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Ahnungslos in Chemnitz

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Baden-Württemberg war nach der Wiedervereinigung Partnerland von Sachsen. In die Verwaltung wurden Westbeamte gesetzt. Doch die Parteien haben es damals versäumt, einen demokratischen Aufbruch zu initiieren, meint unsere Autorin. Sie lebte zehn Jahre in Chemnitz.

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In Chemnitz ist der Teufel los, und alle schauen hin, berichten und suchen wieder minutiös nach den Schuldigen. Oder sie demonstrieren. Wie zum Beispiel am vorvergangenen Montag die baden-württembergischen AfD-Landtagsabgeordneten Stefan Räpple und Hans Peter Stauch sowie am vorigen Samstag der AfD-Landesvorsitzende Ralf Özkara und die Landtagsabgeordnete Christina Baum. Sie marschieren mit den Rechtsradikalen. Bei der Gegendemo "Herz statt Hetze" waren einige Bundespolitiker wie Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch und Familienministerin Franziska Giffey (SPD) vor Ort. Aus Stuttgart kamen rund zwei Dutzend junge linke AktivistInnen, um die Gegen-Demo in Chemnitz zu unterstützen. LandespolitikerInnen von den demokratischen Parteien Baden-Württembergs wurden nicht gesichtet.

Dabei war Baden-Württemberg, gemeinsam mit Bayern, einst Partnerland von Sachsen, damals nach der Wiedervereinigung. Von hier wurden in den 1990er-Jahren Beamte aus Verwaltung, Politik und Justiz in den Freistaat geschickt. Überall in Ostdeutschland dominierten in den Führungsebenen der Justiz und der Ministerien Westdeutsche. Damals kam der Begriff des "Dimido-Beamten" auf, das waren die "Wessis", die nur dienstags, mittwochs und donnerstags an ihren Arbeitsplätzen anzutreffen waren.

Die Rechten waren hier früh aktiv

Manche dieser Abgesandten machten Karriere, freundeten sich mit ihrer neuen Heimat an und blieben. Viele gingen nach ein paar Jahren zurück. Damit hätte das Wissen über die Verhältnisse im Osten auch in der baden-württembergischen Politik eine größere Rolle spielen können. Doch dem war nicht so. Hier tat man weiter so, als hätte es die Wiedervereinigung nicht gegeben. Maximal ging es mal nach Rügen an die "andere" Ostsee oder nach Dresden, um Barock anzugucken. Ansonsten herrschte Ignoranz im Ländle, Arroganz oder naives Desinteresse. Wenn ich den Schwaben erzähle, dass ich elf Jahre in Sachsen als Journalistin gearbeitet habe, davon zehn in Chemnitz und das meistens gern, schaue ich auch heute noch in erschrockene bis mitleidige Gesichter. Chemnitz – war das nicht Karl-Marx-Stadt? Unter dem Nischel, wie man dort zu dem berühmten Karl-Marx-Monument sagt, sammeln sich jetzt die Rechten zu ihren Aufmärschen.

Es war spannend in Chemnitz damals, vieles war noch nicht so festgefahren wie im Westen. Und es war auch erschreckend. Denn die Rechten waren früh aktiv. Wer politisch interessiert war, wusste, dass in Chemnitz Ende der 1990er-Jahre die Berufsschulen rechts dominiert waren. Die Lehrer dort beklagten sich über Hakenkreuzkritzeleien und Hitlergrüße von Schülern und waren überfordert. Unterstützung aus Schulverwaltungen blieb aus. Es gab Stadtviertel und Dörfer im Chemnitzer Umland, die für ihre Nazi-Szene bekannt waren. Wenn es dort Prügeleien gab, rief man als Journalistin die Polizei an und fragte nach: Gab es politische Hintergründe? Fast immer lautete die Antwort: "Nein." Gerne hieß es noch, dass die Jungs alkoholisiert gewesen seien. Warum das politische Motive ausschloss, blieb offen.

In Chemnitz gab und gibt es ein Alternatives Jugendzentrum, das AJZ. Bekannt als Treffpunkt von jungen Linken, wurde es in den 1990er Jahren mehrmals überfallen. Von Rechten, wie die jungen AJZler berichteten. Bei einer Diskussion vor einer Landtagswahl im AJZ zum Thema "Rechtsradikalismus" erklärte der CDU-Kandidat, IHK-Präsident und Spediteur, dass er mit Azubis, die rechts seien, in einer Diskussion über die deutsche Geschichte keine Chance habe. "Die sind so intelligent", befand er verzweifelt. An einem 20. April Anfang dieses Jahrtausends konnten sich glatzköpfige Jungnazis vor der Chemnitzer Stadthalle nahezu ungestört mit erhobenem rechten Arm begrüßen. Kurz: Rechts zu sein, war nichts Besonderes, der Schritt zum Rechtsextremismus klein.

Gegen rechts fehlte der breite demokratische Konsens

Es gab und gibt Initiativen und Projekte, um politische Bildung voranzutreiben. Etwa, um zu erklären, dass Demokratie nicht bedeutet, Rassismus als eine Meinung unter vielen zu akzeptieren. Denn das war die stetige Argumentation von Rechten: Jetzt lebe man doch in einer Demokratie, da könne man sagen, was man wolle. Aber es fehlte der breite demokratische Konsens. Dass in Sachsen die CDU-Regierungen alles links von sich mit Argwohn betrachteten und sich dort politisch aktive Menschen schnell den Stempel "linksextrem" einhandelten, ist in den letzten Tagen oft genug beschrieben worden. So manche engagierten Bürger dürften sich heute verwundert die Augen reiben, wenn nun Politiker die bürgerliche Mitte zum Aufstehen gegen Rechts auffordern.

Die Parteien haben die Wiedervereinigung nicht genutzt, um mit den Erfahrungen aus Ost und West einen demokratischen Aufbruch zu initiieren, der über Wahlen hinaus Bedeutung erlangt hätte. Statt Mitbestimmung und Beteiligung zu organisieren und zu institutionalisieren, verteilte die Biedenkopf-CDU Posten. Chemnitz, die drittgrößte Stadt Sachsens und einstige Industriemetropole, musste sich zudem in den ersten Jahren mit komplett unfähigen CDU-Oberbürgermeistern (aus West und Ost) herumschlagen, die nach nur einem beziehungsweise zwei Jahren Amtszeit zurücktreten mussten.

Dazu kam die Politik der Treuhand, Massen wurden arbeitslos, Massen wurden – staatlich finanziert – von privaten Bildungsträgern zu Köchen umgeschult. Neue Jobs waren nicht in Sicht. Als Rot-Grün 2002 die Hartz-Gesetze verabschiedete, empfanden das viele Ostdeutsche als gezielten Angriff. Die Montagsdemos, die damals gegen Hartz IV entstanden, fanden in den herrschenden Parteien keinen Widerhall. Frust und Resignation waren groß.

Demokratieerziehung? Fehlanzeige!

Von politischer Bildung, die beispielsweise die Stiftungen der Parteien breit hätten ausrollen können und müssen, war wenig zu sehen. Öffentliche Diskussionen? Dünn gesät. Systematische Demokratieerziehung in Schulen und Hochschulen? Weitgehend Fehlanzeige.

Es wäre schön gewesen, wenn Baden-Württemberg und die (West-)Parteien die damalige Partnerschaft nicht auf Verwaltungsaufbau beschränkt hätten. An der inneren Verfasstheit in Sachsen aber war man nicht interessiert. Die CDU stellte die Regierungen, das reichte. Dass die Schwäche demokratischer Parteien von denjenigen erfolgreich genutzt wird, die Demokratie ablehnen, ist nicht auf den Osten, auf Sachsen, auf Chemnitz beschränkt. Baden-Württemberg mit seinen 21 AfD-Abgeordneten müsste das wissen.

Die jungen Linken, die aus Stuttgart nach Chemnitz gefahren sind, hatten sich kurz nach den dortigen Ausschreitungen auf dem Stuttgarter Marienplatz getroffen. Um die 60 Frauen und Männer waren dem Aufruf des Antifaschistischen Aktionsbündnisses Stuttgart und Region gefolgt, um ihrem Entsetzen über die Aufmärsche in Chemnitz Luft zu machen. Sie interessieren sich für Chemnitz, wenn im Moment auch aus einem eher gruseligen Grund. Zumindest sind sie nicht auf dem heimischen Sofa sitzen geblieben.


Gesa von Leesen hat von 1995 bis 2005 in Chemnitz am Theater, beim Radio und bei einer Tageszeitung gearbeitet.


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6 Kommentare verfügbar

  • Peter Nowak
    am 10.09.2018
    Antworten
    Ein sehr interessanter Artikel, aber leider fragt Gesa von Leesen nicht, ob der Prozess der Übernahme der DDR durch die BRD nicht von Anfang an ein rechtes Projekt war. Zur Erinnerung:. Die linke DDR-Opposition protestierte gegen den autoritären SED-Staat und trat für eine eigenständige DDR ein,…
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