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Radikalenerlass

Lauter Irrtümer

Radikalenerlass: Lauter Irrtümer
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Demnächst hat der Radikalenerlass wieder Jahrestag. Fast fünf Jahrzehnte ist er alt, doch seine Aufarbeitung steckt immer noch in Kinderschuhen, von Entschädigungen ganz zu schweigen. Auch wenn manche hoffen, dass sich das bald ändert.

Winfried Kretschmann und Heribert Prantl haben einiges gemeinsam. Sowohl der baden-württembergische Ministerpräsident als auch der meinungsstarke Münchner Journalist sind gläubige Katholiken. Kretschmann ist dabei quasi konvertiert, "von einem K zum andern", wie Kontext-Autor Gerd Manthey einmal schrieb, vom maoistischen Kommunisten zum Katholiken. Bei Prantl ist eine derart radikale Konversion zwar nicht bekannt, doch die Bibelfestigkeit des Ex-Chefredaktionsmitglieds der "Süddeutschen Zeitung" zeigt sich schon daran, dass er seine meist engagiert linksliberalen Kommentare gerne mit Gleichnissen aus der heiligen Schrift einleitet.

Gemein ist beiden auch, dass sie der grünen Partei nicht ganz fern stehen. Bei Kretschmann liegt das nicht zuletzt daran, dass er Mitglied ist, mag die Grüne Jugend in puncto "nicht ganz fern stehen" bisweilen auch anderer Meinung sein.

Prantl wiederum zeigt seine Sympathie immer wieder in SZ-Kommentaren. Jüngst in einem zum "Radikalenerlass", dessen Inkrafttreten sich am 18. Februar 2022 zum 50. Mal jährt, weswegen Prantl vehement dafür plädiert, ihn endgültig aufzuheben, denn er sei "eines der folgenreichsten Desaster der alten Bundesrepublik". In der Bewertung sieht sich Prantl offenbar in Einklang mit der grünen Partei, denn der Erlass gehöre "zur Gründungsgeschichte der Grünen, der Kampf gegen die Berufsverbote zur grünen Ur-Identität."

Auf Lebenszeit ausgegrenzt

Ein folgenreiches Desaster war der Radikalenerlass, von der Regierung des SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt auf den Weg gebracht, auf jeden Fall. In Terror-Paranoia vor der RAF, in der Furcht, Linksextremisten könnten den Staat "unterwandern", wurden dreieinhalb Millionen Menschen vom Verfassungsschutz überprüft, Akten über sie angelegt. Die staatliche Gesinnungsschnüffelei führte zu 11.000 Berufsverbotsverfahren, mehr als 1250 Bewerber für den öffentlichen Dienst – von der Post über die Schule bis zur Bibliothek – wurden auf Lebenszeit ausgegrenzt.

Sie mussten sich mit anderen Jobs durchschlagen, leben heute teils in prekären Verhältnissen oder zumindest mit einer deutlich geringeren Rente, als sie in dem Beruf, für den sie ausgebildet wurden, eigentlich hätten haben können. Kontext hat immer wieder über sie berichtet. Es sind Menschen wie Irene Jung, die am Ende immerhin noch zwölf Jahre an einer staatlichen Schule unterrichten durfte, oder der Tübinger Altkommunist und Uni-Gärtnermeister Gerhard Bialas, der sechs Jahrzehnte durch den Verfassungsschutz beobachtet wurde und seit 2013 immerhin weiß, bei welchen Gelegenheiten. Oder Klaus Lipps, Sprecher der Initiativgruppe 40 Jahre Radikalenerlass, die sich für eine Entschuldigung der Politik und eine finanzielle Entschädigung der Berufsverbots-Opfer einsetzen.

Diese Ziele könnten – so vermutet Prantl – näher rücken, "wenn es auf Bundesebene zu einer schwarz-grünen Koalition kommt". Doch solche Hoffnungen dämpft der Blick auf Baden-Württemberg eher, wo die Grünen seit bald zehn Jahren, erst mit Rot, dann mit Schwarz, regieren, und längst "Teil des politischen Establishments" geworden sind, wie der aktuelle "Spiegel" schreibt. Dabei lagen nach ihrem Wahlsieg 2011 große Erwartungen auf ihnen. Dass Kretschmann selbst in den 1970ern als Referendar von der Gesinnungsschnüffelei betroffen war und wegen des Radikalenerlasses zeitweise nicht an staatlichen Schulen unterrichten durfte, der Verfassungsschutz eine Akte über ihn angelegt hatte, müsste eine Aufarbeitungsinitiative doch quasi zur Chefsache machen, so die Hoffnung vieler vom Berufsverbot Betroffener.

Sie wurde, vorsichtig ausgedrückt, enttäuscht. Statt scharfer Worte gegen den Erlass vernahm man von Kretschmann eher reuige Worte zu seiner einstigen politischen Orientierung. Willy Brandt bekundete schon 1976, da war er nicht mehr Bundeskanzler: "Ich habe mich geirrt." Er meinte den Radikalenerlass. Kretschmann dagegen betrachtete seine KBW-Mitgliedschaft als "einen der größten Irrtümer" seines Lebens. Und fast konnte man den Eindruck gewinnen, dies legitimiere für ihn die staatliche Bespitzelung. Lauter Irrtümer.

Nun ist es nicht so, dass sich gar nichts tut. Von Entschuldigung oder gar Entschädigung, wie sie Lipps Initiative fordert, ist zwar keine Rede. Wo kämen wir da hin? Aber immerhin wird der Radikalenerlass seit Ende 2018 von einer Forschungsstelle an der Uni Heidelberg wissenschaftlich aufgearbeitet. "Verfassungsfeinde im Land? Baden-Württemberg, ’68 und der 'Radikalenerlass' (1968-2018)" heißt das Forschungsprojekt, das zunächst auf drei Jahre befristet ist. "Die Effekte des Kampfs gegen politischen Extremismus", so ist auf der Projekt-Homepage zu lesen, sollen "historisch kontextualisiert und für eine Zeitspanne bis in die jüngste Gegenwart hinein wissenschaftlich aufgearbeitet und nachvollzogen werden."

Die Zeit läuft davon

Selbst dafür brauchte es ziemlich lange. Zwar bekundete Kretschmann schon Ende 2014, der Radikalenerlass müsse wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Doch es waren eher seine Ministerin Theresia Bauer und Grünen-Innenexperte Uli Sckerl, die das Projekt vorantrieben, bis sich im März 2015 die grüne Landtagsfraktion dahinter stellte. Über dreieinhalb Jahre später, es kam noch eine Wahl dazwischen und ein neuer Regierungspartner, ging das Projekt dann endlich im Dezember 2018 an den Start. Dass es so lange gedauert habe, kritisierte damals der Mannheimer SPD-Landtagsabgeordnete Boris Weirauch: "Das ist bitter, da den betroffenen Bürgern die Zeit davonläuft."

Als die SPD noch mit an der Regierung war, fiel sie indes auch nicht dadurch auf, dass sie energisch eintrat für Aufarbeitung oder gar Entschädigungen. Gegenüber Kontext bedauerte Uli Sckerl 2017, dass sich die grün-rote Koalition nicht zu einer Stellungnahme durchringen konnte.

Das Forschungsprojekt wird am Ende den Wissensstand über die vom Radikalenerlass Betroffenen erheblich erweitern, das ist zu erwarten. Doch Forschungsergebnisse können allenfalls Anregungen, Anstöße geben für politisches Handeln, selber entfalten können sie das nicht. Da wird dann der Landtag gefragt sein, oder, wenn Prantls Hoffnungen in Erfüllungen gehen, vielleicht auch der Bundestag.

Er wolle sich weiterhin für eine Entschädigung einsetzen, sagte 2017 Uli Sckerl gegenüber Kontext, immerhin. Ihm sei damit mehr Glück gewünscht als bei seinen Versuchen, Polizeigesetz-Verschärfungen von Innenminister Thomas Strobl (CDU) abzuwehren. Auf Unterstützung vom grünen Ministerpräsidenten – falls der nach der Landtagswahl noch in der Villa Reitzenstein residiert – sollte er sich dabei wohl nicht verlassen.


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2 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 21.02.2021
    Antworten
    Irrtümer? Es war Vorsatz, um Andersdenkende auszugrenzen, ist doch die Furcht übermäßig groß, dass Kinder, Jugendliche und Heranwachsende Fragen stellen könnten, selbstbewusst und eigenständig, nach den Verantwortlichen in den zurückliegenden Jahrzehnten:
    Der "Radikalenerlass" in Baden-Württemberg…
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