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Transparente Nasszellen

Von WikiLeaks zu PipiLeaks

Transparente Nasszellen: Von WikiLeaks zu PipiLeaks
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Unsere Zeit ist reich an innenarchitektonischen Schrecken. Ob pseudoavantgardistische Wandvertäfelungen bei McDonald's oder neurotische Barbiecore-Möblierungen – nur wer über eine robuste ästhetische Resilienz verfügt, übersteht die überdesignte Gegenwart ohne seelische Schäden. Ein Schrecken übertrifft alle anderen: der Trend zu transparenten Nasszellen in Hotelzimmern.

In den letzten Jahren sind viele, insbesondere trendig-stilbewusste Unterkünfte dazu übergegangen, terrariumsartige Badezimmer und Toiletten in ihren Zimmern zu installieren – trotz tapferer feuilletonistischer Warnhinweise wie diesem hier. Allein, die Sache ist zu wichtig, um schon aufzugeben. Die Zivilcourage gebietet es, alles publizistisch Mögliche zu tun, um weiteres Unglück von der reisenden Bevölkerung abzuwenden.

Meist sind die neuen Kabäuschen touristischer Hygiene nicht nur optisch transparent, sondern auch vermittels diverser Ritzen schall- und geruchsdurchlässig gestaltet. Anblicke, Gerüche, Geräusche, alles muss raus. Wer sich in einem solchen Glaskasten wie ein menschlicher Gecko die Zähne putzt, duscht, defäkiert oder andere Dinge tut, die Menschen im Privatissimum der Nasszelle so zu tun pflegen, tut dies nicht mehr an einem der letzten Zufluchtsorte der Privatsphäre, die uns in der 24/7-Überwachungsgesellschaft geblieben sind. Vielmehr tut er es als gläserner Reisender in einer Umgebung, die in mehrfacher Hinsicht symbolisch für unsere Gegenwart ist.

In der transparenten Nasszelle spiegelt sich der Trend zur Enttabuisierung in liberalen und individualistischen Gesellschaften. Es gibt nichts, wofür sich das westliche Konsumbürgertum noch schämen müsste, weder für die Absonderung fauler Meinungen, die man vor allem in den sozialen Netzwerken ja wohl noch mal sagen darf!, noch für Körpergerüche oder Körperausscheidungsgeräusche. "Normalisierung!", lautet das Gebot der Stunde. Und wenn jemand das anders sieht, dann nudget ihn die Nasszelle wie ein architekturgewordenes Framing Manual eben zur Body Positivity. Wer nicht alles von sich und an sich voller Stolz mit seiner Umwelt teilt, wer sich sogar ziert, vor dem vertrauten Partner einen sanitären Striptease hinzulegen, sollte sich schnell in Therapie begeben. Die seit 1999 international ausgestrahlte Big-Brother-Show lässt grüßen. In den Hotelzimmern spiegelt sich im Kleinen das medienöffentliche Große.

Der Ursprung? Die Bibel!

Zum Ideal der Enttabuisierung kommt das der Transparenz. Enthüllung ist progressiv und demokratisch! Auf WikiLeaks folgen die PipiLeaks. Ist es nicht beängstigend, nicht zu wissen, was der Partner in der Nasszelle treibt? Textet er heimlich mit der schlüpfrigen Gisela? Bastelt er vielleicht an einer Bombe? Oder schlimmer noch: Wäscht er sich nach dem Stuhlgang nicht die Hände? Wer auch nur den Anschein erweckt, man habe Geheimnisse, gehört, seien wir ehrlich, auf eine Terrorliste. Nur diejenigen, die etwas zu verbergen haben, duschen ohne Aufsicht.

So, wie man in der Beichte vor Gott die Seele zu entblößen hat, hat man nun im Hotel vor Gottes profanierten Ebenbildern den Körper zu entblößen. Denn so, wie Gott alles in der Welt sehen kann, strebt die sich selbst vergöttlichende moderne Gesellschaft danach, stets aller ihrer Bestandteile ansichtig zu werden, ob durch bauchfreie Tops, Überwachungskameras, Tracking-Tools oder eben transparente Nasszellen. Dieses zur Struktur geronnene Misstrauen, diese formgewordene Verborgenheitsphobie hat durchaus apokalyptische Züge. In der "Offenbarung des Johannes", dem letzten Buch des Neuen Testaments, leben die Menschen nach dem Jüngsten Gericht in einer transparenten Stadt, dem "Neuen Jerusalem": "Wie aus klarem Glas" oder "wie ein kristallklarer Jaspis" ist diese Jenseitsresidenz. Sogar Gott selbst bezieht dort ein – vermutlich aus durchsichtigem Polymer gefertigtes – "Zelt" und wohnt mitten unter seinen Geschöpfen. Wer wissen will, was die metaphysischen Ursprünge des Ideals vom gläsernen Bürger sind – voilà. "Apokalypse" bedeutete ursprünglich übrigens "Enthüllung". Vielleicht ist die Sache aber auch säkulareren Ursprungs und der alte Sponti-Slogan "das Private ist politisch" erfährt in der Nasszelle eine konsequente Aktualisierung. Wer will als mündiger Bürger schon eine Politik, die sich hinter verschlossene Türen zurückzieht und ihre Geschäfte im Verborgenen verrichtet?

Auch die Frivolisierung und Pornografisierung der westlichen Gesellschaften hat ihr Pendant in der transparenten Nasszelle. Die Pornografie ist in den Oversexed-and-Underfucked-Populationen dank offenem Internet und mobilen Endgeräten omnipräsent. Da wäre es doch seltsam, wenn die dritte Dimension nicht nachzöge. Das Hochamt der Intimität ist erst erreicht, wenn es keine Intimität mehr gibt; wenn alles gonzo ist. Der enthaarte Intimbereich ist dem Körper, was die transparente Nasszelle dem Hotelzimmer ist. Auf geradezu didaktische Weise fordern beide dazu auf, allerlei kleinen Perversionen freien Lauf zu lassen. Im Wohnbereich verfolgt der Partner das Geschehen in der Dusche, am Waschbecken und auf der Toilette wie ein Spanner aus elektrisierender Distanz oder wie einst eine Besucherin im schützenden Halbdunkel des Pornokinos. Danach geht es mit der Yogamatte in den Fitness- und Wellnessbereich, wo der Körper im buchstäblichen wie auch übertragenen Sinne "in Form" gebracht wird: "Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit", schrieb Friedrich Nietzsche in "Also sprach Zarathustra".

Gleichzeitig gilt, dass die Perversion nicht mehr pervers ist. Auch sie ist enttabuisiert und normalisiert worden. Der 2011 von einem Shitstorm Sittenbewegter begleitete Werbeslogan "Je sauberer du bist, desto schmutziger wird's" für ein Duschgel der Marke Axe hat ausgedient. Damit ist das eigentlich jenseitig verstandene "Neue Jerusalem" diesseitige Realität geworden. In der wahren "ewigen Stadt" gibt es keine Sünde, gibt es keine Scham mehr. Der Philosoph Slavoj Žižek hat einmal bemerkt, die liberale westliche Ideologie habe die überkommene Funktion der Ideologie auf den Kopf gestellt. Die alte Ideologie sagte: Kasteie dich, opfere dich, versage dir deine Genüsse und Freuden, diene dem Kollektiv! Unter diesem nobilitierenden Deckmantel konnten Perversionen umso schamloser ausgelebt werden, ja vielleicht steigerte rigorose Moral gar die Lust an ihnen. Die neue Ideologie aber fordert zum Gegenteil auf: Genieße, lasse dich auch mal gehen, gebe Perversionen, Lüsten, Begierden, schmutzigen Fantasien nach – denn es ist eben nichts Perverses und nichts Schmutziges daran! Die Nackt- und Nasszelle ist gebaute Alltagsideologie in Reinform.

Grobe Feng-Shui-Schnitzer als Nervenkitzel

Nun gut, wird man einwenden, oft lassen sich die Nasszellen doch durch Schiebewände oder Vorhänge verdecken! Kundenbevormundung ist eine Todsünde im jüngeren Kapitalismus US-amerikanischer Prägung. Wer will, kann sich dem Frivolisierungsdruck entziehen. Doch ganz so einfach ist es nicht, wie ein Reiseerlebnis in einem Hotel in Danzig zeigt. Ein beweglicher beigefarbener Vorhang vordergründig solider Materialität trennt dort die transparente Nasszelle vom Wohnbereich. Das ständige Auf- und Zuziehen nervt zwar, aber immerhin – die Privatheit ist gewahrt, sieht man einmal von der eingangs erwähnten unabweislichen Geräusch- und Geruchskulisse ab. Doch weit gefehlt. Zwar ist der Gonzo-Faktor reduziert worden. An einer Wand des Hotelzimmers aber ist ein großflächiger Spiegel so raffiniert platziert, dass, wenn der Vorhang nicht bis auf den letzten Zentimeter zugezogen ist, vom Bett aus Einblick in die Nasszelle möglich ist. Aber gut, dann zieht man das Textil halt bis zum Endpunkt der Schiene – geschafft!

Allein, das Spiel des zeigenden Verbergens geht weiter. Denn ist der Nasszellenbereich heller beleuchtet als der Wohnbereich oder letzterer im Gegensatz zu ersterem ganz verdunkelt, erweist sich der Vorhang nicht wie angenommen als opak, sondern als semiluzid. Nun wird die im Nasszellenbereich ihren Hygienetätigkeiten nachgehende Person unverhofft zur Darstellerin eines Schattentheaters. Revue-Shows lassen grüßen. Eine individualisierbare Alternative stellt ein Lamellen-Rollo dar, bei dem die Nasszellenutzenden den Grad der Einsehbarkeit händisch steuern können. Mit einigen wenigen Handgriffen lässt sich die Szenerie vom grellen Porno-Modus in den andeutungsschwangeren Erotik-Modus switchen, sodass auch Arthaus-Liebhaber auf ihre kultiviert-sublimiert-raffinierten Kosten kommen. Völlige Abschottung ist mit den Lamellen jedoch nicht möglich; stets bleiben kleine Flecken der Sichtbarkeit. Ein Blickfragmentchen Busen, ein visueller Hauch von Hoden, ein paar Pixel nassglitzerndes Schamhaar – da gerät auch das Blut derer in Wallung, die nur mit nobilitierender Avantgarde-Fragmentaristik in Stimmung kommen. 

Das Nachsehen haben all jene, die auch mal nichts sehen wollen und auch mal nicht gesehen werden wollen. Nicht einmal wenn sich der Reisepartner gerade absentiert, etwa zum Shopping oder Sightseeing, dürfen sie sich in Sicherheit wägen. Denn während sich die Querseite mancher Nasszellen zumindest rudimentär verbergen lässt, verfügen ihre Längsseiten im Flur- und Garderobenbereich über keinerlei Sichtschutz. Wer durch die Eingangstür tritt, gewahrt in diesem Extremfall unmittelbar die Toilette sowie allfällig darauf sitzende oder davor stehende Subjekte, mittelbar die Dusche sowie allfällig … genau. Vielleicht ist dieser grobe Feng-Shui-Schnitzer ja als kleiner Nervenkitzel in der allzu absehbaren Tourismusroutine zwischen Wellnessoase, Kunstmuseum und authentischer Erlebnisgastronomie gedacht? In jedem Fall erzieht uns die neue frivole Innenarchitektur zum Voyeurstum – phonetisch ist die Nähe zur "Voyage", zur Reise, ja ohnehin gegeben. Als Soundtrack zur Reise durch die Hotels der Transparenzgesellschaft des 21. Jahrhunderts böte sich eine Neuinterpretation des Boomer-Hits "Voyage, Voyage" (1986) von Desireless an: "Voyeur (voyeuse) / Et jamais ne reviens / Des parties génitales / Des idées frivoles / Regarde l'amant". Für die Interpretin kommt nur ein Name in Frage: Desireful.

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