KONTEXT:Wochenzeitung
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Zehn Jahre nicht nur Bahnhof

Zehn Jahre nicht nur Bahnhof
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Am 26. Oktober 2009 fand in Stuttgart die erste Montagsdemo gegen Stuttgart 21 statt. Im Theaterhaus wird kommende Woche das Zehnjährige gefeiert. Wie begannen die Demos, was waren die Höhe- und Wendepunkte, was haben sie gebracht? Wir haben einige der Aktiven der allerersten Stunden befragt.

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Helga Stöhr-Strauch, Miterfinderin der Montagsdemos. Moderierte auf vielen Demos gegen S 21. Verließ Stuttgart im Mai 2018 mit ihrem Mann und wohnt seitdem in Brandenburg.

Wie sind Sie zu Ihrer ersten Montagsdemo gekommen?

Die Montagsdemos begannen im Oktober 2009 durch Fortführung des "Parkwatching" im Sommer 2009. Fünf Leute versammelten sich am 26. Oktober an unterschiedlichen Stellen: Drei am Bahnhof, zwei am Rathaus. Ich hatte den Vorschlag einer Demo eine Woche zuvor in die Runde des "Aktiventreffs" – man traf sich regelmäßig beim BUND – geworfen. Bis zur 100. Montagsdemo bin ich regelmäßig mit kleinen Aussetzern wegen Krankheit zur Montagsdemo gegangen, danach noch ganz gelegentlich.

Welche Montagsdemo haben Sie besonders in Erinnerung?

Als Urban Priol bei der 50. plötzlich mit Georg Schramm auftauchte. Schramm war gar nicht eingeplant, aber es gab zuvor Gerüchte, dass er Priol begleitet.

Zeitweise waren bei Montagsdemos Zehntausende Menschen auf der Straße. Eine Zeitlang schien es, als könnte der Protest das Projekt stoppen. Wann war für Sie der Wendepunkt, ab dem es in eine andere Richtung ging?

Nach der Volksabstimmung im November 2011, die zwar unfair war, aber gemäß der Verabredung verbindlich. Vor allem war ich persönlich entsetzt, wie viele Stuttgarter gegen den Ausstieg aus der Finanzierungsvereinbarung gestimmt hatten. Da war mir klar: Hier in dieser Stadt trifft Bequemlichkeit auf den fruchtbaren Boden der Rattenfänger. Einen anderen ganz persönlichen Knick bekam meine Wahrnehmung am „Schwarzen Donnerstag“, als roboterhaft auftretendes Polizeivolk alte Menschen und Kinder attackierte. Da dachte ich zum ersten Mal: Das hier ist nicht mehr meine Stadt.

Rückblickend nach zehn Jahren: Was haben die Montagsdemos für Stuttgart gebracht und was haben Sie persönlich aus ihnen gelernt?

Die Stuttgarter Streit- und Demokratiekultur wurde nachhaltig gestärkt. Freundschaften wiederbelebt, neue Freundschaften geschlossen. Stuttgart ist noch selbstbewusster geworden, und zwar aus dem Bewusstsein heraus: Wir haben das Standing, unsere Meinung zu sagen und zu begründen. Das ist ein großer Erfolg für die Stadt. Für mich selbst? Nach dem Kotzen der Pferde kann mich nur noch wenig erschüttern. Nein, ernsthaft: Wo so viele Menschen sehenden Auges in die Katastrophe rennen – siehe Volkabstimmung –, ist alles möglich. Mich erschüttert es auch nicht, dass in meinem neuen Zuhause Brandenburg so viele Menschen die AfD wählen. Während in Stuttgart die Dummheit aus einem Zuviel an Wohlstand genährt wird, ist es hier der Mangel an Wohlstand, der die Dummheit generiert. Menschen reagieren und agieren in der Regel aus einem Reflex, sind nicht zum Nachdenken zu bewegen und hinterher meist auch nicht schlauer. Das ist schade, aber nicht zu ändern.

Würden Sie es heute genauso machen, nochmals mit dem Demonstrieren beginnen?

Im Westen ja. Hier im Osten nicht. Demos haben hier einen sehr schlechten Ruf.

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Ulrich Stübler, Miterfinder der Montagsdemos. Der Grafikdesigner gestaltete unter anderem das durchgestrichene Stuttgart-21-Ortschild, den "Oben bleiben"-Button und das "Umstieg 21"-Logo.

Wie sind Sie zu Ihrer ersten Montagsdemo gekommen?

Per Mundpropaganda. Es lag halt in der Luft.

Gehen Sie noch regelmäßig auf Montagsdemos?

Bis heute habe ich vielleicht bei zehn oder 15 gefehlt – da musste dann schon Lungenentzündung, Beerdigung, ein Date oder ähnliches im Spiel sein.

Welche Montagsdemo haben Sie besonders in Erinnerung?

Vielleicht die Dunkel-Demo im November oder Dezember 2009, als die Oberen meinten, sie könnten durch das Abschalten der Beleuchtung am Nordflügel die Demo abschalten. Die Stimmung war umso intensiver.

Zeitweise waren bei Montagsdemos Zehntausende Menschen auf der Straße. Eine Zeitlang schien es, als könnte der Protest das Projekt stoppen. Wann war für Sie der Wendepunkt, ab dem es in eine andere Richtung ging?

Der bewährte, von Kommunikations-Beratern vorgegebene Weg mit Pseudo-Volksabstimmung, Faktencheck und Schlichtung hat leider vielfach Wirkung gezeigt. Und mit den Grünen an der Regierung haben sich viele unnötigerweise "aufgehoben" gefühlt und viel Luft aus dem Kessel gelassen.

Rückblickend nach zehn Jahren: Was haben die Montagsdemos für Stuttgart gebracht und was haben Sie persönlich aus ihnen gelernt?

Die Montagsdemos haben im Laufe der Zeit ihr Blickfeld erweitert und dazu beigetragen, nicht nur Bahnhof zu verstehen, sondern größere Zusammenhänge zu betrachten und auch medienmäßig „zwischen den Zeilen zu lesen“. Anfänglicher, von unten organisierter ziviler Ungehorsam hat sich leider aus Rücksicht vor dem braven Bürger und durch juristische Sanktionen ausgeschlichen, anstatt dass er geschult und intensiviert wurde.

Würden Sie es heute genauso machen, nochmals mit dem Demonstrieren beginnen?

Keine Frage: Wo kämen wir hin, wenn so viel organisierter und dreist weiterverfolgter Betrug zu Lasten der Zukunft nicht vor Ort bekämpft würde? Auch wenn es hier und global massenhaft gewichtige andere Themen gibt.

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Barbara Drescher, Miterfinderin der Montagsdemos.

Wie sind Sie zu Ihrer ersten Montagsdemo gekommen?

Helga Stöhr-Strauch hatte bei den regelmäßigen Treffen von Aktiven, die in den Räumen des BUND in der Rotebühlstraße abgehalten wurden, die Idee, dass man, wenn die Tage kürzer werden, mit Laternen auf die Straße gehen sollte. Also wurden gemeinschaftlich Laternen gebastelt mit den Logos der Bewegung.

Gehen Sie noch regelmäßig auf Montagsdemos?

Ja, regelmäßig. In zehn Jahren kommen da bei mir mindestens 400 bis 450 Demos zusammen.

Welche Montagsdemo haben Sie besonders in Erinnerung?

Da gibt es mehrere. Zum Beispiel, als nach dem 30. September 2010 so viele Künstler und andere Leute aus sozialen Bewegungen zu uns kamen, um uns aufzurichten und Kraft zu geben. Nach der verlorenen Volkabstimmung 2011 war Paul Schobel, der Betriebsseelsorger, mit einer Trostrede bei uns. Er hat uns wirklich beigestanden, uns versucht, neuen Mut zu geben. Schön war auch der Auftritt des ehemaligen Vorstands der Schweizerischen Bundesbahnen SBB, Benedikt Weibel, der schlicht und klar sagte, dass die Bahn in der Schweiz nur so gut sein könne, weil die Schweiz keine Automobilindustrie hat.

Zeitweise waren bei Montagsdemos Zehntausende Menschen auf der Straße. Eine Zeitlang schien es, als könnte der Protest das Projekt stoppen. Wann war für Sie der Wendepunkt, ab dem es in eine andere Richtung ging?

Das waren mehrere Ereignisse, die die meisten von uns einfach nicht glauben konnten: dass der Nordflügel und der Südflügel des Bahnhofs wirklich abgerissen werden, der Park in wesentlichen Teilen vernichtet wird. Irgendwann, als die Zerstörungen als Vorbereitung zum Bau alle stattgefunden hatten, hat es uns gedämmert, dass das wirklich eine unendliche Geschichte werden wird. Und die Aufgabe für uns jetzt eher darin bestehen wird, als einzige den Verlauf der Baumaßnahmen "kritisch zu begleiten". Zur 350. Montagsdemo gab es von Uli Stübler gestaltete Einladungskarten, auf denen stand: zum 350. Mal - Der wahre Bahnaufsichtsrat.

Rückblickend nach zehn Jahren: Was haben die Montagsdemos für Stuttgart gebracht und was haben Sie persönlich aus ihnen gelernt?

Ich habe gelernt, dass unsere parlamentarische Demokratie nur dazu dient, die Interessen des Kapitals durchzudrücken. Wie es so oft schon früher in Flugblättern linker Organisationen stand: Sie sind Marionetten das Kapitals. Vor zehn Jahren konnte ich so gar nicht glauben, dass derartige Parolen stimmen. Auch bin ich eine aus der Generation, die glaubte, dass man durch den „Marsch durch die Institutionen" Staatshandeln mitgestalten könnte. Am Ende haben sich die Marschierenden alle selbst verändert und sind angepasster Teil der Institutionen geworden. Persönlich brauche ich den Gedankenaustausch und die Grundsatzüberlegungen von Fachleuten wie Verkehrsplanern und Eisenbahnsachverständigen, die auf den Demos immer wieder sprechen. Wir haben alle viel gelernt über guten Eisenbahnverkehr und Verkehrsplanung allgemein.

Würden Sie es heute genauso machen, nochmals mit dem Demonstrieren beginnen?

Mit dem Schwung von damals schon! Nun sind die meisten von uns etwas müder und auch resignierter geworden. Aber im Prinzip sehe ich es schon so wie auch bei den Schülern von Fridays for Future: Das Leben und die Aktion sind die bessere Schule – und auch nicht so langweilig!!!

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Gerhard Pfeifer, Regionalgeschäftsführer des BUND in Stuttgart, erstmals bei der zweiten Montagsdemo (2. November 2009) dabei. Bereits seit Mitte der 1990er Kritiker von S 21.

Wie sind Sie zu Ihrer ersten Montagsdemo gekommen?

Gangolf Stocker, mit dem ich damals im Aktionsbündnis gegen S 21 eng zusammen arbeitete, bat mich, ob der BUND nicht einen Infostand machen könnte. Die Teilnehmerzahl war mit etwa 50 Leuten noch recht überschaubar, wuchs aber in den Folgewochen rasant.

Nachdem ich auf rund 150 Demos war, davon fast alle in den Anfangsjahren, gehe ich mittlerweile auf keine Montagsdemo mehr. Weil ich der Meinung bin, dass damit keine politische Wirkung mehr auf den Projektverlauf zu erzielen ist.

Welche Montagsdemo haben Sie besonders in Erinnerung?

Anfang 2010 hat Bahnchef Grube auf der damals noch recht provisorischen Bühne am Nordflügel des Hauptbahnhofs geredet. Er lobte das Projekt in den höchsten Tönen. Am Ende seiner Amtszeit hat er mehrfach eingeräumt, es wäre besser gewesen, das Projekt nie begonnen zu haben.

Zeitweise waren bei Montagsdemos Zehntausende Menschen auf der Straße. Eine Zeitlang schien es, als könnte der Protest das Projekt stoppen. Wann war für Sie der Wendepunkt, ab dem es in eine andere Richtung ging?

Im Prinzip war nach der Volksabstimmung im November 2011 die Messe gelesen. Vor allem, weil auch in Stuttgart – trotz der Demos – die Mehrheit der Bürger für das Projekt stimmten. Die Hoffnung, dass der Bahn das Geld ausgehen könnte, hat sich nie erfüllt. Erst recht nicht mit den jüngsten, neuen Zusagen der Bundesregierung an die Bahn – von 2020 bis 2030 gibt es 106 Milliarden Euro Staatshilfen. Die Bahn wird mit diesen Mitteln die Finanzlöcher bei S 21 in Höhe von vier bis fünf Milliarden Euro stopfen.

Rückblickend nach zehn Jahren: Was haben die Montagsdemos für Stuttgart gebracht und was haben Sie persönlich aus ihnen gelernt?

Die Montagsdemos und vor allem die S-21-Schlichtung haben die Gesellschaft bundesweit politisiert und das Thema Bürgerbeteiligung vorangebracht. Die Politik konnte sich nicht mehr länger in ihren Elfenbein-Parlamenten verbergen. Persönlich war das eine sehr spannende und aufregende Zeit. Rückblickend kommen mir Zweifel, ob wir mit den vielen Demos nicht überdosiert haben und dadurch die Fronten erst recht verhärtet haben.

Würden Sie es heute genauso machen, nochmals mit dem Demonstrieren beginnen?

Demonstrationen sind für den BUND eine wichtige Aktionsform. Deshalb beteiligten wir uns zum Beispiel bei den aktuellen Fridays-for-Future-Protesten.

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Gangolf Stocker, als Mitgründer des Vereins "Leben in Stuttgart – kein Stuttgart 21" im Jahr 1995 Urgestein des Protests gegen S 21. Erstmals bei der zweiten Montagsdemo (2. November 2009) dabei, später Versammlungsleiter der Montagsdemos und anderer Demos gegen das Projekt (bis März 2011).

Wie sind Sie zu Ihrer ersten Montagsdemo gekommen?

Es ging ein Gerücht, dass sich drei oder vier Leute getroffen hätten zwischen Rathaus und Bahnhof, und ich wollte beim zweiten Mal gucken, wer das ist. Da waren es aber schon dreißig, im Hauptbahnhof. Ein älterer Polizist wollte mich zum Versammlungsleiter machen. Habe ich dankend abgelehnt.

Gehen Sie noch regelmäßig auf Montagsdemos?

Ich war bei circa 90 bis 100 Demos Versammlungsleiter, dann war abzuschätzen, dass die Verantwortlichen das Ding durchziehen werden. Zielrichtung und Adressat waren also nicht mehr die organisierten S-21-Verbrecher, weil sich die Akteure (bis heute) so fest an das Projekt gebunden hatten, dass eine Korrektur oder gar ein Aufgeben nicht mehr möglich war. Eine Kapitulation vor dem Protest? Niemals. Nach der Volksabstimmung meinte Ministerpräsident Kretschmann, es gäbe halt auch das Recht des Volkes auf einen schlechten Bahnhof. Uns hat bei der Volksabstimmung vor allem das Ergebnis in Stuttgart das Genick gebrochen.

Welche Montagsdemo haben Sie besonders in Erinnerung?

Wir, die Organisatoren der Montagdemos, legten ja besonderen Wert auf die Vielfalt, Fantasie der TeilnehmerInnen, auf die Ideen, auf die Kultur des Protestes. Und ich glaube, es gab nie wieder ein solches Protestniveau in Stuttgart.

Zeitweise waren bei Montagsdemos Zehntausende Menschen auf der Straße. Eine Zeitlang schien es, als könnte der Protest das Projekt stoppen. Wann war für Sie der Wendepunkt, ab dem es in eine andere Richtung ging?

Die Montagsdemos änderten ihren Charakter von einer Protestveranstaltung zu einer Trotzveranstaltung, zur Beweisführung, wie lange man durchhalten kann. Ehrenhaft, aber nutzlos. Mehr nach innen als nach außen gerichtet.

Rückblickend nach zehn Jahren: Was haben die Montagsdemos für Stuttgart gebracht und was haben Sie persönlich aus ihnen gelernt?

Schwierige Frage. Ich habe eine Menge gelernt, aber das führt jetzt zu weit.

Würden Sie es heute genauso machen, nochmals mit dem Demonstrieren beginnen?

Wenn ich es könnte, ja.

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Timo Kabel, erstmals bei der dritten Montagsdemo (9.11.2009) dabei. Der Landschaftsgärtner wurde in den Anfangsjahren auf Demos als Fahnenschwenker mit der grünen "K 21"-Fahne bekannt.

Wie sind Sie zu Ihrer ersten Montagsdemo gekommen?

Aufmerksam wurde ich durch die Kommentarspalten in den Onlineausgaben der StZ und StN – damals gab es dort noch die Möglichkeit, zu kommentieren. Jemand schrieb, dass er sich an einem Montag gegen 18 Uhr am Bahnhof hinstellen würde, als Mahnwache oder so. Eine Woche später stand dann in der Kommentarspalte, dass man zu viert gewesen sei, eine Woche später war von zehn oder 20 die Rede. Da dachte ich, schau ich mir das doch mal an, wer sich da so trifft.

Gehen Sie noch regelmäßig auf Montagsdemos?

Bei vielleicht 20 bis 25 Demos war ich nicht dabei, wenn ich im Urlaub oder richtig krank war. Ansonsten bei Wind und Wetter, Schnee, Eis und Hitze.

Welche Montagsdemo haben Sie besonders in Erinnerung?

Am Pfingstmontag 2010 sollte die Demo eigentlich ausfallen. Ich dachte mir, kommt nicht in Frage, und schrieb auf der Parkschützerseite: "Man könnte sich doch ganz ungezwungen am Hbf-Nordausgang treffen und über dieses und jenes reden." Als ich mit dem Fahrrad dort vorfuhr, kam gleich ein Polizist auf mich zu und fragte mich, ob ich Timo Kabel sei. Er sagte: "Sie haben auf der Parkschützer-Seite zu einer Demo aufgerufen, ohne diese anzumelden." Er nahm meine Daten auf. Ich habe nie wieder was darüber gehört. Und die 100. Montagsdemo – ein StZ-Redakteur wollte mich als den Protagonisten mit der Fahne treffen und etwas schreiben. Es gab eine ganze Seite.

Zeitweise waren bei Montagsdemos Zehntausende Menschen auf der Straße. Eine Zeitlang schien es, als könnte der Protest das Projekt stoppen. Wann war für Sie der Wendepunkt, ab dem es in eine andere Richtung ging?

Ehrlich gesagt war das mit dem Abrissbeginn des Nordflügels im August 2010. Es gab da Stimmen, die sagten, "das kann man wieder aufbauen", aber es war mir bewusst, dass hier ein "Plan" durchgesetzt werden sollte. Spätestens mit dem Roden der Bäume im Februar 2012 schmolzen meine Hoffnungen, das Ding aktiv zu stoppen. Und mit dem miserablen Ergebnis der Volksabstimmung, den unfairen Methoden der Pro-S-21-Bagage und der zunehmenden Bautätigkeit wurde für mich zum Motto, "Salz in der Suppe, Stachel im Fleisch" zu sein. Der soziale Zusammenhalt und das Treffen mit Gleichgesinnten waren für mich ein Grund, weiterhin zu den Montagsdemos zu gehen.

Rückblickend nach zehn Jahren: Was haben die Montagsdemos für Stuttgart gebracht und was haben Sie persönlich aus ihnen gelernt?

Siehe Antwort oben.

Würden Sie es heute genauso machen, nochmals mit dem Demonstrieren beginnen?

Auf alle Fälle. Man hätte manches vielleicht anders machen können, die Montagsdemo vielleicht in andere Stadtteile oder auch in die Region tragen sollen, bei der sogenannten Schlichtung absagen sollen ... Aber im Nachhinein ist man immer um Erfahrungen reicher.

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Guntrun Müller-Enßlin, Theologin, Pfarrerin, SÖS-Stadträtin im Stuttgarter Gemeinderat. Erstmals bei der dritten Montagsdemo (9.11.2009) dabei. Initiatorin der Gruppe "TheologInnen gegen Stuttgart 21".

Wie sind Sie zu Ihrer ersten Montagsdemo gekommen?

Ruth Gisela Evers aus meiner Gemeinde hatte mich auf die Demos gegen S 21 aufmerksam gemacht. Wir waren vielleicht 200 Leute, Gangolf Stocker hat mit Megaphon gesprochen, alles war improvisiert. Ich hatte mich über das Projekt informiert und erfahren, dass für das „neue Herz Europas“ 300 alte Schlossgartenbäume fallen sollten. Ab da war ich dabei.

Gehen Sie noch regelmäßig auf Montagsdemos?

Ich war bei unzähligen Montagsdemos, aber heute kann ich aus Zeitgründen nicht mehr regelmäßig hingehen. Doch ich bin froh über all jene, die das tun und damit zeigen, dass die Flamme des Widerstands gegen das dümmste Großprojekt seit dem Turmbau zu Babel keineswegs erloschen ist.

Welche Montagsdemo haben Sie besonders in Erinnerung?

Da fällt mir natürlich die Demo ein, bei der ich meine erste Rede hielt – am 22. Februar 2010, am Vorabend des Geburtstags meines Sohnes. Meine eindrucksvollste Montagsdemo jedoch war eine Freitagsdemo – diejenige, die am 1. Oktober 2010 unter dem Eindruck der Ereignisse am „Schwarzen Donnerstag“ stattfand. Über 100 000 Menschen standen im Schlossgarten dicht an dicht. Ich habe an dem Abend auf der Bühne gesprochen, es war dunkel und wegen der Scheinwerfer konnte ich die Menge nicht sehen, nur hören – den unbeschreiblichen Jubel, als ich sagte: "Hut ab vor unserer Jugend, die sich den Einsatzkräften in den Weg gestellt hat.“ Noch heute kommen mir die Tränen, wenn ich daran denke!

Zeitweise waren bei Montagsdemos Zehntausende Menschen auf der Straße. Eine Zeitlang schien es, als könnte der Protest das Projekt stoppen. Wann war für Sie der Wendepunkt, ab dem es in eine andere Richtung ging?

Es war das Schmierentheater der Demokratiesimulation in drei Akten: „Schlichtung“, Stresstest und Volksabstimmung.

Rückblickend nach zehn Jahren: Was haben die Montagsdemos für Stuttgart gebracht und was haben Sie persönlich aus ihnen gelernt?

Ein Widerstands-Netzwerk von unschätzbarem Wert ist entstanden. Ich habe erfahren: Wir sind viele, die auf der gleichen Seite für Menschlichkeit und eine lebenswerte Zukunft streiten. Gleichzeitig ist mir klar geworden: Nicht die Politik, sondern die Wirtschaftskonzerne haben in unserer Gesellschaft die Macht und das Sagen.

Würden Sie es heute genauso machen, nochmals mit dem Demonstrieren beginnen?

Ja, ja und ja.

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Hannes Rockenbauch, Stadtrat von SÖS im Stuttgarter Gemeinderat, Architekt. Neben Gangolf Stocker schon früh einer der prägenden Köpfe des Protests gegen S 21. Erstmals bei der zweiten Montagsdemo (2.11.2009) dabei.

Wie sind Sie zu Ihrer ersten Montagsdemo gekommen?

Eines Tages berichtete mir Gangolf Stocker, dass einige Aktivisten ihn zu dem Vorhaben einer Art Montagsmahnwache am Nordflügel angesprochen hätten. Er hätte ihnen gesagt, sie sollen es einfach machen. Zur zweiten Mahnwache sind wir dann gemeinsam hin, um zu schauen was da los ist. Wir waren da vielleicht 20 bis 30 Leute und ein paar Kerzen. Ab da war ich bis zur 100. Montagsdemo immer dabei.

Gehen Sie noch regelmäßig auf Montagsdemos?

Seit der Geburt meiner Kinder bin ich deutlich seltener auf Demos und Veranstaltungen. Etwa einmal im Monat schaue ich noch auf den Montagsdemos vorbei und bin jedes Mal begeistert von der Stimmung und den guten politischen Gesprächen, die man dort führen kann.

Welche Montagsdemo haben Sie besonders in Erinnerung?

Ich glaube, ab der vierten Montagsdemo hatte Gangolf die Demos angemeldet und wir hatten auch eine Art Bühne und zwei Lautsprecherboxen. Irgendwann durfte ich montags moderieren. Als sich meine Aufregung gelegt hatte, war das für mich immer ein Heidenspaß. Dass ich dabei oft das Who Is Who der derzeitige Spitzengrünen anmoderiert habe, beschäftigt mich noch heute. Hätte ich doch nur vorher ihrer Wankelmütigkeit und ihr Duckmäusertum vor den Verhältnissen des Status quo erkannt. Wohl nie vergessen werde ich die 36. Montagsdemo. Nicht nur, weil trotz Wolkenbruchs die Leute blieben, sondern weil sich aus der Demo heraus auch die Besetzung des Nordflügels ergab und ich plötzlich zum Bahnhofsbesetzer und laut „Bild“-Zeitung zum „Randale-Stadtrat“ wurde. 

Zeitweise waren bei Montagsdemos Zehntausende Menschen auf der Straße. Eine Zeitlang schien es, als könnte der Protest das Projekt stoppen. Wann war für Sie der Wendepunkt, ab dem es in eine andere Richtung ging?

Den Einbruch der Massenmobilisierung, die wir mit den Montagsdemos begonnen hatten, erkläre ich mir bis heute aus der Dreierkombination von Faktencheck, Landtagswahl und Volksabstimmung. Der Faktencheck Ende 2010 hat die Emotionen aus dem Widerstand genommen. Die Landtagswahlen haben die Grünen bis zur Unkenntlichkeit eingebunden und damit einen wichtigen Teil der Bewegung lahmgelegt. Und schließlich hat die sogenannte „Volksabstimmung“ aus uns allen Verlierer gemacht. Dass sich unser Widerstand trotz dieser Erfahrungen bis heute so lebendig hält, ist großartig!

Rückblickend nach zehn Jahren: Was haben die Montagsdemos für Stuttgart gebracht und was haben Sie persönlich aus ihnen gelernt?

Dank der Montagsdemos sind die StuttgarterInnen in Bewegung gekommen und viele sind es bis heute noch. Dass Stuttgart heute eine der demofreundlichsten Landeshauptstädte ist, erkläre ich mit dem Aufbruch, der 2009 am Hauptbahnhof begann. Persönlich wäre ich heute ohne diese Demos ein anderer Mensch, ärmer an wichtigen Begegnungen und prägenden Erlebnissen.

Würden Sie es heute genauso machen, nochmals mit dem Demonstrieren beginnen?

Ja, unbedingt!!!

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Matthias von Herrmann, Sprecher der Parkschützer, erstmals bei der fünften Montagsdemo (23.11.2009) dabei. Als Teil des Demo-Teams seit Dezember 2011 Mitorganisator der Montagsdemos.

Wie sind Sie zu Ihrer ersten Montagsdemo gekommen?

Vor der vierten Montagsdemo am 16. November 2009 sah ich am unteren Ende der Treppe am Mittelausgang des Hauptbahnhofs mit Kreide geschrieben: "Montagsdemo gegen Stuttgart 21" und einen Pfeil. Ich bin nicht hingegangen, denn ich kam gerade von der Arbeit, musste noch Sachen in der Stadt besorgen, und es schüttete wie aus Kübeln. Nächste Woche dann ...

Gehen Sie noch regelmäßig auf Montagsdemos?

Bis August 2016 war ich bei fast allen Montagsdemos, oft genug ja auch als Redner oder Moderator. Seit unsere Tochter auf der Welt ist, bin ich quasi gar nicht mehr dort, das Kind geht einfach vor.

Welche Montagsdemo haben Sie besonders in Erinnerung?

Die Regenbogen-Demo im Sommer 2010 bot ein phantastisches Bild, als tausende Schirme den Platz vor dem Nordflügel bunt färbten und ein Regenbogen genau über dem Bonatzbau zum Ende der Demo sehr intensiv aufleuchtete. Dann die Demo, an deren Ende der Nordflügel besetzt wurde und ich im strömenden Regen klatschnass dem ZDF ein Interview gab.

Zeitweise waren bei Montagsdemos Zehntausende Menschen auf der Straße. Eine Zeitlang schien es, als könnte der Protest das Projekt stoppen. Wann war für Sie der Wendepunkt, ab dem es in eine andere Richtung ging?

Das war, als CDU und Grüne nach dem "Schwarzen Donnerstag" vorschlugen, eine Schlichtung durchzuführen. Da entglitt uns plötzlich die Sache, und das war ja auch das Ziel der Geißler-Show. Niemand aus der Politik oder von der Bahn hatte je ein ehrliches Interesse an einer guten Lösung für die Stadt und für den Schienenverkehr im Südwesten. Denen ging es nur darum, die Meinungsführerschaft wieder zu erlangen und das Projekt weiterzuführen – auch mit Hilfe von Fake News und Lügen zur Leistungsfähigkeit von S 21, zur Finanzierung oder zum Brandschutz.

Rückblickend nach zehn Jahren: Was haben die Montagsdemos für Stuttgart gebracht und was haben Sie persönlich aus ihnen gelernt?

Sehr viele Stuttgarter wurden politisiert. Auch wenn viele resigniert haben, weil die Politik so dermaßen arrogant und ignorant das Projekt durchdrückt, ist doch im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements ein großes Netzwerk entstanden, das sich nun auch in anderen Zusammenhängen engagiert, sei es beim Hotel Silber, beim Radentscheid, bei SÖS oder zum Thema Mietenwahnsinn. Ich habe gelernt, dass in vielen Menschen die Bereitschaft zu außergewöhnlichem Engagement für eine gute Sache steckt.

Würden Sie es heute genauso machen, nochmals mit dem Demonstrieren beginnen?

Ich bin zwar nicht der Initiator der Montagsdemos, aber klar wäre ich wieder von Anfang an dabei, um Mitbürger für eine ökologische oder soziale Verbesserung zu mobilisieren. Es gibt so viele Gründe, auf die Straße zu gehen für eine bessere Welt.


Info:

"Ihr kriegt uns nicht los – wir euch schon! 10 Jahre Montagsdemos gegen Stuttgart 21", Dienstag, 8. Oktober, 19.30 Uhr, Theaterhaus Stuttgart (Siemensstraße 11, 70469 Stuttgart). Mit Max Uthoff, Christine Prayon, Uta Köbernick, Timo Brunke, Gadjo Trio u.a. Der Vorverkauf hat bereits begonnen, Karten (17 Euro) unter www.theaterhaus.com oder Telefon 0711 4020720.


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15 Kommentare verfügbar

  • Blender
    am 08.10.2019
    Antworten
    Was bei den Tief-Schräg-Haupthaltestellen (alias: S21) Kosten noch fehlt sind die Folgekosten. Die Frage nachmder Haltbarkeit von Kelchstützen beantwortet gerade Ludwigshafen. Deren Hochstraßenkelchstützen von 1959 können leider nicht saniert werden, weil die Statik nicht DIN Konform errichtet wurde…
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