KONTEXT:Wochenzeitung
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Rechtsextremismusforscherin Heike Radvan

"Gute Gründe, die AfD zu verbieten"

Rechtsextremismusforscherin Heike Radvan: "Gute Gründe, die AfD zu verbieten"
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Das Institut für Rechtsextremismusforschung in Tübingen ist bundesweit einmalig. Dort zu arbeiten, sei ein Privileg, sagt Professorin Heike Radvan. Im Interview spricht sie über die AfD, gesellschaftliche Gegenwehr und die Verantwortung der Politik. Am Dienstag ist sie bei "Kontext im Merlin" zu Gast. 

Die leeren Regale stehen da wie fleischlose Gerippe, auf dem Schreibtisch ein einsamer Computer, und vor der Tür ihres Dienstzimmers hängt noch kein Namensschild. Die Kaffeetasse, "meine Möwentasse",  weist darauf hin, dass da gerade jemand aus dem Norden einzieht: Am 1. Oktober hat Heike Radvan ihren neuen Arbeitsplatz an der Uni Tübingen bezogen. Die Professorin für Erziehungswissenschaften wird gemeinsam mit drei weiteren Wissenschaftler:innen forschen und lehren, geleitet wird das Institut vom Politikwissenschaftler Rolf Frankenberger. Ein Namensschild hat das Institut nicht, die Adresse soll nicht genannt werden, noch wird an den Sicherheitsvorkehrungen gearbeitet.  

Frau Radvan, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit der Erforschung des Rechtsextremismus. Wie kam die gebürtige Rügenerin zum Thema, oder kam das Thema zu Ihnen? 

Eine Rechtsextremismusforscherin mit Ausbildung zur Tischlerin: Bei Heike Radvan geht das zusammen und sorgt für eine Erdung im Wissenschaftsbetrieb. Geboren ist die 50-Jährige auf Rügen. Nach ihrer Lehre studierte sie an der Alice-Salomon-Fachhochschule soziale Arbeit, promovierte in Erziehungswissenschaften und Psychologie an der FU Berlin und arbeitete 15 Jahre lang bei der Amadeu-Antonio-Stiftung. 2017 wurde sie Professorin für Methode und Theorien Sozialer Arbeit an der Uni Cottbus. Dort hat sie nicht nur gelehrt: Als Hetze und Hass der Pegida-Demos auch an die Uni schwappten, erstellte sie ein Handlungskonzept gegen extrem rechte Einflussnahme.

Seit dem 1. Oktober ist Heike Radvan Professorin für Rechtsextremismusforschung an der Uni Tübingen.  (sus)

Es war im August 1992: Ich war als Au-pair in den USA, hatte gerade Abitur gemacht und einen deutschen Gastvater, der Professor war und aus Heidelberg kam. Er klebte am Fernseher und forderte mich auf, mich dazuzusetzen. Da liefen live die Bilder vom Pogrom in Rostock. Ich komme ja von da oben, Rügen ist nur zwei Stunden entfernt von Rostock. Die Bilder waren bedrückend, und gleichzeitig fragte mich der Gastvater: Wie kommt es dazu, ihr wart doch ein antifaschistischer Staat? Ich hatte keine Antworten darauf, aber das hat mich politisiert. 

Sie haben 15 Jahre lang in der Amadeu-Antonio-Stiftung (AAS) gearbeitet und dort die Fachstelle Gender und Rechtsextremismus aufgebaut. Der Mord an Amadeu Antonio in Eberswalde war einer der ersten, der von Rechtsextremen in den 1990ern begangen wurde.  

Die AAS hat in einer Projektarbeit in Eberswalde gefragt, was man gegen rechte Dominanzbestrebungen tun kann. Die Antworten: Der Bürgermeister und die Polizeipräsidentin hatten ein klares Verständnis von demokratischer Kultur. Sie haben sich positioniert, deutlich gesagt, wir wollen keinen Rechtsextremismus in unserer Stadt, und sind auch bei Demonstrationen gegen Rechtsextremismus vorne mitgelaufen. Gefördert wurden demokratische Jugendarbeit, interkulturelle Projekte, Bildung. Die Antwort lautet auch: Wir müssen die Betroffenen rechter Gewalt unterstützen. Auch in meiner Forschung ist mir die Betroffenenperspektive wichtig.

In Neubrandenburg hat die Stadtverordnetenversammlung jüngst beschlossen, die Regenbogenfahne am Bahnhof abzuhängen. Gegen den schwulen Bürgermeister Silvio Witt wurde gehetzt, jetzt ist er nach zehn Jahren im Amt zurückgetreten. Ich nehme an, dass Sie das nicht mehr überrascht?

Nein, überrascht bin ich leider nicht. Ich kenne Herrn Witt, er war Gesprächspartner in einem Modellprojekt zu "Lesben, Schwule, Trans* in Mecklenburg-Vorpommern gestern und heute". Herr Witt ist kurz nach der Eröffnung unserer Ausstellung Bürgermeister geworden. Er ist sehr mutig und ein engagierter Demokrat. 

Das hat ihn nicht geschützt. Bei drei ostdeutschen Landtagswahlen gibt es Stimmengewinne für die AfD, in Bautzen wird der CSD massiv von Rechtsextremen bedroht. Da frage ich wie Ihr Gastvater in den USA: Woher kommt das? Ihr wart doch ein antifaschistischer Staat? 

Es gibt historisch zwei wichtige Aspekte. Ost- und Westdeutschland sind beide postnationalsozialistische Gesellschaften, aber sie haben sich unterschiedlich damit auseinandergesetzt. Mit den Auschwitzprozessen und der Studentenbewegung wurde das Thema öffentlich verhandelt, teilweise innerfamiliär aufgegriffen. In der DDR gab es seit Mauerbau allenfalls eine mediale Thematisierung in Gegenden mit Westfernsehen. Außerdem hätte es nach dem Fall der Mauer eine stärkere Förderung demokratischer, zivilgesellschaftlicher Projekte gebraucht. Dritter Aspekt: In der DDR war Erziehung nach wie vor stark autoritär geprägt. Was ich in einer Demokratie aber brauche, sind Subjekte, die selbstreflexiv und aktiv den Alltag mitgestalten. Diese Möglichkeiten waren in der DDR für viele sehr begrenzt. Nicht zuletzt werden in diesem Zusammenhang häufig die Herausforderungen und Ungerechtigkeiten der Transformationszeit benannt. Darüber muss man reden, nicht zuletzt im Westen.

Der Osten kommt von seiner autoritären Vergangenheit nicht los?

Das Stereotyp des braunen Ostens bringt uns nicht weiter. Es braucht einen rekonstruktiven Blick, um erklären zu können, woher das kommt. Denn es gibt diese Regionen auch in Westdeutschland. 

Hier in Baden-Württemberg etwa fährt im Zollern-Alb-Kreis die AfD hohe Wahlergebnisse ein. Im kleinen Ort Killer wurde vergangenen Sommer der CDU-Landrat aus der Bürgerversammlung gejagt, der die Gründe für die Aufnahme von Geflüchteten darlegen wollte. 

Der Westen holt auf. Wir müssen uns fragen: Was kann man machen in ländlichen Räumen, wo wir es mit extrem rechten Dominanzbestrebungen, mit rechten Akteuren und rechten Parteien zu tun haben? Was bei der Arbeit der Amadeu-Antonio-Stiftung deutlich wurde, gilt nicht nur für Eberswalde. Der Kampf gegen Rechtsextremismus braucht eine deutliche Positionierung politischer Akteure und von Verantwortlichen, braucht die Unterstützung demokratischer Alltagskultur, Unterstützung Betroffener, politische Bildung, lokalhistorische Aufarbeitung … und einiges mehr.

Spätestens seit den NSU-Morden wurde mit Beate Zschäpe der Blick auf die Rolle von Frauen in rechtsextremen Gruppierungen gelenkt. 

Und da gibt es noch viel zu tun, vor allem im Bereich geschlechterspezifischer Prävention. Nicht zuletzt, was rechtsextreme Influencerinnen angeht oder die Erziehungsvorstellungen rechtsextremer Frauen und ihre Strategien, diese in Schule und Kita einzubringen. Es geht mir zuallererst darum, dieses Weltbild auch sprachlich zu erkennen: Wo vertritt jemand auf den ersten Blick nicht erkennbar beispielsweise rassistische oder antisemitische Positionen. Denn: Wenn das nicht früh erkannt wird, können Institutionen ganz leicht beeinflusst oder gar unterwandert werden. 

Sie haben Fortbildung für Kolleg:innen in Tageseinrichtungen angeboten, auch in Regionen, wo völkische Siedlerfamilien leben. 

Das betrifft stark auch Mecklenburg-Vorpommern. Hier hat uns eine Kita-Erzieherin angerufen, die erzählt hat von einer Elternversammlung, bei der ihr eine neu zugezogene, sehr aktive Frau aufgefallen ist. Die war engagiert, schlug vor, den Spielplatz schön zu machen, die Kitaräume selbst zu renovieren und sagte dann: Wir können ja die Kinderfotos an der Wand abhängen und durch Bilder "mit unseren Kindern" ersetzen. Die zu ersetzenden Fotos waren auch solche von Kindern mit körperlichen Beeinträchtigungen und geflüchteten Kindern. Es war tatsächlich so, dass es eine strategische Intervention einer Frau aus der rechten Siedlerbewegung war. Wir müssen nicht nur rechte Symbole kennen oder Kleidermarken zuordnen können. Wir müssen Sprache und Inhalte erkennen, mit denen extrem rechte Akteur:innen zu intervenieren zu versuchen. 

Derzeit nimmt die Debatte um ein AfD-Verbot wieder an Fahrt auf. Nach den Landtagswahlen und den Enthüllungen von "Correctiv" zur "Remigration" gibt es nun eine interfraktionelle Initiative von Bundestagsabgeordneten. Wäre ein Verbot nicht ein längst gebotenes Signal? 

Ich komme aus einer zweifelnden Position. Denn grundsätzlich kann das nicht die einzige Antwort einer demokratisch verfassten Gesellschaft sein. Was wir erlebt haben vor den Wahlen, ist, dass demokratische Parteien rechte Positionen übernehmen. Doch das verschiebt nur den Diskurs nach rechts und stärkt rechte Akteure. Demokratische Parteien sollten dagegenhalten. Das müsste lange vor einem Verbot klar sein. Leider ist das nicht so. 

Es ist ein Instrument einer demokratisch verfassten Gesellschaft, zu prüfen, ob eine Partei verfassungsfeindlich ist und verboten werden muss. 

Das ist eine demokratietheoretische Debatte. Belege dafür, dass die AfD die demokratische Verfasstheit abschaffen will, da stimmen mir Kolleg:innen aus der Forschung zu, liegen vor; zuletzt beobachtbar im Thüringer Landtag. Juristisch gesehen  sind die Aussagen einzelner Personen nicht hinreichend. Es muss die Absicht nachgewiesen werden, das demokratische System umzustürzen. Die entscheidende Frage lautet: Wo stehen wir eigentlich? Und die würde ich aus der Perspektive der Betroffenen beantworten. Aus dieser Perspektive gibt es sehr gute Gründe, die AfD zu verbieten. Weil Menschen bedroht sind, ihnen Gewalt widerfährt, sie sich zurückziehen, nicht mehr politisch teilhaben, und weil es hier klare Antworten braucht im besten Sinne einer wehrhaften Demokratie. Wir sind in der Gesellschaft an einem Punkt angekommen, wo wir nicht nur eine Diskursverschiebung nach rechts haben, sondern auch eine Verschiebung innerhalb des gesamten politischen Gefüges. Es muss eine Zäsur geben. Das wäre meine Hoffnung, die sich mit einem Verbot verbindet. 

"Wenn die rechtsextrem sind, warum kann ich die dann wählen, die können nicht so schlimm sein" – das habe ich im Vorfeld der Thüringer Landtagswahl in Erfurt oft gehört. 

Die AfD ist keine Partei wie jede andere und sie ist nicht dadurch demokratisch, dass sie in einem demokratischen System gewählt werden kann. Insofern wäre ein Verbot auch ein gesellschaftliches Signal. Wenn man die Statistiken der Opferberatungsstellen in den drei ostdeutschen Bundesländern anschaut, wo gewählt wurde, sieht man: Im Zuge des Wahlkampfes gab es Orte, in denen Menschen verstärkt rechte Gewalt widerfährt.

Sie sprechen von Geflüchteten, jüdischen und queeren Menschen, von linken Aktivist:innen, die sich einsetzen für eine offene, demokratische Gesellschaft.

Viele dieser Menschen haben Angst rauszugehen. Es gibt diese rechten Dominanzen wieder mehr. Darüber wird zu wenig gesprochen, über die Angriffe wie etwa im vergangenen Sommer, auch auf Einrichtungen der Lebenshilfe.

Eine Organisation für Menschen mit geistiger Behinderung. 

Übrigens waren die beiden Angriffe im Westen. In die Geschäftsstelle und in eine Wohneinrichtung der Lebenshilfe in Mönchengladbach  wurden Steine geworfen, auf denen stand: "Euthanasie ist die Lösung". Man kann vermuten, dass das rechte Täter:innen waren. Daran sieht man, dass in einer Gesellschaft, in der rechte Mobilisierung Raum greift, rechte Diskurse stärker werden, die Bedrohung vor allem für Betroffene größer wird. Wir sehen das auch bei den massiven Angriffen wie kürzlich in Bautzen beim CSD. Das ist eine massive gesellschaftliche Veränderung. Deshalb sage ich, ich würde die Debatte um ein Verbot aus der Sicht der Betroffenen führen. 

Jetzt ist die Professorin aus Cottbus im Süden der Republik angekommen. Haben Sie sich schon vorbereitet auf die Schwaben? 

Ich habe gehört, das Essen sei gut, und es sei etwas wärmer als dort, wo ich herkomme. Im Ernst: Hier gibt es dieses Tübinger Institut mit dem Schwerpunkt Rechtsextremismus, an dem jetzt verschiedene Wissenschaftler:innen, unter anderem aus der Politikwissenschaft, der Medienwissenschaft und der Erziehungswissenschaft interdisziplinär forschen und lehren. Derzeit sind wir drei Professorinnen, eine weitere Professur wird noch besetzt. Mit dem Institut wird eine Empfehlung aus dem NSU-Untersuchungsausschuss umgesetzt. Es ist bundesweit das erste Rechtsextremismus-Institut innerhalb einer Universität. Das ist für mich Privileg und Verantwortung zugleich, damit verbinden sich für mich viele Hoffnungen und Chancen auf gesellschaftliche Intervention.


Zum vierten Mal laden wir am Dienstag, 29. Oktober zur Gesprächsreihe „Kontext im Merlin“ ein. Diesmal wollen wir über den Rechtsruck in der Gesellschaft reden. Mit dabei sind Heike Radvan, Georg Restle, Leiter des ARD-Politikmagazins „Monitor“, und Landrat Günther-Martin Pauli aus dem Zollernalbkreis, einem Hotspot der AfD. Beginn ist um 20.00 Uhr im Kulturzentrum Merlin, Augustenstraße 72, 70178 Stuttgart, um eine Anmeldung unter diesem Link wird gebeten. Der Eintritt ist frei, Spenden sind willkommen.

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22 Kommentare verfügbar

  • Peter Nowak
    am 29.10.2024
    Antworten
    "Es gibt historisch zwei wichtige Aspekte. Ost- und Westdeutschland sind beide postnationalsozialistische Gesellschaften, aber sie haben sich unterschiedlich damit auseinandergesetzt", sagt Heike Radvan richtig.
    Doch im Anschluss bedient sie die heute offizielle Erzählung, in der BRD wäre dann…
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