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Medizinische Notfallversorgung

Ungedeckte Wechsel auf die Zukunft

Medizinische Notfallversorgung: Ungedeckte Wechsel auf die Zukunft
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In Baden-Württemberg stehen weitere 18 Notfallpraxen vor dem Aus. Medizinische Bereitschaftsdienste werden ausgedünnt. Die Empörung vor Ort ist groß, doch Schadensbegrenzung, wenn überhaupt, bestenfalls mittelfristig vorstellbar.

"Wenn wir den Bereitschaftsdienst nicht anpassen, dann fahren wir die Regelversorgung im Land an die Wand", sagt Karsten Braun, der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung im Land (KVBW). Ein Satz wie ein Offenbarungseid. Die Mangelverwaltung nimmt dramatische Züge an. An Sonn- oder Feiertagen, nachts, frühmorgens oder spätabends müssen Patient:innen künftig Einschränkungen hinnehmen. Der Grund: Rund tausend Stellen im Land, an denen Mediziner:innen dringend nötig wären, sind unbesetzt. 

Bereits im vergangenen Jahr hat die KVBW zudem acht Notfallpraxen in Baden-Württemberg dauerhaft geschlossen. Ab April 2025 sollen 18 weitere folgen. Landessozialminister Manfred Lucha (Grüne), der die Rechtsaufsicht über die KVBW führt, könnte die Schließungspläne zumindest aufhalten, ist aber – wie er bemerkenswert offen bekennt – daran gar nicht interessiert. Denn "das A und O" sei, dass gerade die Ärzteschaft die neuen Pläne zur Gestaltung des Bereitschaftsdienstes mitträgt. So könne die Versorgung insgesamt und gerade im ländlichen Raum sichergestellt werden. 

Laut Lucha müsse den Menschen nun vermittelt werden, dass sich die Versorgungsqualität durch die Schließungen überhaupt nicht verschlechtere. "Fahrzeiten werden bis zu ein paar Minuten größer", räumt er ein – doch bei den verbleibenden Standorten verbessere sich dafür das Angebot.

Ein Niedergang mit vielen Eltern

Fraglich ist, wie sehr die Argumentation zu überzeugen vermag, angesichts der Langzeitentwicklung im Gesundheitswesen: Der Niedergang hat viele Väter und Mütter. Es geht längst nicht nur um stark blutende Schnittwunden am Wochenende oder Insektenstich-Allergien, die auch nach Feierabend heimtückisch bleiben. Es geht längst darum, ob und wo es Hausärzt:innen überhaupt noch gibt, wie weit der Weg ins nächste Krankenhaus ist, ob die Ausstattung der Rettungsdienste ausreicht, um einzuspringen und schnell genug vor Ort zu sein. Wesentliche Teile des Sozialstaats stehen auf dem Spiel, und nötig ist eine ehrliche Bestandsaufnahme, die mit der Feststellung beginnen müsste, wann eigentlich die Systeme falsch abgebogen sind.

Angefangen hat es schon 1989. Damals wurden alle früheren sogenannten "Kostendämpfungsgesetze" im Gesundheitswesen als untauglich eingeordnet. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) kündigte ein "Jahrhundertwerk" an. Von dem konnte schlussendlich keine Rede sein. "Vorkasse beim Zahnarzt, nur noch Billig-Brillen auf Krankenschein, keine orthopädischen Schuheinlagen und keine Abführmittel mehr", schlug der "Spiegel" Alarm. Das Volk der Versicherten fühle sich um seine Kassenbeiträge geprellt. Nach der Reform war und ist bis heute vor der Reform: Lücken wurden geschlossen und anderswo entstanden neue.

Zugleich ist die Erwartungshaltung an die ärztliche Versorgungssicherheit berechtigt groß, aber immer öfter unerfüllbar. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat ebenfalls das Volk der Versicherten im Blick, wenn er darüber berichtet, was bei seinen Besuchen vor Ort an ihn herangetragen wird. Regelmäßig seien 90 Prozent der Leute bereit, für den Erhalt des eigenen Krankenhauses zu unterschreiben, bestenfalls 50 Prozent würden im Ernstfall aber dieses Krankenhaus auch aufsuchen, viele stattdessen die nächste, größere und vermeintlich bessere Klinik. Gesundheit sei eben ein "verständlicherweise hochemotionales Thema", Politik müsse "auf diese Emotionalität aber rational reagieren".

Rund um die 18 Praxen, die vor dem Aus stehen, ist der Landesregierung und den Abgeordneten von Grünen und CDU genau das aber nicht so recht gelungen. Mehr als eine Woche lang waberten Gerüchte, welche Schließungen drohen, und die Aufregung an den betroffenen Standorten konnte immer weiter hochkochen – in Achern, Albstadt, Backnang, Bad Saulgau, Brackenheim, Eberbach, Ellwangen, Ettlingen, Herrenberg, Kirchheim unter Teck, Müllheim, Münsingen, Nagold, Neuenbürg, Oberndorf, Tettnang, Schwetzingen und Wolfach. Eingefräst hat sich auf diese Weise der Begriff "Notfall". Mit Bussen kamen Demonstrierende am vergangenen Montag nach Stuttgart-Möhringen zur KVBW, um ihrem Unmut Luft zu machen. "Schande!" stand auf den Plakaten, oder "Es geht um Menschen, die Hilfen brauchen" und "Notfallversorgung ist kein Luxus".

Weitere Verschlechterung absehbar

Letztere steht gar nicht zur Disposition, wie die Verantwortlichen der KVBW spät, aber jetzt anhaltend beteuern. Wobei auch die Begrifflichkeiten zur Verwirrung beitragen: Unter den "Medizinischen Notdiensten" sind unter anderem Notfallambulanzen und an Kliniken angesiedelte Notfallpraxen. Verändert wird allein der hausärztliche Bereitschaftsdienst, der vor 14 Jahren aufgebaut wurde, um eine Antwort auf längere Schließzeiten in den herkömmlichen Haus- und Facharztpraxen zu geben. Die Struktur werde "robust und zukunftsorientiert", heißt es, und 95 Prozent der Bevölkerung könnten einen Standort in 30 Fahrminuten erreichen, der Rest soll innerhalb von 45 Minuten vor Ort sein.

Allerdings ändert das nichts daran: Wenn 2025 die Umstrukturierung abgeschlossen ist, werden rund 30 Prozent jener Kapazitäten entfallen sein, die vor 14 Jahren als unabdingbar erachtet wurden. Zudem klingt es nach weißer Salbe, wenn die KVBW vorrechnet, dass im Schnitt jede:r im Land einen Bereitschaftsdienst ohnehin nur einmal alle fünf oder sechs Jahre benötige. 

Reformen im Gesundheitswesen waren stets fragwürdige Wechsel auf die Zukunft, weil der Staat immer wieder zu wenig Geld zumindest zur Anschubfinanzierung aufbringen wollte. Löcher wurden gestopft und anderswo neue gerissen. Viele dieser Wechsel stellten sich als ungedeckt heraus, weil Fallpauschalen und Budgetierungen, Zuzahlungen und marktwirtschaftliche Elemente die damit verbundenen Versprechen einer besseren und preiswerteren Versorgung keineswegs erfüllten. Diesmal heißen die neuen Zauberworte Telemedizin oder Patientensteuerung.

Dass dies gegenwärtig an den Bedürfnissen älterer Semester ganz und gar vorbeigeht, ändert an der harten Realität wenig. "Denn", sagt Lucha, "wir können den demografischen Wandel, die bevorstehende Verrentungswelle in der Ärzteschaft und den zunehmenden Wunsch nach Teilzeitarbeit unter Medizinern, auch weil der Beruf weiblicher geworden ist, sowie den zunehmenden Ärztemangel nicht ignorieren." 

Noch so ein wuchtiger Satz mit einer eindeutigen Botschaft: Vor allem wer nicht privat versichert ist, muss sich mit dem Gedanken anfreunden, dass vieles – Wartezeiten, Zuzahlungen, Hilfsfristen oder Erreichbarkeit – für ihn und sie schlechter wird in Zukunft. Oder zumindest auf keinen Fall besser. 

Eine weitere Fehlkonstruktion: Pflegeversicherung

Gerade die Südwest-CDU hatte lange Zeit in den 1980er-Jahren nicht nur die Notwendigkeit einer Pflegeversicherung kategorisch bestritten, sondern auch Vorreiter:innen in der SPD scharf kritisiert. Die CDU-Alleinregierung unter Ministerpräsident Lothar Späth brachte 1990 dann doch einen von vielen Expert:innen als unzulänglich beurteilten Gesetzentwurf für eine teilprivate Lösung in den Bundesrat ein. Der nächste CDU-Ministerpräsident Erwin Teufel riskierte mit dem ausschlaggebenden Ja Baden-Württembergs in der Länderkammer entgegen aller Absprachen sogar den Fortbestand der Koalition mit der SPD. Deren Sozialpolitiker Werner Weinmann, selbst Unternehmer übrigens, nannte das Modell "niemals tragfähig über Jahrzehnte". Zur Finanzierung des Arbeitgeberanteils wurde schlussendlich ein Feiertag, der Buß- und Bettag, abgeschafft.

Von Anfang an war der staatliche Anteil an der Finanzierung im europäischen Vergleich gering. Die "Fehlkonstruktion" wird seit Langem beklagt. "Das Prinzip der Teilkaskoversicherung, mit dem der deutsche Staat seine Verantwortung für die Pflege an die Angehörigen weiterschiebt, bewirkt eine Unterfinanzierung der Pflege, bei der immer mehr alte Menschen gegen ihren Willen in Pflegeheime abgeschoben werden, für die weder sie noch die Angehörigen die Kosten bezahlen können", schreibt Norbert Necker von der Seniorengemeinschaft Obere Fils.

Selbst in Zeiten sprudelnder Steuereinnahmen mochten die unionsgeführten Bundesregierungen nichts wissen von sinnvollen Strukturreformen, trotz der immer neuen Beiräte, die immer neue Empfehlungslisten präsentierten. Gerade FDP-Politiker:innen sahen sich regelmäßig heftiger Kritik ausgesetzt. Zum Beispiel Daniel Bahr, als 2011 die Prognose auf den Tisch kam, wonach sich die Zahl 2,3 Millionen pflegebedürftiger Menschen in Deutschland bis 2050 verdoppeln werde. Bahr erarbeitete sein "Pflege-Neuausrichtungsgesetz" und versprach "Altern in Würde". Fachleute wie die vom Paritätischen Wohlfahrtsverband errechneten, dass sechs Milliarden Euro mehr ins System gesteckt werden müssten. Das Geld ist nie geflossen. Auch diese Scherben versucht die Ampel jetzt aufzukehren – mehr schlecht als recht und in Zeiten, in denen die finanziellen Spielräume der öffentlichen Hand längst gegen Null tendieren.  (jhw)


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1 Kommentar verfügbar

  • bedellus
    vor 2 Wochen
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    Interessant wäre ein Vergleich mit der Schweiz. Aus eigener Erfahrung scheint mir da die Problematik besser, rationaler angegangen zu werden. Das hat ja auch mit Selbstverantwortung zu tun.
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