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Ratlos in Singen

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In einigen Singener Stimmbezirken hat jeder Vierte AfD gewählt. Im reichen Süden, in einer klassischen Arbeiterstadt ohne große wirtschaftliche Sorgen. Wie konnte das passieren?

Es gab so ein paar Momente in den vergangenen Monaten, da ahnte Claudia Weber, dass in ihrer Stadt etwas kippen könnte. Etwa als sie in Diskussionen immer wieder den Vorwurf an die Politik hörte, dass zwar für Bankenrettung, Griechenlandkrise und Flüchtlingsaufnahme viel Geld da sei, beim "normalen Volk" aber ständig gespart werde. Oder als ihr ein russischstämmiger Deutscher erklären wollte, der öffentliche Rundfunk in Deutschland bringe nur Falschmeldungen. Es grummelte bei den Menschen. Wie sehr, das zeigte sich am 24. September: Die AfD erreichte bei der Bundestagswahl in Singen 16,5 Prozent der Zweitstimmen. In einigen Bezirken lagen die Zahlen noch deutlich darüber: 28 Prozent waren es beispielsweise im Wahlbezirk 77 in der Südstadt. Insgesamt kommt die AfD in dem Stadtteil auf 22,7 Prozent.

Mehr- und Einfamilienhäuser wechseln sich hier ab, breite Straßen, Supermärkte, Drogerien, Apotheken – das Nahversorgungsnetz ist gut, Busse fahren regelmäßig, manchmal grüßen sich die Menschen auf der Straße sogar. Das soll also das Problemviertel der Stadt sein? Es ist jedenfalls auch der Bezirk, in dem Claudia Weber lebt. Das AfD-Ergebnis hat sie wütend gemacht: "Ich bekomme es nicht in meinen Schädel, wieso so viele Menschen bei uns für diese Partei gestimmt haben. Singen ist eine weltoffene Stadt, die Kulturen leben hier gut miteinander", sagt sie. Eigentlich kann man sich auf ihr Urteil verlassen. Die 68-Jährige kennt ihr Quartier wie kaum eine andere. Sie organisiert Straßenfeste, kümmert sich um Nachbarschaftshilfe, ist aktiv in ihrer Kirchengemeinde und war mehr als 20 Jahre lang Stadträtin für die SPD. Aber jetzt ist auch sie vor allem eines: ratlos. Die größte Frage derzeit in der Stadt: Wie konnte aus der Arbeiterstadt eine AfD-Hochburg werden?

Singen also, tief im Süden Baden-Württembergs, nahe am Bodensee. Knapp 48 000 Einwohner und ansonsten ziemlicher Durchschnitt. Finanziell geht es der Stadt weder besonders gut noch besonders schlecht. Schulden drücken auf den Haushalt wie auch andernorts, die Arbeitslosigkeit ist in den vergangenen Jahren gesunken, die Kriminalitätsrate gestiegen. Brennpunkte in der Stadt? "Gibt es nicht", sagt die Polizei vor Ort. Die Internationalität Singens – der Ausländeranteil liegt bei knapp 23 Prozent – wurde bislang mehrheitlich als Gewinn verstanden. Im Gemeinderat ist die CDU die größte Fraktion. Der letzte SPD-Oberbürgermeister verließ 1993 das Singener Rathaus, seither stellt die Union den Verwaltungschef. Das alles klingt nicht unbedingt nach einer frustrierten Stadt. Einerseits. Andererseits ist es auch ein bisschen erstaunlich, dass jetzt alle so überrascht sind in Singen. Schon 2016 hatte es eine Vorwarnung gegeben: Bei der Landtagswahl war die AfD erfolgreich, holte 20 Prozent der Stimmen in der Stadt, den Wahlkreis vertritt seither auch Wolfgang Gedeon, dessen antisemitische Schriften bislang nicht zu einem Parteiausschluss geführt haben, im Landtag.

Wahlbeteiligung in Bezirken bei 15 Prozent

Erklärungsversuche: Natürlich habe das Abschneiden der AfD auch eine soziale Dimension, ist Claudia Weber überzeugt. Hartz-IV und Armut seien auch in der Singener Südstadt ein Thema. Aber das alleine will Weber nicht gelten lassen. "Auffällig ist, dass die Zustimmung zur AfD vor allem in jenen Wahlbezirken hoch ist, in denen viele Spätaussiedler aus Rumänien, Polen, Russland und vom Balkan wohnen", sagt Weber. Durch ihre Arbeit in der Kirchengemeinde kenne sie viele dieser Menschen und wisse, wie diese denken. "Es herrscht ein anderes Demokratieverständnis vor als bei uns, es gibt auch eine gewisse Uninformiertheit über politische Prozesse und Zusammenhänge." Und als dann im Sommer 2015 die Flüchtlinge kamen, habe sich die Unzufriedenheit immer weiter ausgebreitet. Nicht sofort spürbar. Singen hat in den vergangenen Jahren mehr als 1300 Flüchtlinge aufgenommen, große Proteste gegen Unterkünfte gab es kaum. Entladen habe sich alles erst bei der Wahl, sagt Weber. Vielleicht auch aus psychologischen Gründen, vermutet sie: "Die meisten Aussiedler haben sehr hart für ihre Integration in die deutsche Gesellschaft gearbeitet. Die Flüchtlinge haben ihnen vielleicht Angst gemacht, weil sie ihren Status bedroht sahen. Vielleicht spielte auch Neid eine Rolle nach dem Motto: 'Als wir kamen wurden keine Willkommens-Schilder hochgehalten'." Auf die Frage nach der Verantwortung der Politik, winkt Weber ab: "Klar, auf Bundesebene bräuchten wir längst ein Einwanderungsgesetz, aber die Stadt selbst hat immer sehr viel für die Integration getan. Daran kann es nicht liegen", ist die 68-Jährige überzeugt.

Dazu gibt es in der Stadt allerdings auch andere Ansichten. "Es war ein Fehler, die Stadt kulturell zu entkernen. Das rächt sich jetzt", sagt zum Beispiel Gerhard Zahner, Anwalt und Autor mit dem Gespür für besonders brisante regionale Stoffe. Was er damit meint, ist vor allem die Aufgabe von öffentlichen Plätzen, auf denen man sich begegnen musste. Das Loslösen der Milieus voneinander, die Auflösung des Miteinanderlebens habe auch zu dem Ergebnis vom 24. September geführt, ist sich Zahner sicher. Die Entwicklung sei aber insgesamt langfristiger: "Schaut man die Zahlen zur Wahlbeteiligung an, dann muss man sagen, dass sich Singen in den vergangenen Jahren auch ein Stück weit entdemokratisiert hat." Tatsächlich: 48 Prozent bei der letzten OB-Wahl im Jahr 2013, 36,6 Prozent bei der Kommunalwahl 2009. Und bei der Kommunalwahl 2014 sank die Wahlbeteiligung in einigen Bezirken der Südstadt auf nur 15 Prozent.

Das ist der Punkt, an dem man den Oberbürgermeister der Stadt befragen muss. Bernd Häusler (CDU) ist seit 2013 Chef im Singener Rathaus. Wie der damit umgeht, dass eine Menge Menschen in der Stadt sich nicht mehr für Politik interessieren? "Wir als Kommune nehmen unsere Bürgerinnen und Bürger mit, lassen sie teilhaben und mitbestimmen an den Projekten und Vorhaben, die in unserer Stadt geplant werden. Wir setzen dabei insgesamt auf eine transparente und offene Informationspolitik", antwortet der Kommunalpolitiker. Die ganze AfD-Debatte hält er für überhitzt. Das sei auch kein Singen-spezifisches Thema. Er verweist auf andere Städte mit ähnlichen Zahlen. Sorgen bereiteten ihm die Ergebnisse der Partei in seiner Stadt jedenfalls nicht, notiert er. Erklären kann er die Resultate aber auch nicht: "Warum das so ist, da kann ich nur spekulieren. Offenbar sind da diffuse Ängste vor Wohlstandsverlust und die Flüchtlingsdebatte die Auslöser dafür." Trotzdem stellt sich ja die Frage – wie reagieren auf diese Ängste? Antworten sind in Singen gerade noch eher vage. Es seien Projekte geplant, "in deren Mittelpunkt der offene Austausch und das konstruktive Miteinander stehen", erklärt Bernd Häusler.

Kein Interesse am Gemeinwohl

Der Wahlerfolg der AfD in Singen lässt sich so nicht verstehen. Das geht eher, wenn man sieht, wie unterschiedlich heute auf die Lage der Stadt geblickt wird. Der Oberbürgermeister sagt, Singen habe kein Kriminalitätsproblem, die Menschen fühlten sich in der Stadt nicht so unsicher, wie oft behauptet werde und das Klima in der Stadt sei "sehr gut". Die AfD hat im Wahlkampf und auch auf Kontext-Nachfrage ein anderes Bild von Singen gezeichnet: Das Sicherheitsempfinden der Singener Bevölkerung erreiche schon seit Jahren immer neuere Tiefstände, durch die Nähe zur Schweizer Grenze floriere der Drogenhandel und das Zusammenleben der Kulturen gestalte sich allzuoft anstrengend, meint Michael Hug vom Kreisvorstand Konstanz. Es gibt längst zwei Versionen von dieser Stadt, die nicht mehr zusammenpassen. Wie überall im Land – die AfD argumentiert mit Empfindungen und Wahrnehmungen, bedient Ängste und Unzufriedenheit. Da kann der Oberbürgermeister noch so viele Befragungen und Statistiken zitieren, am Ende hat in diesem Wahlkampf sehr oft das Gefühl gesiegt. Michael Hug trägt aber noch andere Gründe für das gute Abschneiden seiner Partei vor: Das liege auch daran, "dass in Singen ein nicht unerheblicher Anteil der Einwohner sich aus Spätaussiedlern zusammensetzt, die von Haus aus eher wertkonservativ geprägt sind und in der Vergangenheit bei der CDU beheimatet waren", schreibt er in einer E-Mail.

Wie lässt sich all das jetzt einordnen? Eine Anfrage an den Konstanzer Politikwissenschaftler Marius Busemeyer: Wie konnte die AfD in der Arbeiterstadt Singen so stark werden? Soziale oder kulturelle Gründe? "Da die realen sozialen Probleme im reichen Süden Baden-Württembergs im Vergleich etwa zu den neuen Bundesländern deutlich weniger stark ausgeprägt sind, liegt die Vermutung nahe, dass in Singen tatsächlich eher kulturelle Faktoren den Ausschlag gegeben haben." Dazu komme wie überall in Deutschland der Populismus-Faktor, so Busemeyer: "Parteien, die sich um seriöse und ganzheitliche Politikvorschläge bemühen, haben gegenüber denjenigen, die sich bei Wahlversprechen nicht an solche Beschränkungen halten, immer einen Nachteil. Erst recht in Zeiten, in denen Menschen immer weniger Zeit und Motivation aufbringen wollen und können, sich mit politischen Fragen auseinanderzusetzen." Sein Gegenmittel dagegen: "Mehr Räume für öffentliche Debatten jenseits der Feuilletons und Meinungsseiten der Qualitätszeitungen schaffen."

Aus der Theorie zurück in die Praxis. Zu Andreas Kämpf und seinem soziokulturellen Zentrum "Die Gems". Hier kann man sehen, wie Populismus-Prävention durch kulturelle Bildung gehen kann. Vor ein paar Monaten haben sie eine Theatergruppe für Hauptschüler gegründet – mit Jugendlichen aus der Südstadt. Auch wenn der Start holprig war, am Ende standen die jungen Menschen selbstbewusst mit einem eigens erarbeiteten Stück vor 200 Menschen auf der Bühne. "In diesem Projekt konnte man sehen, wie viel man verändern kann, wenn man den jungen Menschen eine Chance gibt, sich zu entwickeln." Seit fast 30 Jahren macht Andreas Kämpf Kulturarbeit in der Stadt, schon deshalb ist er kein Träumer. Aus dem Ergebnis der AfD müsse die ganze Stadt lernen, so Kämpf: "Ziel müsste es sein, die Südstadt noch mehr einzubeziehen und sie zum Teil des kulturellen Ganzen zu machen." Er selbst würde gerne mehr in diesem Bereich machen, stößt aber dabei an finanzielle und räumliche Grenzen. Der Bund sei hier als Geldgeber gefragt, findet Kämpf. Er weiß ja, dass es längst um die Zukunft und die nächsten Generationen geht. Die Gegenwart? Fast schon verloren, befürchtet der Gems-Geschäftsführer: "Wir haben das bei den Theaterprojekten immer wieder gemerkt – es fehlt oft am Grundinteresse. Manche Eltern kommen einfach nicht zu den Aufführungen ihrer Kinder. Die interessiert das nicht. Wenn sie sich nicht mal für ihre Kinder interessieren, wie kann man da glauben, sie würden sich für Politik oder so etwas wie das Gemeinwohl interessieren?"


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6 Kommentare verfügbar

  • Andrea K.
    am 14.10.2017
    Antworten
    Schon interessant: Wieso kann man die Gruppe der "Spätaussiedler" und ihre Befindlichkeit bis heute so genau abgrenzen? Vielleicht, weil man sich bei deren Integration eben keine Mühe gegeben hat?

    Was man nicht vergessen darf: Viele der Anwürfe durch die Populisten sind ja durchaus…
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