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Migrationsmurks

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Die Integration von 120 000 Flüchtlingen im Land ist eine große Aufgabe. Trotzdem wurde das dafür neu geschaffene Ministerium jetzt aufgelöst. Gleich mehrere Häuser streiten nun um den Nachlass der ehemals ersten Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD).

Wie war sie stolz, die SPD, als sie vor fünf Jahren praktisch über Nacht ein neues Haus und die Berliner Deutschtürkin Bilkay Öney als Chefin präsentieren konnte. Sie machte selbst ihren Kabinettskollegen in der Folge nicht immer nur Freude, wuchs aber ins Amt und galt in den Monaten immer höherer Zuwanderungsrekorde als wichtige Stütze der Koalition. Eine Aufwertung des bis dahin bundesweit einmaligen Ressorts hatten Grüne und SPD allen Beteiligten in Aussicht gestellt, den Kommunalen Spitzenverbänden, den Betreuungsorganisationen oder den Helfern und Helferinnen im Ehrenamt. Die Überlegungen waren weit gediehen. Öney, die das Land nach dem SPD-Debakel bei der Landtagswahl fluchtartig in Richtung Berlin verlassen hat, wollte um mehr Zuständigkeiten kämpfen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann wusste sie an ihrer Seite, und Papiere lagen auf dem Tisch, wie Baden-Württemberg zum Musterland gelungener Integration hätte werden können.

Den Anspruch zu erfüllen wird aber nach der Abwahl von Grün-Rot deutlich erschwert durch die Zerschlagung des anfangs oft belächelten Ministeriums, das jetzt auf einmal – zu spät – Lob von allen möglichen Seiten bekommt. Sogar der migrationspolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Bernhard Lasotta, hatte sich eine Stärkung des inzwischen von Rheinland-Pfalz kopierten Hauses vorstellen können. In Kommunen und Kreisen ist vor allem die im vergangenen Juli eingesetzte Lenkungsgruppe als "handlungsfähig und hilfreich" gelobt und unter der Führung des Ministerialdirektors Wolf-Dietrich Hammann sind Aufnahmeplätze ausgebaut und Verfahren beschleunigt worden.

Hammann wird nun als Amtschef ins Sozialressort wechseln. Noch sitzt der frühere Landespolizeipräsident allerdings in seinem alten Büro und wartet auf dringend notwendige Entscheidungen. Zum Beispiel darüber, wer künftig über so weitreichende Zuständigkeiten wie die Integration in den Arbeitsmarkt zuständig ist: das grüne Sozial- oder das schwarze Wirtschaftsministerium. Oder darüber, was eigentlich der Unterschied ist zwischen "Grundsatzfragen der Migrationspolitik", für die Innenminister Thomas Strobl (CDU) zuständig sein soll, und "Grundsatzfragen und Koordinierung der Ausländer- und Integrationspolitik", die in die Kompetenz des neuen Sozialministers Manfred Lucha (Grüne) fallen.

Ein Murks wie dieser ist doppelt peinlich, weil die CDU – früher unvorstellbar nach dem eigenen Selbstverständnis – im April eigens einen externen Berater aus München hatte kommen lassen, einen alten Freund Günther Oettingers, um alle heiklen Detailfragen mit den Grünen auszuverhandeln. Nicht nur die eigenwillige Idee mit der Ansiedlung des Tourismusreferats im Justizministerium, geleitet vom gescheiterten CDU-Spitzenkandidaten Guido Wolf, gilt allgemein als Flop. Das Land wird mittlerweile in einschlägigen Portalen schon als neue Zieldestination für Knastreisen veralbert. Auch andere Einzelheiten müssen nachgearbeitet werden: etwa in der internationalen und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, für die die Villa Reitzenstein zuständig bleibt, während die Zuständigkeit für die Europäische Union ebenfalls zu Wolf gewandert ist.

Die Beschäftigten im ehemaligen Integrationsministerium, das de facto noch immer fortbesteht mit seinen drei Abteilungen und zehn Referaten, arbeiten unterdessen weiter, als wäre noch keine neue Regierung im Amt. Niemand hat einen genaueren Überblick über die aktuelle Lage. Über die Aufnahmezahlen zum Beispiel, die im April bei 2816 Menschen und im Mai mit 2627 leicht darunter lagen. Niemand weiß besser Bescheid über die Aufschlüsselung der Herkunftsländer: So kommen zurzeit 2,3 Prozent der Asylbewerber aus Algerien, 1,3 Prozent aus Tunesien und so wenige aus Marokko, dass sie nicht mehr extra benannt werden. Der für die Zuwanderungsagenda halb zuständige CDU-Innenminister könnte seine Forderung nach der angeblich so dringend notwendigen Ausweisung der drei nordafrikanischen Staaten als neue sichere Herkunftsländer ernsthaft messen, würden ihn solche Informationen überhaupt erst einmal erreichen.

Der grüne Sozialminister Manfred Lucha ist da schon deutlich weiter. Er hat erste Duftmarken gesetzt und verlangt Nachbesserungen beim Integrationsgesetzentwurf der Großen Koalition in Berlin, etwa wenn es um Deutschkurse geht: "Wer von Flüchtlingen die Mitwirkung an solchen Maßnahmen verpflichtend einfordert, muss auch sicherstellen, dass es ein ausreichend großes und flächendeckendes Angebot an Kursen gibt und die dafür erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung stehen." Lucha hat ohnehin mehrere Startvorteile, nicht nur, weil sein Ressort den Begriff "Integration" im Namen führt. Er ist seit Langem vertraut mit Land und Leuten und der Materie, während der CDU-Landeschef und neue stellvertretende Ministerpräsident Strobl sein Ministerium noch nicht einmal richtig in Beschlag genommen hat.

"Hätte es die Flutkatastrophe am Wochenende nicht gegeben", so einer aus der früheren Amtsspitze, "wäre der neue Minister mit seinen Gedanken noch immer in Berlin." Sogar die traditionelle Amtsübergabe musste aus Termingründen ausfallen, und die Verabschiedung seines Vorgängers Reinhold Gall (SPD) schwänzte Strobl ebenfalls. Er habe mit Gall telefoniert, so der Neo-Minister, der sein Bundestagsmandat jetzt entgegen seinen früheren Plänen nun doch nicht bis nach der Sommerpause behalten wird. Den Vorwurf, er sei noch nicht wirklich oft in seinem Haus gewesen, kann er auch nicht verstehen. Denn: "Die Putzfrau fragt mich immer, ob ich Frühaufsteher bin."

Wie wichtig frühes Aufstehen zur Beendigung des Kompetenzgerangels ist, zeigt sich überdeutlich an ersten integrationspolitischen Inhalten. Die CDU-Fraktion stellt seit Wochenbeginn die im Koalitionsvertrag zur Erprobung beschlossene Sachleistungskarte in Frage, mit der sich Flüchtlinge in der Erstaufnahme bargeldlos mit persönlichen Dingen versorgen können. Strobl geht nicht nur flugs von einem Missverständnis aus, sondern er unterstellt den Kollegen Abgeordneten gleich noch, dass sie die Sachleistungs- nicht von der bereits abgelehnten Gesundheitskarte für Zuwanderer unterschieden können. Was die wiederum nicht auf sich sitzen lassen. Und die Grünen empfehlen genüsslich, von Oppositions- endlich auf Regierungsmodus umzuschalten. "Die Landesregierung steht für eine menschenwürdige Behandlung von Flüchtlingen", sagt der frischgebackene Fraktionschef Andreas Schwarz. Dazu trage die Sachleistungskarte als "innovative und pragmatische Lösung" bei, was gelte "ungeachtet der Schwierigkeiten mancher CDUler, in die neue Verantwortung hineinzuwachsen".


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1 Kommentar verfügbar

  • Demokrator
    am 01.06.2016
    Antworten
    Das werden 5 "lustige" Jahre mit den zwei Schwarzparteien am Ruder und ihrem "Mix" aus Gas geben bei gleichzeitigem Bremsen.
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