von Wohnhochhäusern auch auf die zunehmende Sommerhitze infolge des Klimawandels hinweisen will.

In diesem Sommer findet der Stuttgarter Fotosommer zum zwölften Mal statt. Es gab ihn mal größer, mal kleiner, seit seiner Premiere 2002 mal in jährlichem, dann wieder in zwei- oder dreijährigem Abstand. Vor allem in den vergangenen Jahren will er nicht nur eine Leistungsschau sein wie die größere Biennale für aktuelle Fotografie in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg, sondern auch den kritischen Diskurs fördern, mediale Veränderungen in den Blick nehmen und "Fotografie als Medium zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen und Entwicklungen nutzen", wie es in der Ankündigung heißt.

Zum Thema Transformation hat der Verband Freelens einiges zu sagen. Wurde er doch 1995 gegründet, um nach eigenen Angaben "den fortschreitenden Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen von Fotograf:innen entgegenzuwirken". Ein Ort der Transformation ist auch die Kirche St. Maria, wo die 19 Fotograf:innen ausstellen. Die Gemeinde erprobt neue Wege, die Kirche über den sonntäglichen Gottesdienst hinaus auch für andere Zwecke zu öffnen. Wie zum Beispiel für eine Fotoausstellung.

Welche gesellschaftlichen Fragen und Entwicklungen sprechen die Freelens-Fotograf:innen nun an? Klimawandel und Plastikmüll wurden schon erwähnt. Nico Kurth hat sich dem BASF-Gelände in Ludwigshafen von außen genähert. Es handelt sich um das größte Chemiewerk der Welt auf einer Fläche von zehn Quadratkilometern mit 39.000 Mitarbeitern. Man sieht nicht, welche chemischen Transformationen im Inneren der labyrinthisch verschlungenen Rohre stattfinden. Aber man ahnt die gravierenden Auswirkungen auf die Umwelt.

Einst Industriehalle, nun Atelier

In zwei Betriebe hineinschauen konnten Christine Joos und Joachim E. Röttgers. Was keinesfalls selbstverständlich ist, wie Röttgers hervorhebt, der im Metallgusswerk Handtmann in Biberach freundlich aufgenommen wurde. Wo vor zehn Jahren noch vier bis sechs Menschen ein Produkt hergestellt oder an einer Maschine gearbeitet haben, bedient heute ein Mensch zwei Maschinen. Auch beim Vorhangschienenhersteller Helmo in Filderstadt – das Thema von Joos – arbeiten durch technischen Fortschritt nur noch wenige Menschen. In leeren Räumen stapeln sich die Aktenordner vergangener Zeiten. Einen Raum nutzt die Tochter des Inhabers als Kunstatelier.

Monika Johna hat sich den Menschen zugewandt, die durch die sozialen Maschen gefallen und nun auf die Vesperkirche angewiesen sind. Keineswegs eine Sackgasse: ein Raum, in dem Neues entsteht. Johna zeigt den Chor "rahmenlos & frei", der die Menschen verbindet und soziale Differenzen aufhebt, eine Tanzgruppe und wie eine Friseurin den Gästen der Vesperkirche gratis die Haare schneidet. Sie kommen als neue Menschen wieder heraus: eine erstaunliche Transformation.

Vor notwendigen Transformationen steht auch die Landwirtschaft. Gottfried Stoppel beschäftigt sich mit Forschungen der Uni Hohenheim zu Tierfutter. Erreicht werden soll, dass weniger Regenwald zugunsten von Soja abgeholzt wird, die Tiere artgerechter leben und weniger Methan ausscheiden.

Verena Koch porträtiert einen Bio-Koch in Hayingen auf der Schwäbischen Alb, der alle seine Zutaten aus einem Umkreis von 25 Kilometern bezieht.

Bei Kaffee ist das nicht möglich. Luca Siermann verfolgt dessen Produktion von der Ernte in El Salvador bis die dunkelbraune Flüssigkeit aus der Espressomaschine quillt.

Wie gehen Menschen mit den Veränderungen um? Thomas Rathay hat den Almabtrieb in Oberried im Südschwarzwald dokumentiert. Obwohl sich die Lebensumstände gegenüber früher stark verändert haben, bleibt etwas von den Traditionen erhalten. Das lässt sich vergleichen mit den Aufnahmen von Martina Wörz aus Japan: ein Land, das sich rapide in eine futuristische Hightech-Welt transformiert hat und trotzdem an seinen Traditionen festhält.

Zwei Pfeile und ein kopfstehendes Fahrrad-Piktogramm auf rotem Grund: Die Aufnahme, die Carina C. Kircher von der neuen Fahrradstraße in der Nähe ihrer Wohnung vom Fahrrad aus gemacht hat, sagt alles: Die Welt steht Kopf. Fahrradwege sind das Gebot der Stunde. Es gibt immer zwei Richtungen: Mehr Fahrräder heißt weniger Autos. Aber auch nicht gar keine Autos, sonst bräuchte es die Markierung nicht. In knappster Form fasst die Fotografin dies alles in einem Bild zusammen.


Der Stuttgarter Fotosommer läuft vom 19. bis zum 27. Juli. Die Hauptausstellung findet in der "Gällery" der Staatsgalerie Stuttgart statt, weitere Ausstellungen in 22 Galerien, Kulturinstituten und anderen Lokalitäten.

Die Ausstellung "Transformation" in der Kirche St. Maria mit Fotografien von Jörg Bongartz, Victor S. Brigola, Cordula Diebold, Christoph Hermann, Monika Johna, Christine Joos, Carina C. Kirchner, Nico Kurth, Margrit Müller, Verena Müller, Peter Oppenländer, Jan Potente, Christoph Puschner, Thomas Rathay, Joachim E. Röttgers und Luca Siermann eröffnet am Samstag, 20. Juli um 14 Uhr und läuft bis Sonntag, 28. Juli.

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