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Stichlinge im Bodensee

Sag mir, wo die Fische sind

Stichlinge im Bodensee: Sag mir, wo die Fische sind
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Im Bodensee sind "Abermillionen Stichlinge" spurlos verschwunden. Ein geheimnisvolles Massensterben? Die Wissenschaft rätselt, die Fischer geben Kontra: "Die vielen Stichlinge hat es nie gegeben." Mit den Stichlingen verschwinden womöglich auch alte Glaubenssätze zur Bodensee-Fischerei.

Der dreistachlige Stichling ist ein farbenfroher, defensiv gut bewaffneter Fisch. Er ist unter anderem für sein intensives Balzverhalten inklusive Zickzack-Hochzeitstanz bekannt. In den Bodensee ist er vermutlich durch Aquarianer eingeschleppt worden. Vor genau zehn Jahren soll die Invasion im Schwäbischen Meer begonnen haben. Seitdem gilt der kleine Stachlige als gebietsfremder Eindringling, der die Eier und Larven anderer Fische frisst, unter anderem die der berühmten Bodensee-Felchen. Und der zudem auch noch klein und vollkommen ungenießbar ist, kein Fisch für Teller und Tafel.

Jetzt hat der dreistachlige Stichling einen neuen Streit zwischen Wissenschaftlern und Fischern ausgelöst, der alte Gewissheiten zum Fischbestand im größten deutschen See ins Wanken bringt. Denn plötzlich sollen Abermillionen Stichlinge spurlos verschwunden sein und niemand weiß, warum und wohin.

In den letzten Veröffentlichungen hatte die Fischereiforschungsstelle Langenargen den Stichlingsbestand noch auf sagenhafte 96 Prozent aller Fische im Bodensee beziffert. Nur vier Prozent blieben demnach für den Rest: Felchen, Egli, Wels und Co. Nach dieser Lesart hat sich der Stichling explosionsartig ausgebreitet und die Herrschaft im See übernommen.

Bandwürmer, Hochwasser oder natürlicher Schwund?

Doch jetzt kam die Kehrtwende. Bei mehreren intensiven Befischungsversuchen gingen den Wissenschaftlern der Forschungsstelle nur einzelne Exemplare ins Netz. "Wir sind bass erstaunt über das Verschwinden der Stichlinge, dabei haben wir keine Meldungen von einem großen Fischsterben bekommen", sagt der Leiter der Forschungsstelle, Alexander Brinker. Die Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel. Wo sind die vielen Fische geblieben, was könnte die Ursache des plötzlichen Stichlingsschwunds sein? Ein Parasitenbefall mit einem Bandwurm habe zwar in anderen Seen die Stichlinge dezimiert, doch am Bodensee sei die Befallsrate mit dem Bandwurm zu gering, sagt Brinker. Das Hochwasser am See könnte eine Rolle spielen, weil dadurch vielleicht der ufernahe Nestbau der Stichlinge beeinträchtigt worden sei. Auch diese Erklärung bleibt aber vage Spekulation. Vielleicht habe die Natur auch selbst Hand angelegt, räsoniert Brinker: Wenn eine einzelne Art zu dominant werde, sorge die Natur manchmal von allein für deren Niedergang.

Letztlich gibt es keine plausible Erklärung. Sicher ist nur: Für den See ist das Verschwinden des Stichlings in jedem Fall eine gute Nachricht. Der kleine Eindringling ist ein Nahrungskonkurrent, er frisst neben Hüpferlingen und Wasserflöhen auch den Nachwuchs anderer Arten. Deshalb sollte der Stichling nach den Plänen der Wissenschaft bekämpft und abgefischt werden. Hat sich das Problem jetzt von selbst erledigt?

Millionen Fische können nicht einfach verschwinden

Bernd Kaulitzki, den Vorstand im Verein Bodenseefisch, bringt das Thema Stichlinge sichtlich in Rage. Er hat nämlich eine ganz andere Erklärung für das rätselhafte Verschwinden: "Die vielen Stichlinge, die hat es nie gegeben, das sagen wir schon seit Langem, aber es hört keiner auf uns." Die angeblich großen Bestände vergangener Jahre seien lediglich mit dem Echolot ermittelt worden. Diese Echolot-Untersuchungen seien aber ganz offensichtlich fehlerhaft gewesen, ist Kaulitzki überzeugt. "Ich habe in den letzten Jahren kaum Stichlinge gefangen, meine Fischerkollegen ebenso – warum wohl?" Theorie und Praxis würden seit Jahren weit auseinanderklaffen, sagt Kaulitzki, "aber Langenargen wird nie im Leben zugeben, dass sie sich getäuscht haben". Wenn 96 Prozent aller Fische plötzlich verschwunden seien, dann gäbe es jetzt also nur noch vier Prozent des Fischbestands im See. Das sei doch kompletter Unsinn. "Millionen Fische können nicht einfach verschwinden", so das Fazit des Fischers.

Die Wissenschaftler in Langenargen wissen, dass die Fischer in vielen Punkten ganz andere Positionen vertreten. "Ich weiß, was sie Ihnen sagen werden", sagt Brinker. Wissenschaftler und Fischer – das sind seit Jahren ziemlich beste Freunde am See.

Der Streit dreht sich nicht nur um Stichlinge. Er rührt an alten tiefen Konflikten. Letztlich geht es für die letzten verbliebenen Bodenseefischer immer wieder um die entscheidende existentielle Frage: Was ist der Grund für den dramatischen Niedergang der Felchen und des übrigen Fischbestands im Bodensee? Die Netze der Fischer sind von Jahr zu Jahr leerer geworden, und die gefangenen Fische wurden immer magerer. Der invasive Stichling, der andere Arten bedroht, galt bisher als eine der Ursachen für den Niedergang der Bodensee-Fischerei, neben Tausenden Kormoranpaaren rund um den See. Die Fischer machen aber vorrangig das nährstoffarme Wasser des Sees verantwortlich. "Die Fisch‘ hont nix zum Fressa", sie würden schlichtweg verhungern, sagt etwa der Hemmenhofer Bodenseefischer und Kaulitzki-Kollege Wilhelm Böhler. Er und andere Fischer fordern seit Jahren, den Nährstoffmangel und die Reinigungswut ins Zentrum der Überlegungen zu stellen. Doch der Bodensee ist der große Trinkwasser-Lieferant für fünf Millionen Menschen. Immer neue Reinigungsstufen machen ihn immer sauberer, aber zugleich auch nährstoffärmer. Eine "blaue Wüste", schrieb die "Süddeutsche Zeitung".

Die große Abfischung im November

Wie soll es jetzt weitergehen? Trotz der verschwundenen Stichlinge soll im November ein großer wissenschaftlicher Abfischungsversuch unternommen werden. Mit Spezialnetzen, die passgenau auf den kleinen Fisch zugeschnitten sind, soll der Eindringling weiter dezimiert werden. Falls er überhaupt noch vorhanden ist. Die Aktion war nämlich von Seiten der Wissenschaft geplant worden, als der Bodensee – angeblich – noch voller Stichlinge war. Jetzt ist sie eigentlich überflüssig geworden. Doch geplant ist geplant. Jetzt soll vor allem die Methode und Technik des Fangs kleiner Fische erprobt werden. "Mit unserem Spezial-Schleppnetz in neun bis zwölf Metern Tiefe fängt man fast nur Stichlinge", sagt der wissenschaftliche Koordinator der Aktion, der Fischwissenschaftler Michael Schubert.

Nach der Abfischung wird man jedenfalls zuverlässig sagen können, wie viele Stichlinge sich tatsächlich noch im Bodensee befinden. Andere Fischarten, die als Beifang mit im Netz zappeln, sollen übrigens wieder in den See zurückgesetzt werden.

Ob es den Felchen im Bodensee künftig besser gehen wird, muss sich zeigen. Zuletzt hatte das Hochwasser ungewöhnlich viele Nährstoffe in den See gespült. Seitdem sind die zuvor abgemagerten Felchen wieder kugelrund. Sie dürfen allerdings nicht gefangen werden, denn seit dem 1. Januar 2024 gilt für die Bodenseefischer ein striktes Fangverbot für Felchen.

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