Es war die Baronin Helene von Reitzenstein, die zwischen 1910 und 1913 ihrem verstorbenen Mann mit einer Villa in bester Stuttgarter Halbhöhenlage ein Denkmal errichten ließ. Dank der Inflation erwarb der freie Volksstaat Württemberg die Villa Reitzenstein 1922 zum Spottpreis von 5,5 Millionen Papiermark, ab 1925 diente sie als Sitz des württembergischen Staatspräsidenten. 86 Jahre später, im Frühjahr 2011, zog Winfried Kretschmann in den zweigeschossigen Dreiflügelbau ein. Der erste grüne Ministerpräsident der Republik öffnete die Türen des Amtssitzes, hinter denen zuvor knapp fünf Jahrzehnte die Christdemokraten fast schon autokratisch geherrscht hatten: Im Juli 2012 durfte das Volk das Allerheiligste bestaunen und dessen damaligen grün-roten Ministern Löcher in den Bauch fragen. Das sollte wohl Transparenz und Bürgernähe symbolisieren.
Doch mit der Offenheit ist es vorbei. Heute gibt sich der geschichtsträchtige Regierungssitz verschlossener. Ausgerechnet zu Fragen der Daseinsvorsorge, die jede und jeden im selbst ernannten Musterland der Demokratie betreffen: Nur durch Zufall wurde bekannt, dass Kretschmanns Staatsministerium ein Gutachten zum geplanten Freihandelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada in Auftrag gegeben hat, beim Staatsrechtler Martin Nettesheim von der Universität Tübingen. Mit einem Ergebnis, das den als wirtschaftsfreundlich apostrophierten MP in die Zwickmühle bringt. "CETA berührt die Freiheit der Länder und Gemeinden, Bürgerinnen und Bürgern umfassende, effiziente und kostengünstige Leistungen der Daseinsvorsorge zu erbringen", begutachtet der renommierte Jurist. "Eine umfassende Freistellung von Dienstleistungen des Allgemeininteresses findet sich in CETA nicht", kritisiert Nettesheim. Selbst das Kulturleben und die Bildung seien nicht umfassend über Ausnahme- und Vorbehaltsklauseln freigestellt, warnt er.
Was bedeutet, dass kanadische Unternehmen nach Inkrafttreten des Abkommens nicht nur als Mitwettbewerber bei Trinkwasser, Müllabfuhr und Energieversorgung auftreten können. Sondern sich auch über die umstrittenen Schiedsgerichte in lukrative Geschäfte einklagen können. Dabei ist hierzulande nach einem Privatisierungshype Ende des vergangenen Jahrhunderts längst Ernüchterung eingekehrt. Die Hoffnung, dass private Firmen alles besser und billiger machen als "der Staat", ist längst zerstoben. Beispielhaft versucht Stuttgart seine Versorgungsnetze zurückzukaufen und hat wieder ein Stadtwerk gegründet, nachdem diese erst vor wenigen Jahren an einen zahlungskräftigen Konzern namens EnBW verhökert wurden.
In dem Gutachten steckt somit einige Brisanz, weil sich der alte und neue Regierungschef bislang offengehalten hat, wie Baden-Württemberg im Bundesrat zu CETA votieren wird. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum das Werk erst durch Zufall an die Öffentlichkeit gelangte: Von seiner Existenz erfuhr ein Vorstandsmitglied vom Verein "Mehr Demokratie" Mitte Februar in einer Prozesspause vorm Bundesverfassungsgericht, wo es mit Verfasser Nettesheim ins Gespräch kam, der dort in einer anderen Angelegenheit anwesend war. Die Bitte des Vereins, die Studie zu bekommen, wurde vom Staatsministerium zunächst abgelehnt – mit Verweis darauf, dass sie noch nicht abschließend bewertet sei, <link http: www.taz.de geheime-studie-zu-bawue-und-freihandel external-link-new-window>rekonstruiert die taz die Geheimniskrämerei des Staatsministeriums.
Erst als "Mehr Demokratie" einen offiziellen Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz stellte, gab das Haus von Kretschmann nach – wohl im Wissen, dass man im Zweifel vor Gericht ohnehin unterliegen würde, wie die taz spekuliert. Seither ist <link https: stm.baden-wuerttemberg.de fileadmin redaktion dateien pdf external-link-new-window>das 42-seitige Dokument auf den Internetseiten des Ministeriums herunterladbar.
Verheimlichen, unter Verschluss halten? Herausgabe verweigern, auf plumpe Ausreden setzen? Ist das der neue Stil der grün-geführten Landesregierung? Bislang war das im Südwesten eine Domäne der Schwarzen. Insbesondere die Regierung von Stefan Mappus praktizierte dies. Sei es beim Bahnprojekt Stuttgart 21 oder beim EnBW-Deal. Es bedurfte erst mehrerer Untersuchungsausschüsse des Landtags, um Details des brutalen Polizeieinsatzes am Schwarzen Donnerstag im Stuttgarter Schlossgarten oder den verfassungsrechtlich illegalen Kauf der EnBW-Aktien aufzuklären. Im Fall CETA haben Kretschmann und sein grüner Staatsminister Klaus-Peter Murawski das Verhaltensmuster des politischen Gegners adaptiert. Das beschädigt die Glaubwürdigkeit des Ministerpräsidenten, der bislang stets Transparenz in allen politischen Geschäften postulierte.
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Horst Ruch
am 05.06.2016