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Korntal braucht eine zweite Runde

Korntal braucht eine zweite Runde
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Im Stuttgarter LKA Longhorn werfen ExpertInnen einen kritischen Blick auf die Brüdergemeinde in Korntal. Ist die Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe gelungen? Ein Gespräch mit Matthias Katsch über die schauerliche Geschichte der Heimerziehung, Ruhigstellung durch Medikamente und Entschädigung.

Kinderschuhe stehen verloren am Rand der großen Bühne, kleine Turnschuhe, bunte Hausschuhe, weiße Mini-Sandalen. Dahinter das große Podium der ExpertInnen, die sich auf Einladung der Selbsthilfegruppe Heimopfer Korntal im LKA Longhorn eingefunden haben an diesem grauen Novembersonntag, um über Missbrauch und Zwangserziehung in den Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde zu sprechen. Und über die Folgen für die betroffenen Kinder. Die evangelische Landeskirche hatte gekniffen, und so musste Klaus Andersen, der weltliche Vertreter der Brüdergemeinde, die Vorwürfe allein parieren. Und die kamen reichlich. "Es war die Hölle auf Erden", sagt Angelika Bandle von der Selbsthilfegruppe auf dem Podium. Kratzige Stimme, klare Kante, unerschrocken – sie ist die Mutter Courage der ehemaligen Heimkinder. Matthias Katsch, der vor fast zehn Jahren den sexuellen Missbrauch im Canisiuskolleg in Berlin öffentlich gemacht hat, sitzt als Betroffener in der unabhängigen Aufklärungskommission des Bundes und an diesem Tag als Experte auf dem Podium.

Herr Katsch, Sie haben vor drei Jahren die Diskussion beim evangelischen Kirchentag in Stuttgart zur Heimgeschichte in Korntal verfolgt. Jetzt saßen Sie mit anderen Experten auf dem Podium, das heftig mit der Evangelischen Brüdergemeinde ins Gericht ging. Muss die Aufklärung der Missbrauchsvorwürfe in den Heimen der pietistischen Brüdergemeinde wieder zurück auf Null?

Nicht auf Null. Aber spätestens nach dieser Diskussion ist klar, dass es noch keinen Abschluss gibt. Vieles ist noch nicht bearbeitet, etwa die Folgen der Misshandlungen für das Leben der ehemaligen Heimkinder, die mangelnden Bildungschancen, die fehlende Rente, die Biografien, die oft in der Obdachlosigkeit endeten. Es gibt ehemalige Heimkinder, die sich nicht ausreichend einbezogen fühlen, ExpertInnen, die nicht mehr mitarbeiten wollten, weil sie den Eindruck hatten, es läuft in die falsche Richtung. Das alles zeigt, dass ein neuer Anlauf nötig ist. Da würde ich mich dem Theologen und Psychotherapeuten Helmut Elsässer anschließen, der das sehr deutlich formuliert hat: Es braucht eine zweite Runde, um eine Vertiefung und Verbreiterung der Aufarbeitung und ein anderes Miteinander zu organisieren.

Darüber wird sich die Brüdergemeinde nicht freuen. Und die Kirche auch nicht.

Ja, das mag so sein. Doch das Thema Korntal könnte die evangelische Kirche Deutschland schon bei ihrer nächsten Synode zum Thema Aufarbeitung beschäftigen. Denn Korntal ist in doppelter Hinsicht ein spezieller Tatort. Es ist einmal Teil der dunklen, der schauerlichen Geschichte der Heimerziehung, der bis heute nicht richtig aufgearbeitet ist ...

... Professor Manfred Kappeler, der mit am Runden Tisch Heimerziehung saß, hat von 800 000 Jungen und Mädchen gesprochen, von Kindern und Jugendlichen, die über Jahrzehnte zwangserzogen wurden.

Korntal ist darüber hinaus aber auch die Geschichte einer pietistischen Ausprägung innerhalb der evangelischen Kirche in Deutschland. Es kommt, gerade bei einer pietistischen Gruppierung, der religiöse Aspekt dazu: Es wurde nicht nur geschlagen und mit Zwang gefüttert, sondern es wurde auch immer zwischendurch gebetet. Nicht zuletzt deswegen verdient dieser spezielle Ort einen zweiten Blick.

Betroffene Korntaler Heimkinder schilderten eindringlich, wie sie zu den Mahlzeiten immer ihr Becherle mit bunten Pillen bekamen. Welche Rolle spielt der Medikamentenmissbrauch in dieser zweiten Phase der Aufklärung?

Die Folgen dieser medikamentösen Ruhigstellung für das Leben der Betroffenen wurden nicht ausreichend berücksichtigt. Und natürlich muss es Entschädigung geben. Anerkennungszahlungen sind schön und gut, das hat die katholische Kirche in Korntal auch gemacht. Aber erst Entschädigung hat eine Bedeutung. Nämlich die Erkenntnis: Wir haben etwas falsch gemacht und übernehmen die Verantwortung für die Folgen. Wie das zu finanzieren ist, das ist erst die zweite oder dritte Frage. Erstmal muss man zu der Erkenntnis kommen, als Gemeinschaft, als Institution müssen wir entschädigen für das, was wir falsch gemacht haben.

Neben Ihnen saßen auf dem Podium ExpertInnen, Betroffene und der weltliche Vorsteher der Brüdergemeinde, aber kein Vertreter der evangelischen Landeskirche. Ducken sich dort die Verantwortlichen weg?

Ich fürchte, manche in der evangelischen Kirche sind der Meinung, mit den bisherigen Aufklärungsversuchen in Ahrensberg ...

... dort in Schleswig-Holstein hat ein Pastor und Religionslehrer in den 1970er- und 1980er-Jahren Mädchen und Jungen missbraucht ...

... und Korntal ist das Thema erledigt, Haken dran. Dass das nicht so ist, hat die heutige Diskussion deutlich gemacht. Es ist gut, dass sich der weltliche Vorsteher der Brüdergemeinde, Herr Andersen, gestellt hat, das war nicht einfach. Ich empfinde es als einen Mangel an Respekt gegenüber den Heimkindern, dass kein Vertreter der Landeskirche anwesend war. Ohne das enorme Engagement der Betroffenen und ihrer Selbsthilfegruppen wäre bis heute noch nichts aufgearbeitet. Und die Betroffenen brauchen auch weiterhin Unterstützung für ihre Arbeit.

Gefragt wäre die evangelische Landeskirche auch beim Thema Werner Bitzer. Dem Korntaler Ex-Heimleiter, der vielen Betroffenen als schlagender, strafender Erzieher in Erinnerung ist, hat von der Diakonie Korntal, aber auch von der Diakonie der Landeskirche das Kronenkreuz in Gold verliehen bekommen. Warum haben die Brüdergemeinde und die evangelische Landeskirche diese Ehrungen nicht längst zurückgezogen?

Dass das noch nicht passiert ist, ist schwach, wenn in einem Aufarbeitungsprozess ein Täter glaubhaft identifiziert wurde. Da muss es dann ein Signal geben an den diakonischen Dachverband, diese Ehrung zurückzunehmen. Und ich würde mir auch wünschen, dass die Brüdergemeinde zusammen mit der Selbsthilfeinitiative Korntal gemeinsam einen Brief an das Bundespräsidialamt schreibt mit der Bitte, auch das Bundesverdienstkreuz rückgängig zu machen. Das geht. Und es wäre ein starkes Zeichen, wenn Brüdergemeinde und Selbsthilfegruppe das gemeinsam machen würden.

Sie sitzen seit Mai in der unabhängigen Aufklärungskommission. Die wollte die Eckpunkte einer Aufklärung im Herbst veröffentlichen. Wann ist es soweit?

Sie werden am 3. Dezember in Berlin vorgestellt.

Die evangelische Brüdergemeinde scheint da schneller zu sein. In einer Pressemitteilung vor wenigen Tagen wird die Aufarbeitung zwar nicht beendet. Doch das Korntaler Forum Aufarbeitung, so steht da zu lesen, habe bereits "konkrete Vorschläge für eine Standardisierung von Aufarbeitungsprozessen" an verantwortliche staatliche und kirchliche Stellen übermittelt. Ist das nicht etwas vermessen?

Ich finde es richtig, sich mit anderen darüber auszutauschen, welche Erfahrungen man gemacht hat und was man gelernt hat in dem bisherigen Aufarbeitungsprozess. Aber man darf die berechtigte Kritik von Betroffenen und ExpertInnen dabei nicht ignorieren. Ich bin sicher, der Prozess der Aufarbeitung wird die Brüdergemeinde ebenso weiterhin beschäftigen wie die Betroffenen, die mit den Folgen der Gewalt in ihrem Leben weiterleben müssen.

Herr Katsch, im Sommer haben Sie den Kulturpreis der Internationalen Paulusgesellschaft erhalten für Ihr fast zehnjähriges Engagement gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche. Was bedeutet Ihnen dieser Preis?

Es freut mich besonders, weil diese Anerkennung aus dem Kreis der Leute kommt, die sich der Kirche verbunden fühlen, sie aber kritisch sehen. Das ist eine Anerkennung für das, was wir als Eckiger Tisch seit Jahren ehrenamtlich zu leisten versuchen.

Sie haben den sexuellen Missbrauch im Canisiuskolleg in Berlin öffentlich gemacht, seit fast zehn Jahren setzen Sie sich für die Aufklärung und die Betroffenen ein, auch hier in Korntal. Was treibt Sie an?

Was einen weitertreibt, ist die Genugtuung, dass wir etwas in Gang gebracht haben. Dass wir heute mehr Schutzkonzepte haben, dass es in der Kirche und in der Gesellschaft im Bereich sexueller Kindesmissbrauch mehr Engagement gibt, mehr Bewusstsein, mehr Schulung, mehr Aufmerksamkeit, auch wenn es für die Dimension des Problems noch lange nicht ausreicht. Was mich antreibt, ist vor allem das Schicksal von ganz vielen Menschen, die unter den Folgen von sexuellem Missbrauch bis heute leiden. Und die uns immer wieder schreiben und um Rat fragen. Wir am Eckigen Tisch oder die Selbsthilfegruppe Korntal machen diese Arbeit ehrenamtlich. Ich finde, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diese Gruppen zu unterstützen. Und das geht ganz klar an die Länder- und Bundesverantwortlichen.


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3 Kommentare verfügbar

  • Matthias Eberius
    am 05.05.2024
    Antworten
    Es ist jetzt Mai 2024. Hat sich etwas Entscheidendes getan? Hat die evangelsiche Kirche die Sexuelle Gewalt umfassend aufgearbeitet? Haben die Gewaltopfer alle eine angemessene Entschädigugn bekommen, die zumindest die konkreten Schäden an Leib und Seele kompensieren hilft? Hat die evangelsiche…
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