Mehr- und Einfamilienhäuser wechseln sich hier ab, breite Straßen, Supermärkte, Drogerien, Apotheken – das Nahversorgungsnetz ist gut, Busse fahren regelmäßig, manchmal grüßen sich die Menschen auf der Straße sogar. Das soll also das Problemviertel der Stadt sein? Es ist jedenfalls auch der Bezirk, in dem Claudia Weber lebt. Das AfD-Ergebnis hat sie wütend gemacht: "Ich bekomme es nicht in meinen Schädel, wieso so viele Menschen bei uns für diese Partei gestimmt haben. Singen ist eine weltoffene Stadt, die Kulturen leben hier gut miteinander", sagt sie. Eigentlich kann man sich auf ihr Urteil verlassen. Die 68-Jährige kennt ihr Quartier wie kaum eine andere. Sie organisiert Straßenfeste, kümmert sich um Nachbarschaftshilfe, ist aktiv in ihrer Kirchengemeinde und war mehr als 20 Jahre lang Stadträtin für die SPD. Aber jetzt ist auch sie vor allem eines: ratlos. Die größte Frage derzeit in der Stadt: Wie konnte aus der Arbeiterstadt eine AfD-Hochburg werden?
Singen also, tief im Süden Baden-Württembergs, nahe am Bodensee. Knapp 48 000 Einwohner und ansonsten ziemlicher Durchschnitt. Finanziell geht es der Stadt weder besonders gut noch besonders schlecht. Schulden drücken auf den Haushalt wie auch andernorts, die Arbeitslosigkeit ist in den vergangenen Jahren gesunken, die Kriminalitätsrate gestiegen. Brennpunkte in der Stadt? "Gibt es nicht", sagt die Polizei vor Ort. Die Internationalität Singens – der Ausländeranteil liegt bei knapp 23 Prozent – wurde bislang mehrheitlich als Gewinn verstanden. Im Gemeinderat ist die CDU die größte Fraktion. Der letzte SPD-Oberbürgermeister verließ 1993 das Singener Rathaus, seither stellt die Union den Verwaltungschef. Das alles klingt nicht unbedingt nach einer frustrierten Stadt. Einerseits. Andererseits ist es auch ein bisschen erstaunlich, dass jetzt alle so überrascht sind in Singen. Schon 2016 hatte es eine Vorwarnung gegeben: Bei der Landtagswahl war die AfD erfolgreich, holte 20 Prozent der Stimmen in der Stadt, den Wahlkreis vertritt seither auch Wolfgang Gedeon, dessen antisemitische Schriften bislang nicht zu einem Parteiausschluss geführt haben, im Landtag.
Wahlbeteiligung in Bezirken bei 15 Prozent
Erklärungsversuche: Natürlich habe das Abschneiden der AfD auch eine soziale Dimension, ist Claudia Weber überzeugt. Hartz-IV und Armut seien auch in der Singener Südstadt ein Thema. Aber das alleine will Weber nicht gelten lassen. "Auffällig ist, dass die Zustimmung zur AfD vor allem in jenen Wahlbezirken hoch ist, in denen viele Spätaussiedler aus Rumänien, Polen, Russland und vom Balkan wohnen", sagt Weber. Durch ihre Arbeit in der Kirchengemeinde kenne sie viele dieser Menschen und wisse, wie diese denken. "Es herrscht ein anderes Demokratieverständnis vor als bei uns, es gibt auch eine gewisse Uninformiertheit über politische Prozesse und Zusammenhänge." Und als dann im Sommer 2015 die Flüchtlinge kamen, habe sich die Unzufriedenheit immer weiter ausgebreitet. Nicht sofort spürbar. Singen hat in den vergangenen Jahren mehr als 1300 Flüchtlinge aufgenommen, große Proteste gegen Unterkünfte gab es kaum. Entladen habe sich alles erst bei der Wahl, sagt Weber. Vielleicht auch aus psychologischen Gründen, vermutet sie: "Die meisten Aussiedler haben sehr hart für ihre Integration in die deutsche Gesellschaft gearbeitet. Die Flüchtlinge haben ihnen vielleicht Angst gemacht, weil sie ihren Status bedroht sahen. Vielleicht spielte auch Neid eine Rolle nach dem Motto: 'Als wir kamen wurden keine Willkommens-Schilder hochgehalten'." Auf die Frage nach der Verantwortung der Politik, winkt Weber ab: "Klar, auf Bundesebene bräuchten wir längst ein Einwanderungsgesetz, aber die Stadt selbst hat immer sehr viel für die Integration getan. Daran kann es nicht liegen", ist die 68-Jährige überzeugt.
6 Kommentare verfügbar
Andrea K.
am 14.10.2017Was man nicht vergessen darf: Viele der Anwürfe durch die Populisten sind ja durchaus hinterfragenswert. Wer sich mit der Betreuung von Geflüchteten befasst hat, hat sich schon immer wieder gefragt, wo unser Wohlstand eigentlich versickert. Warum sind die Schwimmbäder in dem Zustand in dem sie sind, wieso sind Schulen in unserem so reichen Land baufällig? Und woher kamen plötzlich die Mittel für zusätzliche Schulklassen? Warum können wir eine medizinische Grundversorgung für so viele zusätzliche Menschen leisten während Geringverdiener ein halbes Jahr sparen, damit das Kind eine schicke, robuste Brille bekommen kann?
Und dann kommt der Frust über die aktuelle Politik, in der doch keine Partei mehr für eine Überzeugung steht. Zwischen Mittelstand und Hartz-IV, also sozialem Abstieg, liegt doch heute noch genau ein Jahr in dem man Arbeitslosengeld bekommt. Wie sollte die SPD, der wir das verdanken, Arbeitern da noch eine "Heimat" bieten? Natürlich, man müsste nicht "rechts" wählen - aber die Angst vor den Linken wird den Menschen von den sogenannten "etablierten" ja seit Generationen eingeimpft - auch das ist meines Erachtens jetzt ein Bumerang.
Rolf Steiner
am 13.10.2017David Sohn
am 18.10.2017Bruno Neidhart
am 12.10.2017Für die - so genannt - etablierten deutschen Parteien werden besonders kommende Wahlen entscheidend sein, ob wenigsten ein Kern dieses "Bauchgefühls" und - es sei gesagt -, viele andere Baustellen etwa sozialer und bildungsrelevanter Art verstärkt aktiv bearbeitet werden, um wenigsten einige ihrer ehemaligen "Schäfchen" zurück zu gewinnen. Wobei sich diese "Schäfchen" selbst mehr zu emanzipieren, sich aktiver ins politische und kulturelle Alltagsgeschehen einzuklinken hätten. Es ist eine Frage der permanenten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Werten, welche eine Demokratie beinhalten kann. Demokratie sollte auf Dauer einen Mehr-Wert gegenüber einseitig verlockenden Empfindungen darstellen.
Singen ist eine vielfältige Stadt. War sie schon immer. Übrigens heute mit einer Reihe gesellschaftlich-kultureller Werte ausgestattet, die es zu entdecken gilt. An den "Pranger" gehört die Stadt nicht. Für ein "Gemeinwohl" als inspitierende Kraft einer Örtlichkeit müssen sich alle Städte und Gemeinden laufend bemühen. So eben auch die noch immer junge, erklärte Maggi-Stadt unterm Hohentwiel im schönen, prosperierenden Hegau.
David Sohn
am 11.10.2017"Es herrscht ein anderes Demokratieverständnis vor als bei uns, es gibt auch eine gewisse Uninformiertheit über politische Prozesse und Zusammenhänge." Vielleicht denken diese Uniformierten, daß ein Staat sich zu allererst um seine Bürger (die die schon länger hier wohnen ;-) kümmern sollte. Ich denke eher, daß Menschen die aus dem Osten kommen oder in der Ost EU leben aus Erfahrung weit kritischer und misstrauischer gegenüber der veröffentlichen Meinung sind und sich nicht so leicht einlullen lassen wie der durchschnittliche Westler, welche durch Dauerberieselung dem ÖRR und Print (fast) alles glaubt.
Der ist auch noch gut:"Parteien, die sich um seriöse und ganzheitliche Politikvorschläge bemühen, haben gegenüber denjenigen, die sich bei Wahlversprechen nicht an solche Beschränkungen halten, immer einen Nachteil." Wie heissen nochmal die Politiker, welche sich beklagten, daß die Wahlversprechen immer für bare Münze genommen werden?
Gerd Zahner
am 11.10.2017Der Wähler stimmte pars pro toto, sein Viertel für das ganze Land. Gewollt ist die Veränderung.
Das Gemeinsame in der Vielfalt zu entdecken, ist der Gegenentwurf.