Eine Frau, schwarze Abendgarderobe, Spaghettiträger, nähert sich einem Flügel und streckt die Hand danach aus. Wenn das Instrument mit den weißen Tasten auf dem warmen, rötlichen Parkettboden für die deutsche (Hoch-)Kultur steht, scheint sie fast am Ziel, aber noch nicht ganz angekommen. Das Bild, das die Ausstellung des Fotografen Maziar Moradi im Ulmer Stadthaus einleitet, könnte den Titel illustrieren: "Ich werde deutsch".
Eine junge schwarze Frau sitzt in einer Wand von Käthe-Kruse-Puppen. Hätte sie gern solche Puppen gehabt? Oder hat sie sich nach einer helleren Haut gesehnt, um nicht aufzufallen? Die Geschichte ist eine andere: Jenny ist in Hamburg geboren. Im Alter von fünf Jahren schickte ihre Mutter sie zu ihrer Großmutter nach Ghana. Als sie nach Jahren zurückkehrte, hatte sie die deutsche Sprache verlernt. Weil ihre Mutter zu viel zu tun hatte, kam sie in eine Pflegefamilie, in der sie sich nicht sehr wohl fühlte. Später erfuhr sie, warum: Die Tochter der Pflegeeltern hatte sich gewünscht, dass ihre schwarze Puppe lebendig würde. Als Objekt, als lebende Puppe war sie in die Familie aufgenommen worden, nicht als Mensch.
Warum müssen Menschen "mit Migrationshintergrund" erst deutsch werden, auch wenn sie in Deutschland geboren sind? Wieso spricht man in Deutschland von Türken dritter Generation, während jede:r, der oder die in die USA einwandert, als First-Generation American gilt? Es ist ein ständiger Makel, nicht dazuzugehören, sich beweisen zu müssen, ausgegrenzt zu werden. Moradi, der im Alter von zehn Jahren aus dem Iran nach Deutschland kam, hat das selbst erlebt. Und er hat viele, denen es auch so geht, nach ihren Erfahrungen gefragt.
Moradi hat an der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) studiert und wäre eigentlich gern Filmregisseur geworden. Doch Film ist aufwendig, braucht viel Zeit, Fördermittel, ein großes Team. Als sich seine Familie wegen eines runden Geburtstags in Hamburg versammelte, fragte er sie nach ihren Erlebnissen in der Iranischen Revolution und dem anschließenden achtjährigen Iran-Irak-Krieg. Er kondensierte ihre Erzählungen zu großen Standbildern. So entstand seine Abschlussarbeit "1979".
Eine eingebildete Gemeinschaft
Die Serie "Ich werde deutsch" schließt daran an. Sie ist über Jahre hinweg entstanden. Nicht alle Geschichten, die Moradi zu hören bekam, hat er zu Fotos verdichtet. Und nicht alle Fotos, die in der Ausstellung zu sehen sind, brauchen wie das Bild von Jenny eine Erläuterung. Ein Heft mit Texten liegt aus: Erzählungen – mal ganz kurz, mal zwei, drei Seiten. Sie korrespondieren aber nicht mit den Fotos. Bilder wie Texte lösen ein Kopfkino aus. Das ist Moradis Talent.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!