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Radikalenerlass

"Wir geben erst auf, wenn wir in die Kiste gehen"

Radikalenerlass: "Wir geben erst auf, wenn wir in die Kiste gehen"
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Winfried Kretschmann hat Betroffene des Radikalenerlasses zu einem Gespräch empfangen. Sie fordern vom Land: eine Entschuldigung, Rehabilitierung und Einrichtung eines Fonds zur Entschädigung. Anfangs lächeln sie noch.

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Es ist eisig kalt, aber die Sonne scheint. Und sorgt mit dafür, dass die Stimmung heiter ist. Zumindest ein bisschen. Rund 20 Menschen stehen vor der Pforte der Villa Reitzenstein, wo das baden-württembergische Staatsministerium seinen Sitz hat und der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Die vor dem Tor Stehenden sind grob in seinem Alter, alle zwischen 70 und 80 Jahre alt, die meisten tragen große Pappschilder um den Hals: "Sigrid Altherr-König. Lehrerin. Berufsverbot von 1983 bis 1996. 13 Jahre als Verfassungsfeind abgestempelt." Oder: "Klaus Mausner. Beruf: Kunsterzieher. 1972: Ausbildungsverbot (in Baden-Württemberg nicht zur Referendar-Ausbildung zugelassen wg. DKP-Mitgliedschaft)."

Alle hier eint, dass der Staat sie einst als Verfassungsfeinde betrachtete, als potenziell gefährliche Radikale, und dass er sie deswegen mit Hilfe des 1972 beschlossenen "Radikalenerlasses" vom Staatsdienst fernhielt. Mal vorübergehend, wie Altherr-König. Mal ein Leben lang, wie Mausner oder den Lehrer Andreas Salomon. Salomon, geboren 1949, ist aus dem bayerischen Rosenheim angereist, hat aber in Freiburg studiert und in Rastatt sein Referendariat gemacht. Nachdem er in Baden-Württemberg auch aus einer nicht-staatlichen Schule geflogen war, als dort sein Berufsverbot für öffentliche Stellen bekannt wurde, ging er nach Bayern, "ins Exil", wie er sagt, fand eine Stelle an einer Privatschule, lebte aber ständig in der Angst, seine Geschichte würde auch dort bekannt und zum Jobverlust führen. Warum sah ihn der Staat als Gefahr? Weil er in der Hochschulgruppe des "Kommunistischen Bundes Westdeutschlands" (KBW) aktiv war.

Betroffene in prekären finanziellen Verhältnissen

Die Gruppe steht vor der Villa Reitzenstein, weil sie eingeladen wurde vom Ministerpräsidenten – der in seiner Studienzeit ebenfalls Mitglied im KBW war. Mehrere Monate, nachdem eine vom Land in Auftrag gegebene Studie zum Radikalenerlass (Kontext berichtete) fertig geworden ist, hat Kretschmann am 19. Januar einen offenen Brief an die Betroffenen veröffentlicht und diesen zugleich ein Gespräch angeboten. Der Brief ist zwar inhaltlich enttäuschend (Kontext berichtete), unter anderem, weil Kretschmann nur sein "Bedauern" äußert und kein Wort über eine Entschuldigung oder gar Entschädigung verliert. Die Einladung hat aber doch leise Hoffnung, geweckt, dass sich im direkten Gespräch vielleicht etwas ergeben, ein Prozess in Gang gebracht werden könnte. Und wenn es nur ein Mini-Schritt ist.

"Einerseits sehen wir, dass er Bedauern geäußert hat. Andererseits erwarten wir Rehabilitation, vollumfänglich", sagt Sigrid Altherr-König. "Denn wir haben eine legale politische Tätigkeit ausgeübt. Und wir erwarten eine Entschädigung, denn viele von uns leben im Alter in prekären finanziellen Verhältnissen." Ein Fonds solle dafür eingerichtet werden, fordern die Betroffenen.

500.000 bis 600.000 Euro habe ihn bislang das Berufsverbot gekostet, hat Salomon überschlagen, weil er als Angestellter deutlich weniger verdiente als ein Beamter. Aber die will er gar nicht ausgeglichen haben, "mir würde es reichen, wenn mir der Unterschied zwischen meiner Rente und der Pension, die ich hätte bekommen müssen, bezahlt würde", betont er. 1.500 Euro monatlich sei die Differenz.

Brezeln, Brötchen und "The Länd" am Arm

Von 15 bis 16 Uhr ist das Gespräch mit dem Ministerpräsidenten anberaumt, gegen 14:45 Uhr werden Betroffene und Pressevertreter:inne allmählich herein gebeten. Die Pappen und Transparente bleiben vor dem Tor. Stattdessen bekommen alle ein Besucherschildchen zum Umhängen, auf dessen gelben Bändchen steht "The Länd", der Claim der jüngsten Imagekampagne des Landes. "Wenn wir nur einen Teil des Geldes für die Kampagne für einen Entschädigungsfonds hätten", sagt eine Betroffene. 21 Millionen Euro hat "The Länd" gekostet. Zwei Millionen Euro in einem Entschädigungsfond wären schon eine große Hilfe, hat die Initiative gegen Berufsverbote ausgerechnet.

Die Karawane zieht nun die Treppen hoch in die Villa, wird von Hauspersonal freundlich empfangen und in den prächtigen Gobelin-Saal geleitet. Tische und Bestuhlung in Carréform, man sitzt sich gegenüber, Brezeln, Brötchen und Getränke stehen da. Dann kommt Kretschmann, geht reihum, gibt jeder und jedem die Hand, manchmal werden ein paar Takte gesprochen, viel gelächelt. Eine kurze Begrüßung vom Ministerpräsidenten, dann müssen die Pressevertreter:innen raus.

Eine Stunde Gespräch ist anberaumt, am Ende sind es fast eineinhalb. Als die Tür aufgeht und die Betroffenen herauskommen, lächelt keiner mehr.

Andreas Salomon, der aus Bayern Angereiste, ist der erste, der etwas in die Kameras und Mikros sagt: "Wir sind alle schwer enttäuscht von dem, was gerade abgelaufen ist." Kretschmann sei von dem, was er in seinem offenen Brief geschrieben habe, um keinen Millimeter abgerückt. "Und er war nicht bereit, auf unsere Forderung nach einer Entschuldigung, einer Rehabilitierung und nach der Einrichtung eines Fonds einzugehen". Salomon hat einen dicken Hals, mehrere Minuten redet er ohne Pause. "Der Ministerpräsident hat gerade gesagt, der Radikalenerlass sei ein Fehler gewesen, aber nicht ein Fehler von ihm. Und wir haben gesagt: Wenn Sie das als Fehler betrachten, dann ist doch notwendig, dass dieser Fehler korrigiert wird. Wir sind alle in einem Alter, in dem wir nicht mehr warten können." Die Betroffenen wären mit der symbolischen Einrichtung eines Fonds zufrieden gewesen, sagt Salomon, "wenn da wenigstens eine Bewegung hineingekommen wäre." Kretschmann hätte die Möglichkeit gehabt, "vor den anderen Ministerpräsidenten Deutschlands deutlich zu machen: Ich als grüner Ministerpräsident bin fortschrittlicher als die anderen. Ich setze mich ein, dass dieses Unrecht wieder zurückgenommen wird, und dass diesen Leute zu ihrem Recht verholfen wird."

Kretschmann: Rechtsstaat verhindert Entschädigung

Auch Kretschmann wirkt leicht zerknirscht, als er kurz darauf für eine Fragerunde vor die Presse tritt. Ja, all diesen Menschen sei wegen pauschaler Verdächtigungen "Ungerechtigkeit", sei "Leid" widerfahren – das Wort "Unrecht" vermeidet er. "Umgekehrt kann man nach so langer Zeit nicht pauschal entschädigen", das sei im Rechtsstaat "nicht möglich", sagt er einmal, das sei "sehr, sehr schwierig", ein andermal, und das könnte "ja wieder Ungerechtigkeiten nach sich ziehen". Zumal man "keine vollständigen Akten mehr" zu den Fällen habe.

Den Rechtsstaat, an den er als Ministerpräsident gebunden sei, bemüht Kretschmann immer wieder. "Im Rechtsstaat muss man wieder jeden Einzelfall prüfen", sagt er, dafür gebe es Gerichte, vor denen man sich sein Recht erstreiten kann. Er räumt ein "Dilemma" ein: "Im Rechtsstaat wird nur Recht gesprochen, da wird nicht Gerechtigkeit gesprochen." Ein Satz, der an Kretschmanns auf Stuttgart 21 bezogene Aussage erinnert, in einer Demokratie entscheide nicht die Wahrheit, sondern die Mehrheit.

Derweil stehen die Betroffenen noch im Foyer der Villa, machen ihrer Enttäuschung Luft. "Er hat das abgehockt", heißt es, "er hat gesagt, dass wir Pech gehabt haben." Oder: "Was sind für den 680 Euro im Monat? Der lebt hier in Saus und Braus."

Lothar Letsche, Betroffener und Aktivist, sagt, er habe persönlich nichts anderes erwartet, "aber es ist trotzdem frustrierend". Immer und immer wieder habe Kretschmann gesagt: "Es gibt kein Recht auf Entschädigungen."

Vor Gericht zu gehen nennt Andreas Salomon eine Möglichkeit. Viele der Betroffenen haben das in der Vergangenheit bereits erfolglos versucht, "einzelne von uns werden Revision einlegen", sagt er. Zum Schluss gibt er sich kämpferisch: "Wir werden nicht aufgeben. Aufgeben werden wir dann, wenn wir in die Kiste gehen. Aber solange wir noch auf unseren Füßen stehen, werden wir für unser Recht weiterkämpfen."


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4 Kommentare verfügbar

  • Bodo Sinn
    am 15.02.2023
    Antworten
    Nicht zu vergessen, viele sind damals nach dem Studium gleich in ein anderes Bundesland, weil wegen der Regelanfrage eh Chancenlos im Bereich öffentliche Hand, auch in der Forschung. Ein "Brain-Drain". Wie habt ihr es hier mit dem Wirtschaftsstandort BA-WÜ, liebe CDU??
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