Wissenschaftliche Literatur ist keine Belletristik, keine Frage. Während passionierte Leseratten den neuen 880-seitigen Stephen King vermutlich in ein paar Tagen (und Nächten) verschlingen, bedarf es bei einer 680-seitigen Studie einer etwas längeren Lesezeit. Und sollen aus ihr auch noch Leitlinien für politisches Handeln folgen, dauert es noch einmal länger.
Fünf Monate sind es bislang bei einer Studie, die das Land Baden-Württemberg, genauer, das Staatsministerium momentan auswertet. Wobei die betreffende Studie nicht ganz unerwartet kam: Es war das Wissenschaftsministerium des Landes, das 2018 ein Forschungsprojekt der Uni Heidelberg beauftragt und mit 325.000 Euro gefördert hatte, das die Folgen des Radikalenerlasses von 1972 untersuchen sollte, den Umgang mit vermeintlichen "Verfassungsfeinden" und daraus folgenden Berufsverboten, die in den 1970er und 1980er Jahren fast ausschließlich Linke trafen. Darunter auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Besonders radikal gegen vermeintliche Radikale wurde die Regelanfrage beim Verfassungsschutz im deutschen Südwesten angewandt: Vom "Schiess-Erlass" war hier die Rede, nach dem damaligen baden-württembergischen Innenminister Karl Schiess (CDU).
Seit Jahrzehnten kämpfen die Betroffenen des Erlasses um eine Entschuldigung und Rehabilitierung von Seiten der Politik. Auf Kretschmann hatten, wegen seiner eigenen Betroffenheit, bei seinem Amtsantritt 2011 zwar manche Erwartungen gelegen, doch die enttäuschte er schnell. (Kontext berichtete). Im Januar dieses Jahres weckte der Ministerpräsident, von SWR-Filmemacher und Kontext-Autor Hermann G. Abmayr nach Möglichkeiten einer Rehabilitierung gefragt, jedoch wieder vage Hoffnungen: "Wir warten jetzt einfach mal diese wissenschaftliche Studie ab. Und wenn uns die vorliegt, dann können wir uns mit der Frage auch noch einmal befassen."
"Jetzt müssen sie sich halt nochmal gedulden"
Seit Ende Mai liegt die Studie "Verfassungsfeinde im Land?" nun vor, doch von der Landesregierung gibt es bislang keine Stellungnahme. Gefragt wurde Kretschmann immer wieder, Anfang Juli unter anderem auch von Kontext. Was ihn offenbar sehr nervte. Jedenfalls antwortete der MP auf eine entsprechende Frage bei der Regierungspressekonferenz am 5. Juli folgendermaßen: "Ich habe im Moment sehr, sehr große Probleme und sehr wichtig Aufgaben, meine Zeit ist begrenzt und die der Ressorts auch. Und wir müssen uns jetzt um die drängenden Fragen kümmern. Das tun wir, und andere Fragen müssen da hinten anstehen. Ich bitte um Verständnis, nur weil irgendein Bericht zu einem Thema vorliegt, das seit zehn Jahren ausgewälzt wird, muss ich nicht ausgerechnet in dieser Situation wichtige Fragen liegen lassen und mich diesem Thema widmen. Das ist einfach nicht angesagt. Da müssen sich einfach alle gedulden. Die hatten schon lange Geduld, und jetzt müssen sie sich halt noch mal gedulden. Wir widmen uns anderen Fragen vorrangig. Das sind Dinge, die uns auf den Nägeln brennen. Die Studie liegt vor, wir müssen sie auswerten, die ist ja ziemlich dick, und dann werden wir entscheiden, wie wir mit dem Thema umgehen und was wir machen."
"Irgendein Bericht" für eine vom Land beauftragte Studie? "Sich einfach noch mal gedulden" an Betroffene gerichtet, die seit Jahrzehnten warten, die mindestens in ihren 70ern, oft über 80 Jahre alt sind? Eine "an Ignoranz kaum zu überbietende(n) Stellungnahme" nennen dies denn auch die Aktiven der Initiativgruppe Baden-Württemberg gegen Berufsverbote und Radikalenerlass, die für den heutigen Mittwoch, den 26. Oktober, zu einer Kundgebung in Stuttgart aufrufen.
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Peter Meincke
am 30.10.2022