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Winfried Kretschmann

Der philosophierende Provinzpolitiker

Winfried Kretschmann: Der philosophierende Provinzpolitiker
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Anfangs herrschte abseits der CDU große Euphorie, dass ein Grüner in Baden-Württemberg Ministerpräsident werden konnte. Die Begeisterung hat sich mittlerweile gelegt, beliebt ist Winfried Kretschmann immer noch. Nun wird er 75.

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Als dieser Grüne an die Macht kam vor zwölf Jahren, rief der CSU-Kollege Horst Seehofer baden-württembergische Unternehmer öffentlich auf, alsbald ihre Firmen nach Bayern und damit in Sicherheit zu bringen vor dem Regime des Ex-Maoisten. Daheim war Winfried Kretschmann so manchen wiederum zu rechts, zu bürgerlich, zu fromm sogar. Aus vielen finsteren Prognosen wurde nichts: Baden-Württemberg steht noch, ziemlich solide sogar. Und einer der anerkanntesten Politiker der ganzen Republik feiert seinen Fünfundsiebzigsten noch immer als Hausherr in der Villa Reitzenstein, dem Regierungssitz.

Wann das enden soll, steht in den Sternen, auch wenn sich der Jubilar gerade wieder und immer öfter mit dem heißen Nachfolge-Favoriten Cem Özdemir zeigt. Aber erst 2026 ist wieder Landtagswahl im Südwesten, und im Extremfall hält der leidenschaftliche Wanderer ("Schon die Griechen haben dabei philosophiert") die ganze Strecke bis dahin durch. Weniger, weil er machtverliebt am Sessel klebt, wie seine Verächter:innen meinen. Sondern eher, weil Pflichtgefühl und Selbsteinschätzung ihm zuflüstern, in Zeiten wie diesen fahre das Land immer noch am besten mit ihm. Zudem hat er der Wählerschaft zigfach beteuert, er werde die volle Amtszeit absolvieren. Er müsste also einen kapitalen Schwenk vollziehen, was dem Anhänger eines "humanistischen Pragmatismus" (Kretschmann) manchmal selbst bei gewichtigen Themen durchaus nicht schwerfällt.

Beispielsweise hätte er seine Popularität nutzen können respektive sollen, um irgendwann, als die Kosten für Stuttgart 21 immer weiter kletterten, zur ursprünglichen Ablehnung zurückzukehren und doch die Bremse reinzuhauen. Nicht trotz, sondern wegen des Volksentscheids und der vielen falschen Fakten, die die Bahn und andere Unterstützer:innen dem Souverän Volk serviert hatten. Vielleicht wird sich der einstige Ethik-Lehrer irgendwann als Emeritus öffnen und das Rätsel lösen, warum ihm dazu der Mut fehlte. Oder jenes, warum er sich nicht aufraffen konnte, einen Entschädigungsfond für Opfer des Radikalenerlasses aufzulegen.

Deutlich leichter zu beantworten ist die Frage nach den Gründen seiner Popularität. Sein Eigensinn zählt dazu, ebenso diese oft eindrucksvolle Beredsamkeit mitsamt dem ungenierten Schwäbisch. So etwas kommt an. Wo andere Politiker:innen Misstrauen säen mit endlosen Leerformeln und anderen Symptomen von Erstarrung, lädt Kretschmann zum Zutrauen ein mit Bekenntnissen wie "Ich bin ein Provinzpolitiker durch und durch". Koketterie kann er also auch. Und Zurückhaltung. Viele seiner Zunft würden hausieren gehen mit so stupenden Opernkenntnissen und dem so gar nicht zum eher konventionellen Habitus passenden Hang zum modernen Regietheater. Kretschmann genießt und schweigt und gibt nicht einmal an mit seinem bisher größten Erfolg: Ihm ist zu verdanken, dass die Suche nach einem Endlager für den Atommüll bundesweit völlig neu gestartet wurde.

Die Titel "Selbstdarsteller" oder gar "Erfolgsmensch" gehen an Winfried Kretschmann also vorbei – dafür ist er zu skrupulös, zu sensibel, zu reflektiert, trotz seiner Widersprüchlich- und Einäugigkeiten sowie sonstiger Schwächen, die sich zunehmend im Alltag des Politikbetriebs bemerkbar machen. Er würde wohl auch keinen Wert darauf legen, sie verliehen zu bekommen. Ein typischer Kretschmann geht vielmehr so: "Als Christ sage ich: Erfolg ist Gabe und Geschenk. Ich habe es letztlich nicht in der Hand, genauso wenig wie das Scheitern." Ex-Kollege Seehofer könnte es wahrscheinlich längst nicht so schön sagen. Mit dem kam er übrigens dann doch ganz gut klar beim gemeinsamen Regieren in der Südschiene, und mit dem Nachfolger Markus Söder ebenso.


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6 Kommentare verfügbar

  • Frieder Kohler
    am 23.05.2023
    Antworten
    "Don Quijote oder wie ich aufhörte gegen Windmühlen zu kämpfen", der Griff zum Buch machte mir heute früh die Nachrichten im SWR3-Land erträglicher:
    1. "Der Wind im Land hat sich gedreht", so der Herr MP , der auch einen Windpark besichtigen kann! Ich muss daran erinnern, dass selbst Ärzte einen…
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