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Badras Traum

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Der Weg für Asylsuchende auf der Balkanroute ist schwer und gefährlich, für allein reisende Frauen ganz besonders. Eine 27-jährige Algerierin will sich davon nicht entmutigen lassen. Auch wenn ihre Versuche, in die EU zu gelangen, schon mehrmals gescheitert sind.

Badra Yahia Lahssen sitzt in einem kleinen Lokal in Velika Kladuša. Die EU scheint hier zum Greifen nahe, das Zentrum des bosnischen Grenzorts ist nur zwei Kilometer von Kroatien entfernt. Badras Heimatland ist Algerien. Doch vor etwa einem Jahr hat sie sich auf den Weg nach Europa gemacht.

"Ich konnte so nicht leben", sagt die 27-Jährige und hält sich demonstrativ mit beiden Händen den Mund zu. Achtmal ist Badra in Algerien bereits verhaftet worden. Achtmal sollte ihr wegen politischer Äußerungen der Prozess gemacht werden. Beinahe im Vierwochentakt trudelten im Jahr 2018 gerichtliche Schreiben bei ihr ein. Mal wurde ihr die Teilnahme an einer regierungskritischen Demonstration und das Verteilen von Flyern vorgeworfen, mal Präsidentenbeleidigung und mal die öffentliche Kritik an der Regierung. "Sie haben mich sogar ins Gefängnis gesteckt, als ich kritisch über einen lokalen Politiker geschrieben habe. Vor einem Jahr war das", sagt sie. In Algerien bestimme der, der zahle, wer verhaftet werde. Und so habe auch der Lokalpolitiker die Polizei bezahlt.

Dank guter Anwälte, die ihr von Freunden und durch Spenden ihrer Facebook-Follower finanziert wurden, konnte sie einer längeren Gefängnisstrafe entgehen und sich befreien. "Mich hat das aber motiviert, das Land zu verlassen. Ich will da leben, wo es eine gute Regierung gibt", sagt sie.

Die Proteste gegen die Regierung in Algerien dauern bis heute an. Aktuell steht der Vorwurf der Manipulation bei den Präsidentschaftswahlen am 12. Dezember im Vordergrund. Zur Wahl waren EU-Wahlbeobachter nicht einmal zugelassen. Badra beteiligt sich online an den Protesten. Daher wird die junge Frau auch jetzt wieder polizeilich gesucht. Ihr folgen derzeit mehr als 7000 Menschen auf Facebook – zusätzlich zu ihren knapp 4000 Facebook-Freunden. Und dabei ist das lediglich ihr Ersatzprofil in den sozialen Medien.

"Mein eigentlicher Facebook-Account wurde gehackt", sagt sie. Über ihr Profil verbreitet sie ihre politische Meinung: Mal ausformuliert in längeren Texten, mal mit einem Foto, das eher spaßig ihre Meinung zu bestimmten Politikern zum Ausdruck bringt. Auf einem Foto etwa hält sie deren Fotos demonstrativ in einen Gullydeckel.

Als Frau beim Film? "Haram" in Algerien

Schweigen möchte Badra ganz eindeutig nicht. Auch im Gespräch in Velika Kladuša findet sie klare Worte und schaut selbstbewusst in die Runde, obwohl sie sich hier als einzige Frau außer ihrer Interviewerin in einem Raum voller Männer befindet. "Ich will frei sein", erklärt sie auf die Frage, wieso sie sich nicht wie andere Frauen in Schutzhäusern und Unterkünften für Frauen und Familien aufhalte.

Doch nicht nur die Meinungsfreiheit bereitete ihr in ihrem Heimatland Schwierigkeiten. Ihr ursprüngliches Studium (Physik) brach Badra ab, um ihren Traum zu verfolgen. Kunst hat sie studiert, mit Schwerpunkt auf Film. "Das gilt bei uns als haram", sagt sie, was so viel heißt wie: Es ist sozial geächtet. Auf die Frage, ob das eine Regel sei, die nur für Frauen gelte oder für alle Geschlechter, schaut sie beinahe erstaunt: "Männer dürfen das natürlich." Das Studium jedenfalls hat sie beendet. Nur arbeiten durfte sie in ihrem Heimatland nicht in ihrem Traumberuf.

Sie lächelt, als sie ihn ausspricht: "Filmemacherin." Und ihre Augen leuchten, als sie von dem Werk spricht, das sie sofort umsetzen würde, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte: Eine Dokumentation würde sie drehen, eine über die Schönheit der Sahara. "Aber ich weiß, dass es auch in Europa schwer ist, in dem Bereich einen Job zu finden", sagt sie dann und schaut nachdenklich in ihre Kaffeetasse. "Inshallah", fügt sie hinzu. So Gott will, werde sie es schaffen. Aktuell hat sie in Europa noch keine neue Heimat gefunden.

In Bosnien erlebt sie Rassismus – und Hilfsbereitschaft

In Velika Kladuša sind Menschen mit dunklerer Hautfarbe, die sichtbar nicht aus der Gegend stammen, in Läden und Restaurants nicht willkommen. Nur in dem kleinen Lokal, in dem das Gespräch stattfindet, dürfen sie ein- und ausgehen. Und hier dürfen sie sogar dann im Warmen sitzen, wenn sie kein Geld haben, um etwas zu trinken oder zu essen zu kaufen. Der Besitzer des Restaurants möchte allerdings in keinem Artikel mehr erwähnt werden, da mediale Aufmerksamkeit ihm politische Probleme verschaffen könnte. Auch Rechtsradikale statten hier denen, die "promigrantisch" eingestellt sind, öfter mal einen Besuch ab, verrät ein Helfer, der bei dem Gespräch in Hörweite sitzt.

Badra bestätigt die Aussagen und ergänzt: "Es gibt hier ein Problem mit Rassismus. Egal wo in Bosnien, die Ladenbesitzer und Unternehmer mögen uns nicht. Ich durfte oft nicht einmal einen Laden betreten, um dort etwas zu kaufen. Wenn ich gefragt habe, ob ich mein Handy an einer Steckdose aufladen darf, wurde es fast immer verneint. Selbst nachts wurde ich abgewiesen, als ich drinnen auf meinen Zug warten wollte." Wichtig ist ihr allerdings auch zu betonen, dass viele in der Bevölkerung, die anderen Menschen, die sie nicht als Unternehmer bezeichnet, durchaus freundlich und hilfsbereit seien. Mal bekomme sie Essen zugesteckt, mal Kleidung. Der Helfer, der mit im Lokal sitzt, hat ihre Wunden versorgt, als sie das letzte Mal verprügelt von der Grenzpolizei zurück nach Velika Kladuša kam. Deshalb ist sie auch jetzt hier. Sie hat sichere Gesellschaft gesucht, um auf ihren Bus nach Sarajevo zu warten, der erst um 23 Uhr abfahren wird.

Von dort will Badra weiter nach Kroatien. Sie hofft darauf, in der EU ein neues Zuhause zu finden, Sicherheit und Freiheit. Sie würde gerne nach Italien, Deutschland oder Belgien – in eines der Länder, von dem aus es einen Direktflug nach Algerien gibt. Denn: "Dann kann ich meine Heimat von dort riechen und fühle mich nicht so einsam."

"Sie denken, ich habe meine Ehre verloren"

Es ist nicht einfach, als Frau allein auf der Balkanroute unterwegs zu sein. Ausgerechnet Männer aus ihrem Heimatland und dem Nachbarland Marokko bereiteten ihr die größten Schwierigkeiten, verrät die junge Frau. "Sie denken, weil ich alleine reise, habe ich meine Ehre verloren und meinen, dann könnte ich auch mit einem von ihnen ein Paar werden für die Reise", beschreibt sie vorsichtig, aber mit eindeutigen Gesten, das sie schon mehrfach sexuell bedrängt wurde.

Bei ihren bisherigen Grenzquerungen war Badra kreativ: Mal hatte sie palästinensische Papiere, mal syrische, mal irakische. Mal war sie Mutter eines ihr unbekannten Kindes, mal angeblich die Frau eines ihr fremden Mannes. "Man muss an jeder Grenze die passende Geschichte haben. Sonst schafft man es nicht", sagt sie. Sie weiß, dass ihr Herkunftsland Algerien in Europa als "sicher" gilt und sie daher mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar das Recht abgesprochen bekäme, einen Asylantrag zu stellen. Auch wenn es sich dabei in der Theorie um einen Rechtsbruch in allen EU-Ländern und auch in Bosnien handelt, kursieren in der Praxis viele solcher Erfahrungsberichte.

Badra ist daher vorsichtig und bereitet sich auf jeden Grenzübertritt vor. Nur in Richtung Kroatien hat ihr das bisher nicht weitergeholfen. Sechsmal wurde sie schon abgewiesen und verprügelt. Einmal wurde sie beinahe in den Grenzfluss gestoßen. "Das war schrecklich", sagt sie. Sie kann nicht schwimmen und hat außerdem, so nennt sie es, eine "Wasserphobie". Ihre Gruppe sei dann lange am Wasser entlang gegangen, bis sie eine Möglichkeit entdeckten, den Fluss sicher zu überqueren. Sie schaudert bei der Erinnerung.

Wenn sie es wieder versuchen würde, würde sie einen anderen Weg wählen: über Marokko nach Spanien. Sie hatte sich dagegen entschieden, weil sie solche Angst vor Wasser hat. Doch das würde sie nun in Kauf nehmen, da sie weiß, wie schwierig die andere Route über Libyen und Ägypten auf dem Landweg in die EU ist. In der Türkei schoss die Grenzpolizei auf sie, in Griechenland wurden die Männer schlecht behandelt, in Bulgarien wurden auch ihr "schlimme Dinge" vom Militär an der Grenze angetan: "Ich habe geweint, ich habe geblutet. Sie hatten kein Mitleid. Sie haben nur zu mir gesagt: Du bist illegal in unserem Land." Sie fragt sich, wo die Menschlichkeit mancher Verantwortlichen sei und mahnt an: "Man muss auch immer denken, dass man irgendwann selbst in Not sein könnte." Und sie wünscht sich, "dass meine Geschichte zu kennen, Menschen dazu bringt, besser miteinander umzugehen: Migranten mit Migranten, Behörden mit den Menschen."

Ans Aufgeben denkt Badra nicht. Sie holt eine Perücke aus ihrer Tasche und streichelt sie. "Vielleicht versuche ich es damit beim nächsten Mal."

Durchgangsland Bosnien

Laut der Genfer Flüchtlingskonvention und der UN-Menschenrechtscharta wäre Badra Yahia Lahssens Asylgrund der politischen Verfolgung ein Paradebeispiel für die Anerkennung eines Schutzstatus. In der Praxis wird derzeit leider vielen Asylsuchenden ihr Recht verwehrt. Gerade über die kroatische Grenze kursieren zahlreiche Geschichten von Gewalt, von sogenannten Pushbacks, selbst wenn die Person in Kroatien nach Asyl fragt. Aber auch andere Länder verhalten sich rechtswidrig. So wurde erst kürzlich ein Video veröffentlicht, das zeigt, wie in Griechenland maskierte Männer – mutmaßlich im Auftrag staatlicher Behörden – Asylsuchende auf einem Boot zurück in die Türkei drängen.

In Bosnien leben derzeit etwa 8000 Asylsuchende und "irreguläre Migranten". Nur etwa 3500 von ihnen haben einen Platz in einer der von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) geleiteten und der EU finanzierten Unterkünfte gefunden (Quelle: Europarat). Diese befinden sich mehrheitlich im bosnischen Kanton Una-Sana und im Umland von Sarajevo. Im serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas, der Republika Srpska, sind Unterkünfte politisch unerwünscht. Obwohl die Mehrheit der 8000 schriftlich die Intention bekundet hat, einen Asylantrag zu stellen, werden nur wenige Asylverfahren geführt. Die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR kritisiert die mangelnde Kapazität an Mitarbeitern bei den zuständigen Behörden. In den Jahren 2018 und 2019 gab es in ganz Bosnien exakt drei positive Asylbescheide, in 2018 allein 1571 Asylanträge (Quelle: UNHCR). Nicht zuletzt deshalb ist Bosnien bis heute ein "Durchgangsland" auf der Balkanroute geblieben, seit es nach der Schließung der serbisch-ungarischen Grenze zur Hauptroute in die sicheren EU-Länder gehört. (lr)


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