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Die Kraft der Musik

Die Kraft der Musik
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Der Stuttgarter Verein "Yehudi Menuhin – Live Music Now" bringt klassische Musik in Seniorenheime, Hospize und Gefängnisse. Und erntet dafür ehrliche Komplimente, Lachen, das von Herzen kommt, und manchmal auch eine Träne.

Die eine oder andere Dame gönnt sich noch ein Sektchen, das am Saaleingang bereit steht, und als es an diesem Novembernachmittag auf halb vier zugeht, zieht es auch die letzten – mit oder ohne Gehhilfe – in den Festsaal, wo andere schon geduldig warten. Die Stuhlreihen sind dicht besetzt, flugs schiebt eine Pflegerin noch einen Herrn im Rollstuhl in die letzte Reihe. Gespannte Stille herrscht im hellen, weiträumigen Festsaal des Seniorenzentrums Martha-Maria im Stuttgarter Norden. Gleich beginnt das Konzert.

Ein paar Menschen in Rollstühlen scheinen zu schlummern. Aber die meisten der gut 60 Ohrenpaare sind gespitzt, warten auf den ersten Ton. Und dann füllt sie langsam den Raum: diese warme, anrührende Stimme der Klarinette. Stolz gleitet der berühmte "Schwan" von Camille Saint-Saëns dahin, getragen von sanft plätschernden Wellen, die tonmalerisch aus dem Flügel strömen. "Wunderbar!", raunt eine alte Dame in der ersten Reihe, als der letzte Ton des kurzen Stücks verklungen ist.

Dass dieses Konzert stattfinden kann, verdankt sich der Arbeit des Stuttgarter Vereins "Yehudi Menuhin –  Live Music Now" (LMN). Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, Musik zu denen zu bringen, die nicht mehr selbst in Konzerte gehen können – entweder weil sie zu alt und gebrechlich oder schwer krank sind, oder weil sie Haftstrafen zu verbüßen haben: LMN geht in Altenheime, Hospize und Gefängnisse. Der Verein hat sich ein Zitat seines Namensgebers Yehudi Menuhin auf die Fahne geschrieben: "Musik heilt, tröstet und bringt Freude".

Für die Einrichtungen und das Publikum sind die Konzerte kostenlos. Der Verein ist gemeinnützig, die 30 Mitglieder arbeiten ausschließlich ehrenamtlich. Für die Musik sorgen angehende Profis, die meist im Duo auftreten: LMN arbeitet eng mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart zusammen. In Vorspielen werden Studierende ausgewählt, die dann im Rahmen eines Stipendienprogramms finanzielle Förderung erhalten. Die Höhe bemesse sich an der Zahl der gespielten Konzerte, erklärt der Vorsitzende von LMN, Jürgen Bretthauer, Nachfolger der 2018 verstorbenen Susanne Eva-Maria Gräfin Adelmann von Adelmannsfelden, die den Stuttgarter Verein 2006 gegründet hat. 2019 etwa veranstaltet LMN 132 Konzerte, außerdem ein öffentliches Benefizkonzert. Die entstandenen Kosten von 38 000 Euro werden gedeckt durch Spenden, den Freundeskreis, Förderer und die Stadt Stuttgart.

Musik mit Seele

Der Vortragssaal unterm gewölbten Dach von Martha-Maria ist verglast, so dass man den Blick schweifen lassen kann über die Stadt und herbstlich bunt eingefärbte Baumwipfel. Aber das Publikum ist ganz eingenommen von den beiden so harmonisch und seelenvoll miteinander musizierenden jungen Leute: von dem Klarinettisten Adam Ambarzumjan und der Pianistin Melis Ertürk. Einige haben die Augen geschlossen, um sich besser konzentrieren zu können. So manch eine hat sich schick gemacht. Eine Frau mit akkurat geschnittenem Bob wiegt ein wenig mit, als die Klarinette Schuberts "Forelle" anstimmt. Eine Dame, die es sich in ihrem Rollstuhl gemütlich gemacht hat mit ihrem kleinen braun-weißen Stofflama, das sie fest umschlungen hält, hört gespannt zu. Manchmal flüstert sie der neben ihr sitzenden Pflegerin etwas zu. Ein alter Herr scheint in seinem Rollstuhl eingeschlafen. Manchmal quält ihn ein kurzer und heftiger Hustenreiz. Obwohl er völlig abwesend wirkt, hustet er immer genau zwischen den Pausen der Stücke, als bekäme er doch mit, was um ihn herum geschieht.

Musik habe gerade auf Menschen mit Demenz eine starke Wirkung, erklärt Michael Mey, leitender Betreuer im Martha-Maria. "Menschen, die sich sonst an gar nichts mehr erinnern können", sagt er, "nicht mehr wissen, welchen Beruf sie ausgeübt oder ob sie Kinder haben, reagieren auf Dur- und Moll-Stimmungen oder singen plötzlich textsicher ein Lied mit." Musik scheine so abgespeichert, dass sie immer wieder erinnerbar sei.

Lo Hoffmann hat das Konzert in Martha-Maria auf die Beine gestellt. Hoffmann ist eine der 15 Ehrenamtlichen, die für LMN Stuttgart die Konzerte organisieren und betreuen. Sie macht das mit Leidenschaft, die in jedem ihrer Worte mitschwingt. Die elegante, jünger wirkende 79-Jährige ist seit mehr als zehn Jahren dabei. Man tue etwas Gutes, weil man etwas zurückgeben könne.

Durch eine Freundin kam sie zu LMN. Seitdem verantwortet sie jedes Jahr 15 Konzerte. "Letzte Woche habe ich in einem Seniorenheim mein 31. Konzert organisiert. Ich werde dort wie eine alte Freundin empfangen, die zu Besuch kommt", sagt sie, und dann, etwas wehmütig: "Aber es fehlt halt jedes Mal jemand. So ist das eben in Altenheimen." Motivation sei für sie, dass sich "die alten Menschen so sehr freuen, wenn wir zu ihnen kommen. Dass ist für sie eine angenehme Abwechslung in ihrem Heimalltag." Sie erinnert sich an ein Konzert, in dem ein Sänger die Arie "Dunkelrote Rosen bring ich, schöne Frau" zum Besten gab: "Da hab ich beobachtet, wie alle Damen gelächelt haben. Ich hatte dem Sänger eine Rose als Requisit mitgebracht. Und ich glaube, jede der alten Damen hat gehofft, dass sie diese Rose am Ende bekommt." Großen Spaß macht ihr aber auch das Zusammenwirken mit den jungen Studierenden. Dafür nimmt sie viel Arbeit in Kauf, koordiniert etwa die Termine mit den Einrichtungen und den StipendiatInnnen, spricht die Programme ab, betreut das Konzert vor Ort. 

Auf der Bühne erklärt Adam Ambarzumjan jetzt die Unterschiede zwischen A- und B-Klarinetten: Je länger sie seien, desto tiefer klingen sie. Die Klarinette gelte das Instrument, dass der menschlichen Stimme am ähnlichsten sei. "Deshalb dürfen Sie gleich auch alle mitsingen!" Es erklingt das getragene sehnsuchtsvolle Adagio aus Mozarts Klarinettenkonzert. Und einige summen tatsächlich leise mit.

Ein Publikum aller Schichten und Bewusstseinsstufen

Das Programm aus kurzen, teils auch sehr bekannten Stücken scheint trefflich auf das Publikum zugeschnitten. Lo Hoffmann kann da auf ihre langjährige Erfahrung vertrauen. Sie erinnert sich an ihr erstes Konzert: "Die junge Pianistin hat brillant gespielt … und gespielt und gespielt. Und als sie fertig war, hab ich an den Lippen eines alten Herrn ablesen können: ‚Jetzt bin ich aber froh, dass’s fertig isch.‘" Das Stück war zu komplex und zu lang. "Da hab ich mir gesagt, so was darf mir nie wieder passieren."

Für die jungen MusikerInnen  scheint es eine ganz besondere Erfahrung zu sein, vor einem solchen Publikum – eines aller Schichten, aller Bewusstseinsstufen – zu spielen. Melis Ertürk (26) und Adam Ambarzumjan (22) haben sich über die Arbeit für LMN kennergelernt. Seit eineinhalb Jahren sind sie mit dabei. Ambarzumjan sagt: "Man kann das nicht mit dem 'normalen' Konzertalltag vergleichen. Es ist bei LMN etwas ganz anderes, man ist sehr nah dran am Publikum. Sonst spielen wir auf Bühnen, wo wir das Publikum nicht sehen, weil es abgedunkelt ist, kulturinteressierte Zuhörer, die ständig ins Konzert gehen. Für sie ist das Alltag." Und Ertürk sagt: "Hier sehen wir in den Augen der Leute, dass unsere Musik Freude bringt. Sie sind jedes Mal so dankbar. Das Gefühl haben wir in anderen Konzerten nicht immer", lacht sie, "da müssen wir auch mal mit schlechten Kritiken leben." Hier merke man sofort die Wirkung, und was das Publikum fühle und denke. "Sie äußern sich oft auch sehr direkt", ergänzt der Klarinettist, "es wird auch gerne mal reingerufen. Wo haben wir das sonst? Da fließen auch mal Tränen. Und sie reden auch mit uns nach den Konzerten. Für die Menschen hier ist es etwas ganz Besonderes."

So auch für Therese Oppenländer (82) und Ursula Veith (80). "Wenn de mol 80 bisch", sagt Veith, "da bisch koi Teenager mehr. Spätläse!" Sie strahlen. Ihnen hat das Konzert sehr gut gefallen, vor allem das Adagio von Mozart. Wenn’s nach ihnen ginge, könnte LMN jede Woche hierherkommen. Veith hatte früher eine "Miete am Theater". Sie liebt die Operette – "weil man do mitsinge ko, wenn’s pressiert". "Nee, mit Operette habe ich nichts am Hut", erwidert Oppenländer, "die ist so … blabla. Ich mag lieber schwere Musik". Beide leben seit zwei Jahren im Martha-Maria. Oppenländer war Angestellte einer großen Matratzenfabrik in Pleidelsheim. "46 Jahre hab ich da geschafft." Veith war Hausfrau: "Drei Kinder, neun Enkel, fünf Urenkel", zählt sie stolz auf. Oppenländer hat "Ziehharmonika" gespielt, als sie "noch jung war", Veith Klavier. "Mit sechs Jahren hab ich anfangen müssen", erklärt sie, "mein Vater hat das unbedingt gewollt. Der war ein guter Akkordeon- und Klavierspieler. Und ich sollte das übernehmen." Das Akkordeon sei aber schnell verwaist, sagt sie, das Klavier habe "man grad’ noch zum Abstauben daheim gehabt". "Mit sechs Jahren, als andere draußen gespielt haben, hab ich müssen Etüden üben, rauf und runter", berichtet sie, "Furchtbar!" Nach zwei Jahren habe sie hingeschmissen.

Yehudi Menuhin – Geigenstar, Weltbürger, humanitärer Botschafter – wurde am 22. April 1916 in New York als Sohn russisch-jüdischer Migranten geboren. Er setzte sich nach 1945 für die Versöhnung von Juden und Deutschen ein und war der erste jüdische Musiker, der wieder Konzerte in Deutschland spielte. Sein Credo von der Musik als heilende und tröstende Kraft entsprang seinen Erfahrungen, die er in außergewöhnlichen Konzertsituationen gemacht hatte: Während des Zweiten Weltkrieges konzertierte er immer wieder vor Soldaten der alliierten Truppen, in Lazaretten und 1945 vor Überlebenden der Konzentrationslager.

Menuhin setzte sich lebenslang dafür ein, klassische Musik nicht dem elitären Kunstgenuss zu überlassen, sondern allen zugänglich zu machen und sie als positive Kraft in einer humanen Gesellschaft wirken zu lassen. Dafür gründete er unterschiedliche soziokulturelle, karitative Einrichtungen. "Live Music Now" rief Menuhin 1977 zuerst in Großbritannien ins Leben. Diese Initiative schickt MusikerInnen an Orte mit Menschen, die nicht ins Konzert gehen können: Altenheime, Krankenhäuser, Hospize, Waisenhäuser, Gefängnisse, Einrichtungen für Obdachlose und Menschen mit Behinderung.

Der erste deutsche LMN-Verein gründete sich 1992 in München noch unter der Mitwirkung des 1999 in Berlin verstorbenen Namensgebers. Mittlerweile gibt es 20 von ihnen in unterschiedlichen Städten und Regionen. Sie arbeiten jeweils unabhängig voneinander, treffen sich aber einmal im Jahr zum Austausch. Verbindlich ist für alle die noch von Menuhin selbst initiierte Vereinssatzung: Pflicht ist die ehrenamtliche Arbeit und die Förderung der jungen MusikerInnen, das gemeinsame Logo und dass die Konzerte den Einrichtungen kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Den Ehrenvorsitz übernahm nach dem Tod ihres Vaters Zamira Menuhin-Benthall. (vg)


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