Im Halbschlaf ist er mir dann plötzlich eingefallen: der Fritz, ein Autist, ein ganz naiver Mensch, fromm, eine kindliche Seele. Ein krasser Kontrast zum schillernden, atheistischen Individuum Wagner. Gemeinsam ist ihnen allerdings die Liebe zur Literatur, die Fritz intuitiv speichern kann. Was er liest oder auch hört, behält er. Da ihm Wagner seine Lebensgeschichte immer wieder zwanghaft erzählen muss, wird Fritz zum Erzähl- und Spielpartner. Er gewinnt dadurch Macht über Wagner. Wagner versucht, Fritz immer wieder hereinzulegen. Aber das schafft er nicht. Im Gegenteil: Fritz plagt ihn mit seinen Fragen. Er dringt in Wagner ein, kommt ihm dadurch auch näher. Er will wissen: Warum hast du deine Kinder getötet? Wie hast du es gemacht? Was hast du dabei gefühlt und gedacht? Es ist für Fritz absolut unvorstellbar, dass jemand seine eigenen Kinder tötet. So geht es mir auch. Ich glaube nicht, dass er seine Kinder umgebracht hat, ohne sich nachher mit dieser fürchterlichen Tat auseinanderzusetzen. In diesen Fragen bin ich ganz der Fritz.
Kann man von Wagner auf andere Amokläufer schließen? Wagner ist 1938 in der Heilanstalt Winnental gestorben. Das liegt in der Nähe von Winnenden. Da kommt einem ein anderer Amoklauf in den Sinn, bei dem 2009 fünfzehn Menschen getötet wurden.
Vergleiche sind da schwierig, denke ich. Jeder Amoklauf ist eine Singularität. Wagner war krank. Andererseits war er auch ein ganz normal empfindender Mensch. Wir können uns diese Krankheiten im Kopf einfach nicht wirklich vorstellen. Was fühlt so jemand, was denkt er, was plant er, was bringt ihn dazu? So eine Psyche begreifen zu wollen, ist eine unglaubliche Herausforderung. Wir sind doch alle irgendwo ein bisschen paranoid, ein bisschen größenwahnsinnig. Das gehört zu einer normalen Psyche fast mit dazu. Wie schnell missdeutet man das Verhalten anderer Menschen? Das passiert mir auch gelegentlich. Wenn man ein schlechtes Gewissen hat, kann es schnell geschehen, dass man sich beobachtet und bewertet fühlt. Wagner hat das eben permanent so empfunden. Die Krankheit hat die Stimmen der Menschen um ihn herum vergrößert. Er musste sie auf sich beziehen und als Hohn und Spott interpretieren. Lachen wurde für ihn ein demütigendes Auslachen. Die Morde in Mühlhausen waren für ihn eine Rache, aber auch der Versuch, sich von den Stimmen, die ihn verfolgten, zu befreien. Aber wo beginnt der Wahnsinn? Wo endet die Normalität? Wo ist die Grenze? Der Wagner ist mir ein Rätsel, das ich nicht lösen kann.
Jörg Ehnis "Wagner und Fritz" sollte am kommenden Sonntag, dem 27. September an der Württembergischen Landesbühne Esslingen uraufgeführt werden, wurde aber nun kurzfristig auf Frühjahr 2021 verschoben, mit der Begründung: "Ehnis Stück bedarf einer großen emotionalen Kraft, die das Ensemble unter den aktuellen Hygienevorgaben nicht aufbringen darf, da es sonst sich selbst und das Publikum gefährden würde."
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