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Historiker Volker Weiß über die extremen Rechten

Wie sie Geschichte umschreiben

Historiker Volker Weiß über die extremen Rechten: Wie sie Geschichte umschreiben
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Rechtsextreme in Deutschland machen aus Hitler einen Kommunisten und beziehen sich positiv auf die DDR. Was absurd anmutet, verfolgt eine antiliberale Strategie, sagt der Historiker Volker Weiß. Mit seinem Buch "Das Deutsche Demokratische Reich" ist er gerade auf Vortragstour.

Der Historiker Volker Weiß, geboren 1972, beschäftigt sich seit seiner Studienzeit mit rechten Denkern der Moderne. Er studierte in Hamburg Literaturwissenschaft und Geschichte und promovierte als Historiker mit der Arbeit "Moderne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und die Transformation des Konservatismus in Deutschland". Spätestens seit seinem 2017 erschienenen Buch "Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes" ist er einem breiteren Publikum als einer der besten Kenner der neurechten Szene bekannt. Weiß ist freischaffender Publizist und schreibt inzwischen hauptsächlich für die "Süddeutsche Zeitung". Sein jüngstes Buch "Das Deutsche Demokratische Reich. Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört" erschien Anfang 2025 bei Klett-Cotta, Stuttgart, und fand breite mediale Resonanz.  (lee)

Herr Weiß, in Baden-Württemberg will die rechtsextreme AfD ihren Landesparteitag ausgerechnet am 9. November abhalten. Was schätzen Sie: Will sie damit an die Pogromnacht oder den Mauerfall erinnern?

Der 9. November ist natürlich ein sehr aufgeladenes Datum. Ich nehme an, dass ihr der Mauerfall näherliegt, da sie die Pogromnacht meist ignoriert. Und durch den Mauerfall wird die Pogromnacht überschrieben.

Spätestens seit AfD-Chefin Alice Weidel im Gespräch mit Elon Musk Hitler als Kommunisten bezeichnet hat, ist diese Umdeutung von Geschichte einer breiteren Öffentlichkeit nahegebracht worden. In Ihrem Buch beschreiben Sie, welche Tradition und Quellen das hat. In Kürze: Warum soll der Nationalsozialismus zu einer linken Ideologie umgeschrieben werden?

Das ist der schnellste Weg, die Hypothek der Vergangenheit loszuwerden. Die Rechte kannte seit 1945 im Prinzip unterschiedliche Varianten im Umgang mit der Vergangenheit, also mit der Niederlage, den Kriegsverbrechen, dem gesamten Nationalsozialismus. Eine Strategie, die nur einige Jahrzehnte unmittelbar nach dem Krieg funktioniert hat, war Verleugnung und Affirmation. Das ist heute kaum mehr zeitgemäß. Eine andere Strategie ist die der Verschiebung: Wenn ich den Nationalsozialismus aus meiner eigenen Traditionslinie herausdefiniere und ihn dem Gegner überantworte, dann bin ich auf der einen Seite die Last der Vergangenheit los und kann auf der anderen Seite den historischen und moralischen Diskurs, der ja von der Gegenseite immer in Anschlag gebracht wurde, gegen diesen Gegner selber wenden.

Aber andererseits bezieht sich zum Beispiel ein Björn Höcke sehr offen auf den Nationalsozialismus. Wie passt dieses Durcheinander denn zusammen?

Es geht dabei kaum um Stringenz in der Argumentation, weder im geschichtspolitischen noch in anderen Bereichen. Es geht darum, möglichst viele, teilweise sich widersprechende Argumente auf die politische Bühne zu bringen. Das stiftet Verwirrung und bietet allen möglichen Milieus die Chance, sich anzudocken. Ich gebe Ihnen noch ein anderes Beispiel: dieser ganze Diskurs um Männlichkeit, der ja eine immense Wirkung entfaltet. Die männlichen Werte, die dort gefordert werden, sind genau die gleichen Werte, die man migrantischen Männern vorwirft. Oder gehen wir weiter zurück: zu Donald Trump im ersten Wahlkampf 2016 mit seinem "grab 'em by the pussy", diesem Bekennen zum sexuellen Übergriff, während zugleich unterstellt wird, dass alle Einwanderer das tun. Man wirft ihnen vor, worauf man selber stolz ist, das geht eigentlich auch nicht zusammen. Aber es geht.

Ihr Buch hat den Untertitel "Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört". Wie und dass sie Geschichte zerstört, beschreiben Sie sehr nachvollziehbar. Warum zerstört das auch die Demokratie?

Weil die Erzählung, die installiert wird, die historisch-fiktionale Gegenerzählung, wie das mein Kollege Gideon Botsch prägnant bezeichnet hat, inhaltlich ein Angriff auf die Demokratie ist. Das zeigt sich an solchen Manövern, wie etwa den Nationalsozialismus zur linken Bewegung zu erklären, um damit die Gegner aufseiten der Linken anzugreifen. Es geht nicht alleine um eine historisch neue Erzählung, sondern auch immer um die Konsequenzen in der Gegenwart. Nicht nur in Deutschland, sondern in allen westlichen Demokratien hat man versucht, nach 1945 wenigstens einen antitotalitären Konsens zu installieren, und der wird damit aufgehoben. Die Totalität wird nur noch links verortet, damit die Rechte freie Hand hat.

Doch warum fällt das auf einen fruchtbaren Boden? Gibt es da Versäumnisse von den anderen Parteien? Oder gibt es in der menschlichen Geschichte einfach immer ein auf und ab?

Ich glaube nicht an irgendeine anthropologische Konstante, so was hat immer gesellschaftliche und historische Ursachen. Außerdem gibt es materielle Bedingungen dafür, zum Beispiel die immensen Propagandamöglichkeiten der neuen Technik. Der Antitotalitarismus hat früher gesagt, die Propaganda gehe hauptsächlich von einem lenkenden Staat aus, und hat dann auf die Vielfalt des Marktes als Gegenmodell gesetzt. Heute haben sich längst Monopole herausgebildet, die zudem noch globale Wirkung entfalten können. Das wäre einem Staat nur bedingt möglich gewesen, ein Unternehmen kann das leichter. Die immense Kapitalkonzentration gerade im Tech-Sektor hat es Akteuren wie Elon Musk ermöglicht, eine derartige Lautstärke zu entwickeln. Die Rechte heute geht sehr modern mit den Propagandainstrumenten um, das hat man immer unterschätzt. Dabei hat der historische Faschismus doch bereits bewiesen, dass er virtuos mit modernsten Technologien umgehen konnte. Gerade im Propagandabereich, ob das die Italiener oder die Deutschen waren, konnten sie die neuesten Medien virtuos bedienen: Rundfunk, Kino, Plakatgestaltung, alles. Und durch die Sonntagsreden über den Rückfall in irgendwelche "Mittelalter" oder "die Barbarei" hat man diesen technologisch-modernistischen Aspekt, der einfach zum Faschismus dazugehört, immer ausgeblendet. Und jetzt wundert man sich, dass die extreme Rechte virtuos mit den modernsten Techniken umgehen kann.

Heißt das, unsere etablierten Parteien sind zu doof für wirkungsvolle Propaganda?

Nein, aber sie unterschätzen den Gegner. Und die Rechte ist wesentlich hemmungsloser. Sie hat andere Mittel durch einen Verstärker wie Elon Musk oder auch Akteure, die eher in der zweiten Reihe stehen – Peter Thiel wäre hier zu nennen. Wenn wir den US-amerikanischen Bereich anschauen, sind deren Möglichkeiten viel größer als die irgendeiner Tageszeitung oder Ihrer Zeitung.

Wir arbeiten dran. Sie haben die USA und Trump eingebracht – eigentlich ist die deutsche extreme Rechte doch anti-amerikanisch, für sie sind die USA dekadent, die haben uns nach dem Zweiten Weltkrieg umerzogen und so weiter.

Ja, aber sie ist eher genuin antiliberal. Und lange wurden die USA genau mit diesen Elementen des Liberalismus identifiziert: Diversität, Flexibilität, gesellschaftliche Modernität, die Versuche, Diskriminierung aufzuheben, Gleichberechtigung – also die positiven Verheißungen des klassischen Liberalismus. Lassen wir mal dahingestellt, ob das jemals real angegangen wurde, aber es war ja durchaus im Selbstverständnis enthalten. Und so lange das im Vordergrund stand, konnte man anti-amerikanisch sein. Der zweite Punkt ist die doppelte Kriegsniederlage, also die Intervention der Amerikaner im Ersten Weltkrieg, die dem Deutschen Reich endgültig das Genick gebrochen hat. Und natürlich die Niederlage von 1945, die ja auch mit den USA identifiziert wird. Aber diese Feindschaft kann man überwinden, wenn die USA sich so aufführen, wie sie das jetzt gerade tun. Also mit einem Amerika, das sich auf den Stand von 1917 zurückbesinnt und sich an eine Großraumordnung nach Vorstellungen der Rechten hält, nämlich mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Mit diesen USA kann man leben.

Tja, mal sehen, ob Trump da mitspielt. Zurück zur extremen Rechten bei uns. Worauf läuft deren Verwirrpropaganda hinaus?

Diese Strategie der Disruption gibt es in vielen Feldern. Und die bleibt nicht stehen bei der Auflösung. Es geht darum, nach der totalen Zerschlagung der liberal-emanzipativen Elemente etwas Eigenes aufzubauen. Und dann ist schon Schluss mit Disruption! Das ist das, was wir gerade sehen am Diskurs um Meinungsfreiheit in den USA. Lügen, Drohungen, Häme über den Tod von George Floyd – das war alles von der Meinungsfreiheit gedeckt. Jetzt, nach dem Mord an Charlie Kirk, werden Zeitungen, Sender und andere Akteure angegriffen, weil sie plötzlich doch nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Also erst Disruption des Diskurses, dann Rekonstruktion eines neuen autoritären Modells.

Den Titel Ihres Buchs "Das Deutsche Demokratische Reich" haben Sie aus einer Rede von Jürgen Elsässer, dem Herausgeber des rechtsextremen Magazins "Compact", übernommen. Warum?

Weil es gewissermaßen die Synthese ist, mit der gespielt wird. Das hängt mit dem doppeldeutigen Diskurs zusammen, wie etwa mit dem Nationalsozialismus umgegangen wird. Auf der einen Seite schiebt man ihn den Gegnern zu, auf der anderen Seite spielt man selbst mit den Elementen. Denken Sie an die Parole "Alice für Deutschland".

Die prangte auf AfD-Plakaten im jüngsten Bundestagswahlkampf.

Ja. Das ist eine phonetische Verschiebung der SA-Parole "Alles für Deutschland", wegen der Höcke verurteilt worden ist. Das gleiche Spiel gibt es auch in Bezug auf die DDR. Dort bezieht man sich auf der einen Seite auf die Bürgerrechtsbewegung und auf der anderen Seite auf die DDR als eine vermeintlich heile, funktionierende, halbwegs isolierte und ethnisch reine Gemeinschaft. Das sieht man an vielen Anleihen an die DDR-Alltagskultur, und das funktioniert im Osten sehr gut. Ich nenne das eine Art negative Totalitarismustheorie: Die autoritären Elemente beider Systeme sollen in der Zukunft zur Synthese gebracht werden. Hintergrund für den Buchtitel ist eine Rede, in der Jürgen Elsässer unter anderem davon träumt, dass Elon Musk einen Raketenbahnhof in Peenemünde baut, was eine deutliche Referenz an die Rüstungsprojekte der Nazis ist. In der gleichen Rede werden alte DDR-Parolen benutzt wie "Vorwärts immer, rückwärts nimmer". Das doppelte Spiel wird auch in der positiven Ausrichtung auf Russland angewendet. Da kann man sich auf der einen Seite an die langjährige Waffenbrüderschaft im Realsozialismus erinnern und auf der anderen Seite aber auch an den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, der zu Beginn des Zweiten Weltkriegs stand. Dieses doppelte Spiel wird auf ganzer Linie gespielt, und die Synthese in deren Augen ist dann jenes Deutsche Demokratische Reich, also eine Mischung aus Nationalsozialismus und Realsozialismus. So kommt der Titel zustande.

Haben Sie eigentlich Reaktionen von rechts auf Ihr Buch bekommen?

Nein, die halten momentan den Mund. Das war früher stärker. Ich denke, die Fronten sind geklärt.


Volker Weiß liest am kommenden Samstag, 27. September im Rahmen des Tübinger Bücherfestes aus seinem Buch "Das Deutsche Demokratische Reich". Beginn ist um 15 Uhr im Weltethos-Institut Tübingen.

Am Sonntag, 28. September kommt Weiß auf Einladung der Bürgerinitiative Aufstehen nach Esslingen ins Kabarett der Galgenstricke, Webergasse 9, wo er aus seinem Buch liest und von Kontext-Redakteurin Gesa von Leesen interviewt wird. Beginn 11 Uhr, Eintritt auf Spendenbasis.

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