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Schatten unerwünscht

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Korntal feiert sich: 200 Jahre sind ein Berg an Erinnerungen. Doch die dunkle Seite der Stadtgeschichte, der jahrzehntelange Missbrauch in den Kinderheimen der Evangelischen Brüdergemeinde, kommt beim Jubiläum an diesem Wochenende nicht vor.

Die Appelle blieben ungehört. Wie wär's mit einer Rede eines betroffenen Heimkinds, einer Aufklärerin beim Festakt? Einer öffentlichen Podiumsdiskussion zum Thema Misshandlungen von Heimkindern in den 1950er bis 1980er Jahren? Oder einem moderierten Gespräch mit Betroffenen im Rahmen des Festprogramms? Ideen gab es viele, FürsprecherInnen auch. Passiert ist nichts. So bleibt der Vorwurf im Raum, dass die Evangelische Brüdergemeinde den Aufklärungsprozess abgehakt hat, damit sie im Jubiläumsjahr ungestört feiern kann.

Ob das gelingt, so ganz ohne Störungen, wird sich weisen. Denn so einfach lassen sich die ehemaligen Heimkinder nicht mehr zur Seite schieben. Vor dem Korntaler Kinderheim Hoffmannhaus, dem Ort ihres Leidens, wollen sie sich den Sonntag über versammeln und auf ihre Fälle aufmerksam machen. Und Detlef Zander, der mit seiner Geschichte den Missbrauch in den Kinderheimen öffentlich gemacht und den mühevollen Aufarbeitungsprozess in Gang gebracht hat (Kontext berichtete von Beginn an), wird sich das ganze Jubiläumswochenende in Korntal anschauen: Den Festakt mit EU-Kommissar Günther Oettinger in der Stadthalle, das zweitägige Jahresfest der Diakonie der Evangelischen Brüdergemeinde, den Gottesdienst am Sonntag. "Mich interessiert alles, was da passiert", sagt Zander. Und das klingt wie eine Drohung.

Schon lange hat er gefordert, die betroffenen Heimkinder in die Festvorbereitungen mit einzubeziehen: "Damit nicht nur gejubelt, sondern wirklich erinnert wird, auch wenn es weh tut", sagt er wenige Tage vor dem Jubiläum gegenüber Kontext. Gerne hätte er darüber diskutiert, was die Brüdergemeinde gelernt hat aus der Aufklärung, öffentlich natürlich. Angemessen wäre auch eine Veranstaltung, in der betroffene Heimkinder zu Wort kommen, sagt er, "nicht nur ein Begegnungsort irgendwo auf dem Gelände".

Korntal ist in Feierlaune – da stören die Stolperer

Dieser Meinung ist auch Benno Hafeneger. Der Erziehungswissenschaftler war einer der zwei Aufklärer der Missbrauchsvorwürfe, er hat vor allem die Strukturen untersucht, die das Wegschauen gefördert, den Missbrauch in den Heimen der Brüdergemeinde möglich gemacht haben. Schon Anfang des Jahres hat Hafeneger im Kontext-Interview gemahnt: "Wenn dieses Drama nur zwei Sätze in einer Begrüßungsrede wert wäre, dann ist das zu wenig. Es muss einen bedeutsamen Stellenwert haben in dem Jahresprogramm der Jubiläumsfeierlichkeiten." Doch auch seine Anregungen verpufften ungehört. "Man kann das so deuten: Wir wollen uns unser schönes Fest nicht kaputt machen lassen." Hafeneger arbeitet auch bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit an einer Großstudie zum Thema Missbrauch in der Kirche.

Korntal ist bereits seit Jahresbeginn in Feierlaune. Beim Neujahrsempfang ging's los, es folgten Gemeindetage und jetzt am Wochenende spricht Günther Oettinger, der in Korntal zur Schule gegangen ist, beim offiziellen Festakt. Da kann man schon mal ins Taumeln kommen. Stolperer sind eher unerwünscht.

Der Vorsteher der Evangelischen Brüdergemeinde, Klaus Andersen, will die Aufregung nicht verstehen. Schon seit zwei Jahren sei er im Gespräch mit der Stadt Korntal, "produktiv und konstruktiv", wie er betont, "aber letztlich ist der Festakt in der Stadthalle Sache der Kommune". Was soviel heißt wie: Selbst wenn er gewollt hätte, es lag nicht in seiner Verantwortung. Das verwundert, denn im Programm ist zu lesen: "In einem gemeinsamen Festwochenende feiern Brüdergemeinde und Stadt Korntal-Münchingen die Gründung Korntals vor 200 Jahren." Beim Jahresfest der Brüdergemeinde just an diesem Jubiläumswochenende wäre eine solche Veranstaltung problemlos machbar gewesen – garantiert ohne Einmischung der Kommune.

Dann lieber Pfarrer Grünzweig

Andersen schwärmt vom Jubeljahr, von Highlights wie dem "Barbecue for you", bei dem demnächst an 12 Standorten in Korntal die Nachbarschaft beim gemeinsamen Grillen gepflegt wird. Und natürlich habe man den Missbrauch, die betroffenen Heimkinder, das dunkle Kapitel in der Geschichte der Brüdergemeinde, nicht vergessen. "Wir werden unsere Betroffenen nicht aus den Augen verlieren", beteuert Andersen. Bis Juni 2020 können noch Ansprüche angemeldet werden, noch in diesem Jahr soll der Opfer würdevoll gedacht werden in einer Kultur des Erinnerns. Doch beim Feiern bleibt man lieber allein.

Und bei Peter Meincke bleibt ein "komisches Gefühl". Vor allem, wenn er die Festschrift der Brüdergemeinde betrachtet. Der langjährige Leiter der örtlichen Musikschule, der sich als Bürger seiner Stadt immer für die ehemaligen Heimkinder eingesetzt hat, stolpert vor allem über einen Namen: Über Pfarrer Grünzweig. "Der Mann, der die theologische Rechtfertigung für Misshandlungen formuliert hat, wie im Aufklärungsbericht zu lesen ist, wird in der Festschrift der Brüdergemeinde geradezu vergöttert." Gerade so, als ob die Aufarbeitung nie statt gefunden hätte.

Weder das ehemalige Heimkind Zander, noch der Aufklärer Hafeneger, noch der Musikschuldirektor Meincke haben eine offizielle Einladung zum Jubiläumswochenende erhalten.

Missbrauchsskandal in Korntal

Ein Kontextartikel verschaffte den Missbrauchsvorwürfen ehemaliger Heimkinder Gehör. Doch die Evangelische Brüdergemeinde tut sich schwer mit der Aufarbeitung.

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5 Kommentare verfügbar

  • Ludwig Pätzold
    am 23.08.2019
    Antworten
    Alle haben es der Brüdergemeinde sehr leicht gemacht, sich wegzuducken. Zander hat nach überschwänglichem Lob der Aufklärer Frau Enders von der Leine gelassen, die mit einer unterirdischen Kritik die Arbeit der Aufklärer und die Aufklärer selbst diffamiert hat. Eine Gruppe von Opfern präsentiert…
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