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Das Rezept ihres Erfolges

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Sie ist eine international gefeierte Mezzosopranistin und Publikumsliebling der Stuttgarter Staatsoper. Corona hat Helene Schneiderman ausgebremst wie viele KünstlerInnen. Die Laune lässt sich die gebürtige Amerikanerin aber nicht verderben.

Brownies und Erdnusskekse hat Helene Schneiderman gebacken. Die kleine, schlanke Frau mit den freundlichen Augen, in denen immer auch Mutterwitz funkelt, begrüßt uns herzlich. Sie sei derzeit sehr häuslich, sagt sie. Der Corona-Shutdown habe sie in London erwischt, mitten in den Proben zu Janáčeks "Jenůfa" am Royal Opera House Covent Garden. Die Premiere dort wurde genauso abgesagt wie die konzertante Aufführung von Rossinis Oper "Le comte Ory", in der die Mezzosopranistin Ende April in München hätte auftreten sollen. Auch Bellinis "La sonnambula" an der Deutschen Oper in Berlin, wo sie im Juni die Partie der Teresa hätte singen sollen, wird nicht stattfinden.

Also sitzen wir Kaffee trinkend auf der Terrasse ihrer Villa Kunterbunt, die ein wilder Garten umgibt. "Es ist bei uns halt urig", sagt Schneiderman, die hier zusammen mit ihrem Gatten Michael Flamme lebt. Die beiden Töchter Lara (27) und Liviya (30) sind längst ausgeflogen. Im Musikzimmer, wo Schneiderman ihren Privatschülerinnen Gesangsunterricht gibt, schmiegen sich zwei in die Jahre gekommene Flügel aneinander. Die Wände sind voller Familienfotos und Poster von Auftritten Schneidermans. Auf einer Staffelei steht ein großes Ölporträt einer unbekannten jungen Dame, ein Werk von Dietrich Flamme, dem Künstler-Vater ihres Mannes. Die Front des Hauses ziert ein fetter Engel. Er thront zwischen verwitterten Styropor-Lettern, die ihr Mann dort einst liebevoll montiert hat: "hateau" und "Helèn" liest man. Das C des "Chateau" ist schon abgefallen und das E am Ende ihres Namens auch.

Man braucht Helene Schneiderman nur eine kurze Frage zu stellen, dann sprudelt es fröhlich heraus aus ihr. Sie erzählt von ihren Engagements im Herbst, von Premieren und Produktionen, bei denen nach wie vor nicht klar ist, ob sie wirklich stattfinden werden: "Figaros Hochzeit" im kanadischen Toronto, "Cavalleria rusticana" in Stuttgart, Liederabende in Berlin. Anfang 2021 soll sie dann die Mirabella im "Zigeunerbaron" an der Komischen Oper Berlin singen. Alles ungewiss, aber Schneiderman hat stets auch einen Plan B und C in der Tasche.

Corona machte aus der 1-A-Sängerin eine 1-A-Hausfrau

Dass die Mezzosopranistin eigentlich im Rentenalter ist, mag man nicht glauben. Sie glänzt nach wie vor mit einer exzellenten Gesangstechnik, mit schönen Farben, blitzblanken Koloraturen. Da sitzt jeder Ton. Und auch ihre darstellerische Kraft zieht das Publikum stets in Bann. Sie wirft sich spielwütig in die Rollen, auch wenn sie kleiner sind. Etwa als Suzuki, Madame Butterflys Dienerin. In der Stuttgarter Inszenierung der Puccini-Oper ist sie die gesamten zweieinhalb Stunden auf der Bühne, agiert als eine Art Stimmungsbarometer, das immer dunklere Wolken aufziehen sieht.

Eigentlich wäre Schneiderman jetzt in den USA, ihrer ersten Heimat. Sie hätte einen Meisterkurs in Cincinnati gegeben und ihre Brüder in Kalifornien und New Jersey besucht. Dank Corona sei sie derzeit aber eine 1-A-Hausfrau, sagt sie lachend. Zudem werde sie in der Stuttgarter Oper gebraucht. Zwar bleibt das Opernhaus bis zum Spielzeitende fürs Publikum geschlossen. Aber dafür gibt es ein Theater-Parcour-Projekt aller Sparten, Musiktheaterveranstaltungen auf dem Cannstatter Wasen und Konzerte in kleinem Rahmen. So wird Schneiderman am 26. Juli einen Liederabend im Mozartsaal geben.

Zudem hält die Oper den Kontakt zum Publikum über ein umfangreiches Online-Programm. In einem Videoclip ist sie in einer schön schrägen Nummer zu sehen, die Operetten-Style mit Wagners Rheintöchter-Trio kreuzt. "Rheingold, Rheingold! Weia! Waga! Woge, du Welle", singt Schneiderman jetzt lautstark, wie sie überhaupt gerne singend zitiert, wenn sie über ihre Rollen spricht.

Seit 1984 ist Schneiderman Ensemblemitglied der Stuttgarter Staatsoper. Geboren wurde sie 1954 in New Jersey, auf einer Hühnerfarm, als drittes von vier Kindern. Die Farm hatten ihre Eltern 1950 gekauft – als Lebensgrundlage für den Neuanfang. Sie waren aus Europa in die USA emigriert, Überlebende des Holocaust.

Deutsche Bühnen gaben der US-Bürgerin eine Chance

Stuttgart bis heute treu geblieben

Helene Schneiderman zählt zu den international renommierten lyrischen Mezzosopranen. Ihr Repertoire umfasst (neben den großen Oratorien und diversen Liedern) über 75 Opernpartien, darunter Werke von Monteverdi, Jommelli und Händel, Mozart, Bizet und Rossini, außerdem Strauss' "Rosenkavalier" und Hölszkys "Bremer Freiheit". Sie studierte am Westminster Choir College in Princeton und am College-Conservatory of Music der University of Cincinnati. Nach ihrer Gesangsausbildung führte sie ihr erstes Engagement 1982 nach Deutschland an das Theater Heidelberg, zwei Jahre später wechselte sie an die Staatsoper Stuttgart, wo sie 1998 zur Kammersängerin ernannt wurde. Sie ist der Staatsoper Stuttgart bis heute treu geblieben.

Gast-Engagements brachten Schneiderman unter anderem an die Mailänder Scala, die New Yorker Met, die New York City Opera, das Royal Opera House Covent Garden in London, die Opéra national de Paris sowie an die Opernhäuser in Berlin, Dresden, München, Wien, Rom, Madrid, Barcelona, Tel Aviv und San Francisco. Helene Schneiderman wurde für ihre Arbeit vielfach ausgezeichnet, so etwa 2010 mit dem Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg. Für ihre Verdienste um die christlich-jüdische Zusammenarbeit wurde sie 2008 mit der Otto-Hirsch-Medaille geehrt.  (vg)

Helenes Mutter Judith stammt aus dem tschechischen, später ungarischen Karpatendorf Rachiw (heute Ukraine). Die orthodox-jüdische Familie Rosenberg unterhielt dort einen Feinkostladen. 1944 besetzt die deutsche Wehrmacht Ungarn. Judith ist damals 15 Jahre alt. Sie wird zusammen mit ihrer Familie nach Auschwitz deportiert. Die Eltern und zwei ihrer sieben Geschwister werden dort ermordet. Judith selbst überlebt vor allem deshalb, weil KZ-Aufseher auf ihre außergewöhnliche Stimme aufmerksam werden. Zur Unterhaltung von SS-Offizieren muss sie nun deutsche Lieder singen. Sie hat ihre Lebensgeschichte niedergeschrieben und 2009 veröffentlicht: "I sang to survive". Die Tochter hat diese Lebenserinnerungen zur Grundlage eines Liederabends gemacht, eine berührende Hommage an ihre Mutter.

Ihre Eltern haben sich 1945 in einem der großen Displaced-Person-Lager in Landsberg am Lech kennengelernt. Judith und Pinek, ein polnischer Jude, wurden bald ein Paar und spielten gemeinsam in einer jiddischen Theatergruppe. In Stuttgart sei die Gruppe auch im Gebäude der Oper aufgetreten. "Sie haben gemeinsam auf meiner Bühne gestanden!", sagt Schneiderman, und man merkt, dass ihr das nahe geht.

Als Helene 1982 nach Deutschland ging, war das für die Eltern emotional schwer zu ertragen. Es gibt nur wenige Opernhäuser in den USA, da bot ihr Deutschland mit seiner vielfältigen Theaterlandschaft eine Riesenchance. Schon beim zweiten Vorsingen, in Heidelberg, klappte es mit der Festanstellung. Und zwei Jahre später wechselte sie nach Stuttgart. Ihre Eltern hätten ihre Entscheidung nach und nach akzeptiert. "'Bleib, solange du dort arbeiten kannst', haben sie gesagt. 'Die Deutschen haben uns viel genommen. Jetzt bekommst du ein bisschen was zurück.' Sie haben mich auch als Botschafterin gesehen."

In der Zwischenzeit ist Tochter Lara auf die Terrasse gekommen. Sie schaut bei ihren Eltern regelmäßig vorbei, liefert jetzt den Familienhund Anni wieder ab. Schneiderman switcht sofort ins Englische. Das ist die Sprache zwischen Mutter und Töchtern. Gerne mischt Schneiderman beide Sprachen. Es vereinfache die Sache doch, wenn man "Meet me at the Pförtner" sage. "Genglish" (German-English) nenne man das. Mit ihrem Mann, der aus Heidelberg stammt, spricht sie ausschließlich Deutsch. Sie singt: "Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren!"

Der Antisemitismus in Deutschland macht ihr Angst

Die Kinder wären schon früh zuverlässige "Babbel-Google-Übersetzerinnen" gewesen, erzählt Schneiderman lachend. "Sagte ich Liviya: 'Call daddy for dinner', rief sie: 'Daddy, das Essen ist fertig!', 'Sag Mammi, ich komme gleich!', 'He’s coming in a minute!'" Für Lara ist Deutsch "eher eine Schul- und Aufwachssprache". "Meine Muttersprache", sagt sie, "ist Englisch und auf jeden Fall die Sprache der Liebe. Mein Partner sollte gut Englisch sprechen können."

Die Töchter sind in der jüdischen Tradition, mit ihren Bräuchen und Feiertagen, groß geworden. Ob ihnen die neue Welle des Antisemitismus in Deutschland Angst mache? "Ja, das macht mir Angst", erwidert Schneiderman, "es ist traurig, dass man sich in einer Synagoge nur sicher fühlt, wenn Polizisten davorstehen. Aber ich fühle mich in Stuttgart sehr wohl. Ich bete und hoffe eben, dass nichts Schlimmes mehr passiert. Und ich bin froh, dass meine Eltern das nicht mehr erleben müssen."

Ihre Tochter Lara sieht das ähnlich. Sie trägt gerne einen Davidstern-Anhänger, aber sie tut es selten. Sie sagt, wenn sie ihn trage, verhalte sie sich automatisch besonders freundlich, damit bloß niemand auf die Idee komme, einen negativen Zusammenhang herzustellen zwischen ihrem Schmuckstück und ihrem Auftreten und Äußeren. "Da ich mich in einem gebildeten und mit einem gewissen Tiefsinn ausgestatteten Umfeld bewege, erlebe ich im Alltag, wenn ich meine jüdische Herkunft thematisiere, aber eher Interesse als negative Reaktionen", sagt sie.

Helene Schneiderman lebt den Traum ihrer Mutter

Schneidermans Mutter Judith war eine leidenschaftliche Sängerin. Ihre Lebensumstände verhinderten, dass sie ihren Traum zum Beruf machen konnte. Helene lebt den Traum ihrer Mutter. Und Liviya und Lara führen die Tradition auf ihre Weise fort. Liviya geht in Richtung Jazz und Lounge. Sie studiert an der Pop-Akademie in Mannheim. Lara ist der Oper und dem Gesang eng verbunden, aber sie geht beruflich in eine andere Richtung. Sie hat gerade ihren Abschluss als Sexologin gemacht.

Dass OpernsängerInnen so lange auf der Bühne glänzen wie Schneiderman, ist äußerst selten. Hat sie Tipps parat? Das Wichtigste sei, keine Angst zu haben, ein Rollenangebot auszuschlagen. Die eigene Stimme richtig einzuschätzen und dementsprechend damit zu haushalten. "Ich habe alle Rossini-Partien gesungen, weil sie meine besonderen Qualitäten offenbaren: meine Koloraturen etwa, aber auch meine schauspielerische Begabung." Klar, dass sich mit dem Alter die Rollen mehr ins Charakterfach verlegen. "Früher dachte ich, mit 60 habe man alles gesungen, da käme nichts Neues mehr dazu. Aber das stimmt überhaupt nicht. Früher habe ich in Mozarts 'Hochzeit des Figaro' den jungen Cherubino gesungen. Jetzt spiele ich Marcellina, die Mutter von Figaro. Es gibt in den Opern oft mehrere Rollen, in die man hineinwachsen kann."

Wagner? Nein, das hätte ihre Stimme viel zu sehr belastet. Schließlich sei ihr Stimmfach lyrischer Mezzosopran. "Aber die Salome, die hätte ich ja schon ganz gerne gesungen. Ich liebe Richard Strauss!" Sie singt: "Ich will den Kopf des Jochanaan in einer Silberschüssel haben" und hebt dabei das Tablett, mit dem sie zuvor Kaffee und Brownies in den Garten gebracht hat, in die Höhe.

Die charmante und clevere Rosina in Rossinis "Il barbiere di Siviglia" zu singen, mache Spaß, sagt sie, aber niemand träume von dieser Rolle. Von Salome schon. Aber das dürfe man ja wohl: von etwas träumen. "Ich wäre früher ja auch gerne mal mit Brad Pitt ausgegangen. Aber hallo, oder?"


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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 11 Stunden
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